Goeters-Preis 2005

Am 7. März 2005 wurde zum dritten Mal der J.F.G.Goeters-Preis verliehen, der an den verstorbenen Bonner Kirchengeschichtlicher erinnert.

Ausgezeichnet wurde mit dem mit 1500,- € dotierten Preis der Züricher Kirchenhistoriker Dr. Peter Opitz für seine 2004 angenommene Habilitationsschrift:

Heinrich Bullinger als Theologe. Eine Studie zu den Dekaden, Zürich 2004 .

 

Im folgenden veröffentlichen wir die Dankesrede von Dr. Opitz:

Sehr geehrter Herr Dr. Lange von Ravenswaay,

sehr geehrte Damen und Herren des Vorstands der Gesellschaft für die Geschichte des reformierten Protestantismus,

sehr verehrte Anwesende,

liebe Freunde und Kolleginnen,

selbstverständlich ist es mir eine große Ehre und Freude, den diesjährigen Gerhard Goeters-Preis entgegennehmen zu dürfen!

Die damit gewürdigte Arbeit ist eine Studie, die sich mit der Theologie Heinrich Bullingers in ihrem Kontext beschäftigt.

Heinrich Bullinger? Müsste man den kennen? In welchem Semester ist der? So und ähnlich kann es klingen, wenn Schweizer Studierende seinen Namen hören. Im Anschluss an ein Referat über Bullingers Abendmahlsverständnis vor einem Pfarrkonvent bestand eine Reaktion in der Feststellung: Was das Abendmahlsverständnis angeht, haben wir nichts Neues gehört. So denken wir auch. Was wir allerdings nicht gewusst haben, ist, dass dies von Heinrich Bullinger stammt!

Die Beispiele dürfen durchaus als symptomatisch für Bullingers Präsenz im gegenwärtigen reformierten Protestantismus gelten.

Dies hat natürlich mit bestimmten Weichenstellungen der langfristigen Wirkungsgeschichte zu tun. Das häufig zu konstatierende Schweigen der kirchengeschichtlichen Überblickswerke ist sprechend, und es hat das durchschnittliche Bewusstsein ganzer Generationen von Theologinnen und Theologen geprägt. Und gleichzeitig scheint es so etwas wie eine anonyme Wirkungsgeschichte Bullingers zu geben, wofür sich eine Reihe von Indizien angeben ließen.

Wie schon oft betont worden ist, ist der reformierte Protestantismus historisch gesehen mit dem Consensus Tigurinus entstanden. An seiner Wiege steht somit nicht eine Gründerpersönlichkeit, sondern ein Konsens. Zu einem Konsens braucht es mindestens zwei. Und zu einem Initialkonsens für den reformierten Protestantismus brauchte es zwei seiner Schlüsselfiguren. Als eine solche ist Bullinger anzusehen. Und dies keineswegs nur aufgrund äußerlicher Umstände und Tatsachen, etwa derjenigen, dass er seine ersten reformatorischen Schriften bereits zu einer Zeit verfasst hat, als der vierzehnjährige Calvin am Collège de la Marche in Paris gerade durch Cordier in die Grundlagen der philologischen Textinterpretation eingeführt wurde, oder derjenigen, dass er den Genfer Reformator zur Unterschrift des Consensus Tigurinus bei sich in Zürich freundlich, ja herzlich empfangen hat.

Wenn der reformierte Protestantismus mit einem Konsens begonnen hat, bedeutet dies auch, dass ihm Pluralität und potenzieller immanenter Dissens von Anfang an eigentümlich war. Nach historischen Belegen braucht man da nicht lange zu suchen. Gerade das machte seine Schwäche, aber auch seine Kraft und Stärke aus, und tut es noch immer. Die Forschung hat seit einiger Zeit schon begonnen, diese Pluralität, den Austausch zwischen verschiedenen Gestalten und Persönlichkeiten und deren Verankerung in ihren jeweiligen Gesprächskontexten vermehrt wahrzunehmen und herauszustellen; außerhalb der Fachkreise scheint mir allerdings das Bewusstsein dafür noch entwicklungsbedürftig zu sein. Der Gedanke von bestimmten Schlüsselfiguren wird damit nicht hinfällig, wohl aber die Vorstellung von einzelnen einsamen, theologische Gedanken kreierenden und Geschichte machenden Heroen, die keine Freunde und anregend-kritische Gesprächspartner, sondern nur entweder Anhänger oder Feinde besaßen.

Heinrich Bullinger gehörte zu denen, die sich den Konsens-Gedanken, den Gedanken, dass kirchliches Handeln und theologische Argumentation sich im Rahmen einer Gemeinschaft vollziehen und auf Konsens, auf Gemeinschaft zielen müssen, auf die Fahne geschrieben hatten, und dies nicht nur kirchenpolitisch, sondern auch und zuerst theologisch. All dies mitten in einer Zeit, welche als Zeitalter der Glaubensspaltung in die Geschichtsbücher eingegangen ist.

Der Buchtitel der Arbeit, die ich an dieser Stelle kurz vorzustellen habe, lautet: „Heinrich Bullinger als Theologe“. Er zeigt an, dass hier versucht wurde, Bullingers Theologie in ihrem Zusammenhang zu erschließen, ein Unternehmen, das bisher nur sehr wenige, im Blick auf Bullingers theologisches Hauptwerk, die Dekaden, im Grunde überhaupt keine Vorläufer hat.

Eingereicht wurde die Arbeit ursprünglich allerdings unter dem Titel: „Gemeinschaft mit Gott als Heiligung des Lebens“. Damit sollte formelhaft zum Ausdruck gebracht werden, worum es Bullinger in seinem theologischen Denken und Lehren ging. Vom Begriff der „Gemeinschaft“ her, im Kern zu verstehen als „pneumatische Christusgemeinschaft“, lässt sich eine Gesamtperspektive seiner Theologie erkennen, in welcher nicht nur seine reformatorische christologische Konzentration, die hohe, aber nicht unbegrenzte Bedeutung des Bundesbegriffs oder das große Gewicht des Heiligungsgedankens ihre Kohärenz erhalten, sondern auch zahlreiche andere theologisch profilierte Einsichten – und dies im Kontext von Bullingers kirchlichem Handeln.

Anstatt dies hier weiter zu entfalten, erlaube ich mir drei kurze Bemerkungen zu häufig geäußerten Anschauungen über Bullingers Theologie:

Immer wieder wurde bislang in der Forschung betont, dass Bullinger eher ein „praktischer“ Theologe gewesen sei, mit dem unverkennbaren Unterton, dass ihm dafür Attribute wie theologische Reflexionskraft oder theologische Eigenständigkeit nicht unbedingt zukämen.

Es ist in der Tat so: Bullinger wollte nicht als origineller Kopf in die Geschichte eingehen. Und wenn es heute zum guten Ton gehört, ein „kreativer“ Theologe bzw. eine „kreative“ Theologin zu sein, Bullinger hätte dies mit Sicherheit als Kritik empfunden. Er wollte dem Wunder nachdenken, dass Gott aus seinem innersten Wesen heraus mit den Menschen Gemeinschaft sucht, und dass er damit zugleich zwischenmenschliche, soziale Gemeinschaft intendiert und immer wieder auch realisiert. Gerade in der Weise und Konsequenz, wie Bullinger dies tut, besteht sein theologisches Profil. Wie kaum eine andere reformatorische Theologie ist diejenige Bullingers zutiefst vom Motiv der Versöhnung durchdrungen. Versöhnung aber heißt: Wiederherstellung der Gemeinschaft. Bullingers in der Tat starkes irenisches und auch seelsorgerliches Wirken, sein gelegentlich konstatierter „milder“ Charakter, und sein wenig kantiges theologisches Auftreten sind von da her theologisch wohl bedacht und wohl begründet.

Dass Bullinger an der Schwelle zur Orthodoxe stehe, ist ein Zweites, das öfter behauptet wird. Hier denkt man vor allem an die Tatsache, dass er seine theologisch-katechetischen Schriften, auch die Dekaden – seltsamerweise als einziger der „großen“ Reformatoren des 16. Jahrhunderts, dafür nicht zufällig gefolgt von Karl Barth! – mit einer Lehre vom Wort Gottes beginnen lässt, und diese Lehre fließend in eine Lehre von den biblischen Schriften übergeht. Bei genauerem Hinsehen wird allerdings deutlich, dass Bullinger keineswegs ein formales Schriftprinzip voraussetzt oder gar verteidigt, um erst nachträglich daraus theologische Inhalte zu entnehmen. Vielmehr macht Bullinger von Anfang an deutlich, dass dieses göttliche Wort inhaltlich qualifiziert ist als das Christusevangelium, verstanden allerdings als göttliches Anredewort, das uns nicht ohne geschichtliche Vermittlung, sondern durch die Geschichte seiner biblischen Bezeugung, also durch Tradition, entgegentritt. Bullinger entdeckt den biblischen Kanon – selbstverständlich im Rahmen des Zeitverständnisses seiner Zeit – als Traditionsgeschichte. Damit erhält das Alte Testament, bzw. die Kontinuität zwischen der hebräischen und der griechischen Bibel ein großes Gewicht. Die Bibel wird so heilsgeschichtlich gedeutet. Und dies im vollen, gewichtigen Sinn des Wortes: Ihre Botschaft ist ein durch und durch, und von Anfang an, erfreuliches, heilsames und heilbringendes Wort, das sich selber seinen Weg durch die Geschichte bahnt. Denn sie ist – die Begründung ist sachlich-theologisch – Zeugnis von dem einen, einheitlichen Handeln und Reden Gottes zum Heil der Menschen. Der eine Gnadenbund, der schon den Ureltern der Menschheit verheißen worden und den biblischen Vätern bestätigt worden ist, besitzt in Christus seinen Grund und Zielpunkt.

Damit sind wir bereits beim dritten Punkt, dem Gedanken, mit welchem Bullingers Name wohl am ehesten assoziiert wird: die Bundestheologie. In der Tat kommt der Bundesgedanke bei ihm immer wieder vor, und dies an zentraler Stelle. Dass Bullinger aber das Bild des Vertrags zur Grundmetapher der menschlichen Gottesrelation gemacht hätte, wie in der Forschung lange Zeit behauptet, ist schlicht falsch. Der Bundesbegriff dient ihm dazu, einen bestimmten Aspekt der Beziehung Gottes zu den Menschen zu illustrieren. Diese Beziehung kann in anderer, im Grunde substanziellerer Hinsicht auch als Versöhnung, als Heiligung, oder eben umfassend als Wiederherstellung der Gemeinschaft ausgesagt werden.

Der Gedanke des einen Bundes, den Bullinger, ein Jahrzehnt vor Calvin und deutlich stärker noch als dieser, herausstellt, hat ihm – ebenso wie Calvin – immer wieder die Kritik eingebracht, die Geschichtlichkeit der Offenbarung nicht genügend ernst zu nehmen. Gesteht man auch Bullinger das Recht zu, in bonam partem interpretiert zu werden, scheint mir eine solche Kritik allerdings durchaus ihrerseits der kritischen Rückfrage bedürftig.

Als historische Kritik ist der Vorwurf schwer zu halten. Denn gerade Bullinger hat als – was die „Philologie“ anbelangt – lebenslanger Schüler des Erasmus, aber auch der Alttestamentler Pellikan und Bibliander, die humanistischen Einsichten in einer Weise in seine reformatorische Theologie integriert, die es ihm erlaubt hat, wie erwähnt auch die biblischen Schriften selbst als Traditionsgeschichte zu lesen. Ganz abgesehen davon, dass er zu den wichtigsten Historikern des 16. Jahrhunderts zu zählen ist. Ist mit der Kritik ein systematisches Urteil über Bullingers Theologie gefällt, müsste eine Replik – ebenso wie eine wirkliche Begründung eines solchen Vorwurfs – etwas kompliziertere Wege gehen, denn zweifellos muss in diesem Fall zunächst auch bei Bullinger, wie bei allen Theologen des 16. Jahrhunderts, zwischen Gestalt und Gehalt zu unterscheiden versucht werden. Der Gehalt seines Insistierens auf dem einen und ewigen Bund Gottes mit allen Menschen, substanziell geschlossen bereits mit dem ersten Menschenpaar unmittelbar nach dem Sündenfall, liegt aber auf der Hand: Es soll theologisch festgehalten werden, dass Gottes Gnade jeden Morgen neu ist, und dies nicht nur für das zwinglianische Zürich und das lutherische Sachsen, sondern für alle Menschen aller Orte und Zeiten, der zukünftigen wie der vergangenen. Ob man das auf andere Weise besser tun kann, darüber müsste man diskutieren, und davon, dass jede Antwort neue Fragen provoziert, ist auch Bullinger nicht ausgenommen – wie er selber übrigens besser wusste als manche seiner Zeitgenossen. Das aber würde heißen: Über, und auch mit Bullinger ins Gespräch zu kommen, und zunächst ganz simpel: ihn beim Namen zu nennen. Dazu einzuladen ist nicht das geringste Ziel der hier vorgestellten Studie, denn damit würde man auch Bullingers historischer Bedeutung für den weltweiten reformierten Protestantismus besser gerecht als bis anhin. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


Peter Opitz, Zürich