Goeters-Preis 2003
Ausgezeichnet wurde mit dem mit 1500,- € dotierten Preis die Heidelberger Wissenschaftlerin Nicola Gwen Stricker. Der Vorstand war zu dem einstimmigen Ergebnis gekommen, ihre Dissertation mit dem Titel „Die maskierte Theologie von Pierre Bayle“ auszuzeichnen. Die Arbeit besteche durch Gründlichkeit, Übersicht und Kontextanalyse, so der Vorsitzende in seiner Laudatio.
Im Folgenden können Sie die Dankesrede von Nicola Stricker lesen:
Sehr geehrter Herr Dr. Lange van Ravenswaay,
sehr geehrte Damen und Herren des Vorstands der Gesellschaft für die Geschichte des reformierten Protestantismus,
sehr verehrte Anwesende!
Es ist mir eine große Ehre und Freude, diese Auszeichnung heute entgegenzunehmen. Gestatten Sie, dass ich Ihnen in kurzen Zügen die Grundgedanken meiner Arbeit darlege.
Pierre Bayle, der Philosoph von Rotterdam, gilt nicht nur gemeinhin als Vorläufer der Aufklärung, sondern auch als ein enfant terrible des französischen Protestantismus. Das Bild des ungläubigen Skeptikers und Kritikers hat bis in die heutige Zeit überdauert. Schule gemacht hat vor allem die Aussage von Leibniz in seiner „Théodicée“: Bayle befehle der Vernunft zu schweigen, nachdem er sie nur allzuviel habe reden lassen.[1]
In der Tat zeichnet Bayle in seinen Werken einen unüberbrückbaren Gegensatz von Philosophie und Theologie. Die Unverständlichkeit der göttlichen Mysterien – so hält er fest – schließt jeglichen philosophischen Diskurs aus. Darf die Vernunft die Dogmen beurteilen, so mündet dies in den Atheismus, da die Vernunft alles verwirft, was sie nicht erfassen und erklären kann. Dass der Rückzug von der Philosophie nicht als Niederlage der Theologie interpretiert werden soll, sondern im Gegenteil ihre Stärkung bedeutet, ist jedoch ein theologischer Grundgedanke Bayles, der bisher verkannt wurde.
Dieser Grundgedanke manifestiert sich in Bayles Kritik an der rationalistischen Theologie, die versucht, Glaube und Vernunft in Einklang zu bringen. Ein Lieblingsthema der Kritik Bayles ist die Theodizeeproblematik, die Frage nach dem Ursprung des Bösen in der Schöpfung eines guten und weisen Gottes. In einer äußerst kritischen und rationalistischen Argumentation zeigt er, dass alle Versuche, Gottes Erlaubnis des Bösen zu rechtfertigen, fehlschlagen. Die Vernunft muss eingestehen, dass sie Gott nicht verteidigen kann, ohne ihn schuldig zu machen. Bayles Denken gipfelt in einer Anti-Theodizee, nicht um die Güte Gottes anzugreifen, sondern weil er glaubt, dass man erst mit einem Verzicht auf die rationale Rechtfertigung Gottes wirklich die Sache Gottes führt. Die Rechenschaft über die Sünde kann im Christentum nicht als Rechtfertigung erfolgen, sondern nur als Bericht darüber, wie die Menschheit böse wurde und wie sie erlöst werden wird.
Bayles skeptische Argumentation zeigt nicht nur, dass die Philosophie die Welt nicht eindeutig und einstimmig erklären kann. Sie dient zugleich religiösen Zwecken, indem sie die Philosophie als Diskurs über das Göttliche entwertet. Der Skeptizismus wird zum Fideismus, da Bayle an die Stelle der Ungewissheit der Vernunft die Gewissheit des Glaubens und die Notwendigkeit der Unterstützung der Vernunft durch die Gnade Gottes setzt. Es ist vernünftig und notwendig, die Unvernünftigkeit des Glaubensinhaltes darzustellen und gleichzeitig zu zeigen, dass die Philosophie widersprüchlich ist, da es – so Bayles Fazit - keinen Glauben gibt, der besser auf der Vernunft aufgebaut ist, als den, der auf ihren Trümmern aufgebaut wird.[2]
Bayles Theologie entfaltet sich in seinen kritischen Darlegungen über Gottesbegriff und Theodizee, Schöpfungsproblematik, Gnadenlehre und Erlösungstheologie. Angesichts der Fehlschlüsse der Vernunft hinsichtlich des Wesens Gottes hält Bayle fest: Gott gibt sich der Vernunft nur in der evidenten Idee eines ewigen und notwendigen Wesens zu erkennen, lässt sie ansonsten jedoch auf ihren Irrwegen allein. Angemessen von Gott redet allein die Schrift - gerade auch in ihren der menschlichen Denkweise entgegengesetzten Mysterien. Dieser Gottesrede muss Theologie Rechnung tragen. Nur so kann der wahre Gott gleichzeitig zum Objekt und Subjekt ihrer Rede werden. Trinität, Inkarnation, Erlösungstod Christi und Prädestination sind wesentliche Elemente der Theologie Bayles. Was den Theologen Bayle jedoch von anderen Theologen unterscheidet, ist, dass er die dogmatischen Inhalte nicht systematisch behandelt. Bayles Schriften – das ist offensichtlich - besitzen weder die äussere Form noch die innere Struktur theologischer Werke. Bayle ist kein Theologe, der sich auf Exegese und Dogmatik verlegt. So werden die Inhalte der Theologie Bayles gerade dort greifbar, wo von der Schrift abstrahierende theologische Entwürfe kritisiert werden. Die Schrift enthält alles, was für den Dienst am Herrn und für das Heil notwendig ist. Es ist nicht die Anerkennung der Dogmen, die von der Sünde befreit und zum Heil führt, sondern die rechtfertigende Gnade, die den einzelnen erst dazu bringt, Gott zu lieben.[3] Der Glaube als Wirkung der Gnade und Ort der Rechtfertigung nimmt im Werk Bayles eine Stellung ein, deren Bedeutung nur allzu häufig verkannt wurde.
Ohne die Gnade besteht das einzig wirksame Handlungsprinzip des Menschen in seiner Eigenliebe und seinem Temperament. Auch wenn Bayle die Dominanz der Leidenschaften geltend macht, entschuldigt er das menschliche Handeln dadurch nicht. Ein Geschöpf, dessen wesentliches Attribut in der Vernunft liegt, muss sich dieser konform verhalten. Im menschlichen Geist ist, trotz der Sünde, die Erkenntnis der grundlegenden metaphysischen und moralischen Prinzipien bewahrt, auch wenn wahre Sittlichkeit - ganz im Sinne des orthodoxen Calvinismus - nur den Erwählten möglich ist. Bayle betrachtet Vernunft und Gewissen eben nicht als völlig autonom, sondern führt den Ursprung der sittlichen Vernunft explizit auf ein von Gott gegebenes lumen[4] zurück. Drei Momente binden die Moral an Gott:[5]
1. Gott hat dem Menschen die Einsicht in die moralischen Prinzipien gegeben, damit er sie befolge.
2. Die durch die Gnade erwirkte Erlösung impliziert das Befolgen der moralischen Prinzipien.
3. Die Moral ist keine spekulative Angelegenheit, sondern hat als Führer den gesunden Menschenverstand und die Erleuchtung durch das Evangelium.
Eine Loskoppelung der Moral von der Religion findet bei Bayle zwar statt, da die moralischen Gesetze unabhängig von der Existenz Gottes zu befolgen sind: etsi Deus non daretur[6]; von einer totalen Trennung zwischen moralischer und göttlicher Dimension kann jedoch nicht die Rede sein. Auch die Notwendigkeit von Toleranz ist kein rein philosophisches Postulat, sondern resultiert aus der Forderung, die Rechte des Gewissens als Rechte Gottes zu achten.
Weil Bayle in seinen Werken eine Reflexion des philosophischen und theologischen Denkens unternimmt, ist seine Theologie in höchster Weise dialektisch. Zugleich ist sie aber ein Appell, wieder zu den Quellen zurückzufinden und sich nicht in der Feststellung von Antinomien zu verlieren. Bayles Augenmerk gilt der Gefahr, dass die calvinistische Theologie immer mehr von der Philosophie vereinnahmt wird und damit anfällig wird für rationalistische Attacken. So gründet die Betonung der Irrationalität der Glaubenswahrheiten nicht auf dem Konzept einer autonomen Vernunft, sondern auf der paulinischen Trennung von eitler Philosophie und wahrer Theologie nach 1 Kor 1, 19-20. Aufgabe der von Bayle befürworteten fideistischen Theologie ist es, die in der Heiligen Schrift enthaltene Botschaft zu erläutern, ohne sie dem Prinzip der rationalen Verständlichkeit zu unterwerfen. Fideistische Theologie ist jedoch zugleich eine äusserst kritische Form theologischer Rede, da sie alle dogmatischen Versuche von Theologie, die über die Schrift hinauszielen, als Anmaßung der menschlichen Vernunft entlarvt. Die orthodoxen Inhalte werden dabei jedoch so in die vornehmlich philosophische und kritische Argumentation eingebunden, dass Bayles Theologie in ihrer Verknüpfung mit der Philosophie bisweilen eine rationalistische Maske annimmt und in ihrer Argumentation sich sogar scheinbar gegen die christliche Lehre richten kann. Angesichts der Ohnmacht der Vernunft, die sich gegenüber der Offenbarung in Widersprüche verwickelt, verzichtet Bayle auf den Entwurf eines theologischen Systems und verweist immer wieder auf die Lehre, die für ihn die größte Konformität mit der Schrift besitzt - nämlich die calvinistische Theologie gemäß den Beschlüssen der Synode von Dordrecht.[7] Da es Bayle um die Authentizität des christlichen Glaubens geht, kann seine Theologie in manchen Punkten aber einer zu eng gefassten Orthodoxie widersprechen.
Das Ziel der maskierten Theologie Bayles besteht im Schutz der Glaubenswahrheiten vor einer selbstherrlichen Vernunft und in der Abgrenzung des wahren Glaubens vom Aberglauben und von den der wahren Gottesidee nicht gemäßen Arten theologischer Rede sowie – in praktischer Hinsicht – in der Kennzeichnung von Intoleranz, Hass, Eigenliebe und Stolz als dem Evangelium konträre Haltungen. Was das 18. Jahrhundert vor allem von Bayle übernehmen wird, ist seine Trennung zwischen Moral und Religion, das Plädoyer für die Toleranz, seine Kritik des Aberglaubens und die Infragestellung der überkommenen Ideen von der Vorsehung. Seine Theologie übernimmt es nicht. Bayles Ziel – aufgrund der Erkenntnis, dass Glaube und Vernunft nicht versöhnbar sind -, die christlichen Dogmen durch den Fideismus zu schützn, wird nicht nur zu seiner Zeit missverstanden. Von den Deisten und Atheisten als Befreier vom religiösen Dogma gefeiert, gilt Bayle bis heute zu Unrecht als Philosoph und Kritiker, der die Dogmen dem Tribunal der Vernunft unterstellt.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
[1] G.W. Leibniz, Vorrede des Verfassers, in G.W. Leibniz, Herrn Gottfried Wilhelms Freiherrn von Leibnitz Theodicee: das ist, Versuch von der Güte Gottes, Freiheit des Menschen, und vom Ursprunge des Bösen, nach der 1744 erschienenen, mit Zusätzen und Anmerkungen von Johann Christoph Gottsched ergänzten, vierten Ausgabe herausgegeben, kommentiert und mit einem Anhang versehen von H. Horstmann, Berlin 1996, p. 51.
[2] Cf. P. Bayle, Réponse aux Questions d’un Provincial, in P. Bayle, Oeuvres diverses, 5 Bde., hrsg. v. E. Labrousse, Hildesheim 1964-1982, Bd. III, p. 836b. – Verweise auf diese Ausgabe werden im folgenden mit OD abgekürzt.
[3] Cf. P. Bayle, Pensées diverses, OD III, p. 94b.
[4] Cf. P. Bayle, Système de Philosophie, OD IV, p. 260.
[5] Cf. P. Bayle, Dictionaire historique et critique, art. Loyola (Ignace de), rem. T. Die Verweise auf das „Dictionaire“ richten sich nach der Ausgabe des Dictionaire historique et critique, par Mr Pierre Bayle, 4 Bde., Amsterdam/Leiden 1740.
[6] Cf. P. Bayle, Continuation des Pensées diverses, OD III, p. 409a; cf. H. Grotius, De iure belli ac pacis, Paris 1625, Prolegomena: „Et haec quidem quae iam diximus, locum ha berent etiamsi daremus, quod sine summo scelere dari nequit, non esse Deum“.
[7] Cf. P. Bayle, Entretiens de Maxime et de Thémiste, OD IV, p. 11a; cf. P. Bayle, Réponse aux questions d’un provincial, OD III, p. 769b.