Wichtige Marksteine
Reformierte im Spiegel der Zeit
Geschichte des Reformierten Bunds
Geschichte der Gemeinden
Geschichte der Regionen
Geschichte der Kirchen
Biografien A bis Z
(1528–1572)
Jeanne d´Albret (1528–1572) war die bedeutendste Frau in der Geschichte der Hugenotten im 16. Jahrhundert. Besonders in ihrem Witwenstand, in den letzten zehn Jahren ihres Lebens, baute sie eine reformierte Kirche in Béarn auf und war das politische Oberhaupt der Hugenotten im dritten Religionskrieg (1568–1570). Nach 1570 versuchte sie, die Reformierten zu schützen und ihnen einen gesicherten Platz in der Gesellschaft zu verschaffen. Sie handelte für die Hugenotten den Friedensschluss von St. Germain 1570 aus, und durch die Heirat ihres Sohnes Heinrich (später Heinrich IV. von Frankreich) mit Margarete von Valois, Schwester des Königs Karl IX. von Frankreich, strebte sie eine enge Verbindung von Hugenotten und Katholiken an.
Keine andere Frau hatte eine solche Machtposition unter den Hugenotten in Frankreich inne. Sie war respektiert und gefürchtet in Rom und Madrid, alliiert mit Elizabeth von England und befreundet mit Katharina von Medici – keine unkomplizierte Freundschaft zwischen zwei starke Frauen.
Sie sorgte dafür, dass ihre Kinder – Heinrich und Katharina – im reformierten Glauben erzogen wurden. Jahrelang kämpfte Heinrich als Anführer der Hugenotten und von einer Machtbasis in Südfrankreich aus um die französische Krone, bis er 1589 König von Frankreich wurde und schließlich 1593 zum katholischen Glauben übertrat, um das Land zu befrieden.
Jeanne d´Albret war nicht nur Mutter ihres berühmten Sohnes, sie war auch selbst eine machtvolle Frau in Frankreich, da ihre Position als Anführerin der Hugenotten ihr einen Einfluss weit über die Grenzen ihres kleinen Königreiches zusicherte.
Jugend und Ehe (1528-1555)
Jeanne d´Albret wurde am 7. November 1528 auf dem Schloss Blois von Margarete und Heinrich II. von Navarra geboren. Ihre Mutter wusste angeblich, dass sie eine Tochter gebären würde, ihr sehnlichster Wunsch war freilich nach einem Sohn. Jeanne blieb das einzige Kind aus dieser Ehe, Margarete von Navarra gebar zwar kurz danach einen Sohn, der als Kleinkind starb, und alle übrigen Hoffnungen auf Schwangerschaften zerschlugen sich.
Die kleine Prinzessin konnte von ihrem Vater das Königreich Navarra erben, weil dort das salische Gesetz, das in Frankreich weibliche Thronerben verbot, nicht gültig war. Außerdem war das vicomté Béarn selbständig. Deswegen waren die zwei Großmächte Spanien und Frankreich zutiefst an diesen Grenzregionen interessiert. Frankreich wollte seine Südgrenze verteidigen, und Spanien beide Seiten der Pyrenäen besitzen, um in Frankreich einfallen zu können. Zudem war die väterliche Familie von Albret Großgrundbesitzer in Südwestfrankreich und damit Vasall des französischen Königs. Das frühere Aquitanien hatte mehrere hundert Jahre der englischen Krone gehört und war spät von England aufgegeben worden. Im 16. Jahrhundert wurde das Gebiet meistens als Guyenne bezeichnet.
In ihren jungen Jahren wuchs Jeanne in der Normandie auf. Ihre Mutter, Margarete von Navarra, hatte die Aufgabe, die königlichen Kinder ihres Bruders, Franz I., zu erziehen. Sie gab Jeanne in die Obhut ihrer Freundin Aymée de Lafayette, Vogtin von Caen. Man behauptet, sie sei die Vorlage für die Figur Longarine in Heptameron (vgl. Nielsen). Nach meiner Auffassung sind die Erzähler/innen im Heptameron, die sogenannten devisants, eher Typen als historische Persönlichkeiten, die Figur der Longarine ist allerdings eine sehr sympathische Frau mit Humor und Pfiff. Wenn Aymée de Lafayette die Vorlage zu Longarine abgegeben haben soll, deutet alles darauf hin, dass Margarete sie sehr schätzte und meinte, ihre Tochter sei bei ihr gut aufgehoben.
Jeanne wuchs in einem landadligen Milieu auf, umgeben von Wald, Wiesen und Tieren, mit den Mitgliedern der Familie von Aymée de Lafayette als Bezugspersonen, bis sie zehn Jahre alt war. Ihre Mutter sah sie selten, aber jedes Mal, wenn sie krank war, war Margarete sofort zur Stelle. 1538 ließ Franz I. sie nach Plessis-lez-Tours bei der Loire übersiedeln, da sie jetzt ein Alter erreicht hatte, wo sie auf dem Heiratsmarkt von Interesse war. Der König konnte über seine Verwandte entscheiden und Ehen arrangieren, wie es ihm passte.
1540 war es für Jeanne so weit. Herzog Wilhelm der Reiche von Kleve-Jülich-Berg hatte 1538 das Herzogtum Geldern geerbt. Sein Erbanspruch wurde von Kaiser Karl V. angefochten und auf dem Reichstag zu Regensburg wurde dem Kaiser Geldern zugeteilt. 1539 folgte Wilhelm seinem Vater auf dem Thron nach, und um sich vor den Ansprüchen des Kaisers zu schützen, arrangierte er eine Ehe mit Heinrich VIII. von England für seine Schwester Anna, und selbst verbündete er sich mit Franz I. Als Unterpfand für dieses Bündnis sollte er Jeanne d´Albret heiraten.
Was jetzt passierte, ist absolut ungewöhnlich: Jeanne weigerte sich. Die Zwölfjährige ließ ihrem Onkel wissen, dass sie den Herzog nicht heiraten möchte, und sie ließ zwei Schreiben aufsetzen, in welchen sie erklärte, dass sie gegen ihren Willen zu dieser Ehe gezwungen worden sei. Natürlich konnte sie sich nicht auf Dauer gegen den Willen des Königs auflehnen, aber bei der Hochzeitszeremonie am 14. Juni 1541 weigerte sie sich, zum Altar zu schreiten, stattdessen musste sie getragen werden. Ihr Jawort war nicht hörbar und wegen ihres Alters wurde die Ehe nicht vollzogen, der Herzog setzte nur symbolisch ein Bein in ihr Bett. Nach der Hochzeit kehrte er zurück nach Düsseldorf, während Jeanne vorläufig in Frankreich blieb.
1543 griff Kaiser Karl Kleve-Jülich-Berg an, der Herzog wurde geschlagen und musste Geldern Karl V. überlassen. Am Frieden von Venlo im September 1543 hob er das Bündnis mit Franz I. auf und verbündete sich stattdessen mit dem Kaiser. Damit war auch die französische Ehe hinfällig geworden, 1545 wurde sie vom Papst wegen Nichtvollzug annulliert, und der Herzog vermählte sich mit einer Nichte des Kaisers.
Nach kanonischem Recht durfte bei einer Eheschließung keine Zwang im Spiel sei. Die Eheleute mussten ihr Gelübde frei abgeben. Damals konnten junge Frauen aus adligen oder königlichen Familien sich ihre Ehepartner nicht selbst aussuchen, sondern wurden als politische Garanten vermählt, und die meisten fanden sich damit ab, weil das ihr Standesbild entsprach. Jeannes Ablehnung, so wie ihre Kenntnis des kanonischen Rechts, ist erklärungsbedürftig.
Eine mögliche Erklärung ist, dass ihre Eltern für sie eine Ehe mit dem Kronprinzen Philipp von Spanien anstrebten. Königin von Spanien war natürlich prestigeträchtiger als Herzogin von Kleve zu sein, aber vor allem erhoffte sich ihr Vater damit den spanischen Teil von Navarra zurückzugewinnen. 1512 hatten die Spanier Navarra, das Baskenland, bis zu den Pyrenäen erobert und den Albrets nur das winzige Gebiet auf der französischen Seite gelassen. Seitdem überlegten sich die Könige von Navarra, wie sie zu ihrem ganzen Erbe kommen konnten, und eine Ehe zwischen dem Infanten von Spanien und der zukünftigen Königin von Navarra würde genau dies herbeiführen.
Jeanne war möglicherweise auch beeinflusst von einer Erklärung der Ständeversammlung von Béarn, die eine auswärtige Ehe für ihre Kronprinzessin ablehnte.
Sah Jeanne d´Albret ihre Zukunft gefährdet durch eine Ehe mit dem Herzog von Kleve? Oder tat sie, was ihre Eltern wünschten, statt des Königs Willen zu erfüllen? Stammten ihre Kenntnisse des kanonischen Rechts von denen? Margareta von Navarra schrieb ihrem Bruder, sie habe keine Ahnung, was in das Mädchen gefahren sei, aber stimmt das? Hat sie Jeanne mit ihrer Ablehnung der Ehe geholfen aus Liebe (Cholakian & Cholakian), oder aus Ehrgeiz? Es besteht kein Zweifel, dass königliche Kinder damals frühreif waren und in jungen Jahren schon an ihre späteren Aufgaben geführt wurden, trotzdem ist die Zähigkeit und Sturheit des Mädchens erstaunlich.
1547 starb Franz I. und als Jeanne zwanzig Jahre alt war, bot der Nachfolger, Heinrich II. von Frankreich, ihr gleich zwei Heiratskandidaten an: den Herzog Franz von Aumale (der spätere erzkatholische Herzog Franz von Guise) und Anton von Bourbon, Herzog von Vendôme. Der letztere war Erbprinz und vielleicht deshalb für Jeanne die bessere Partie, obwohl er relativ arm war. Er war hochgewachsen – was für einen Bourbon eher selten war – und charmant, wie alle Männer in seiner Familie scheint er ein unverbesserlicher Schürzenjäger gewesen zu sein. Heinrich IV. von Frankreich, der vert galant, hatte seine ausgelebte Sexualität nicht von Fremden, ebenso wenig wie sein militärisches Können und seinen Mut.
Jeanne und Anton von Bourbon heirateten 1548 und sie war überglücklich. Heinrich II. schrieb in einem Brief, dass er selten eine Braut erlebt habe, die immer nur lachte. Diese Ehe war aus Liebe geschlossen, und Anton von Bourbon nahm seine Frau mit, als er in den Krieg zog. Der Kriegsschauplatz war Flandern, und da der Herzog Güter in Nordfrankreich besaß, zog Jeanne in den ersten Jahren ihrer Ehe von Schloss zu Schloss, immer in der Hoffnung, dass sie und Anton von Bourbon sich treffen könnten.
1551 gebar sie ihren ersten Sohn und gab ihn an Aymée de Lafayette, die sie selbst erzogen hatte. Ob nun Frau de Lafayette alt oder übervorsichtig geworden war, der kleine Herzog von Beaumont starb als Kleinkind, angeblich weil er von Wärme erstickt worden sei.
Bald wurde Jeanne wieder schwanger, und während ihr ältester Sohn in Nordfrankreich geboren war, sollte das zweite Kind in Béarn zu Welt kommen. Sie unternahm die lange Reise nach Süden und kam gerade rechtzeitig in Pau an, 14 Tage bevor sie von ihrem zweiten Sohn, Heinrich, auf dem Schloss in Pau entbunden wurde. Es wurde entschieden, dass dieser Junge in Pau bleiben sollte. Der Großvater, Heinrich d´Albret, wollte wahrscheinlich mit diesem kleinen Prinzen die Erbfolge in Béarn und Navarra sichern. Die Legenden von der rauen Erziehung Heinrichs seitens des Großvaters können jedoch nicht wahr sein, allein weil das Kind die ersten Jahre von Ammen betreut wurde, und der Großvater starb, als es zwei Jahre alt war. Es scheint in Béarn Sitte gewesen zu sein, die Lippen des Täuflings mit Rotwein und Knoblauch einzureiben, eine Taufe à la Gascogne, aber die Mär, dass Heinrich barfuß unter den Hirten in den Bergen aufgewachsen sein soll, ist reine Legende. Der spätere Hauslehrer Heinrichs, Palma Cayet, schrieb, als Heinrich schon König von Frankreich war, seine Biographie, und daher stammt der Bericht vom Opa und von seiner rauen Erziehung. Dieser Kindheitsbericht ist eher Propaganda des Königs, wie er gerne gesehen werden möchte.
Tatsächlich kam Heinrich in die Obhut der Familie de Miossens, die auf dem Schloss Coarraze wohnte. Die Frau, Suzanne de Bourbon-Miossens, war eine Cousine von Jeanne. Heinrich wurde demnach genau wie seine Mutter als Landadliger erzogen, und er wuchs in einer Familie mit anderen Söhnen auf, die als Erwachsene seine Gefolgsleute werden sollten. Als seine Mutter den Thron erbte, wurde er schon als Kleinkind als Kronprinz behandelt.
Die zwei Jahre zwischen Heinrichs Geburt 1553 und ihre Thronbesteigung 1555 verbrachte Jeanne wiederum in Nordfrankreich in der Nähe ihres Gatten. In dieser Zeit gebar sie einen dritten Jungen, der jedoch nicht lange lebte. Es muss hinzugefügt werden, dass Anton von Bourbon 1554 einen außerehelichen Sohn, Karl von Bourbon, mit einer Hofdame bekam. Jeanne hatte bereits mehrere Onkel, die illegitim waren, und sie scheint den kleinen Karl in ihrer Familie aufgenommen zu haben. Er wurde später Erzbischof von Rouen.
Erst als der Vater gestorben war, zog sie als Königin nach Pau und obwohl sie die Erbin war, ließ sich ihr Mann als König huldigen, was die Ständeversammlung eigentlich gar nicht wollte, dennoch ordneten sie sich dem Willen Jeannes unter.
Königin an der Seite von Anton von Bourbon (1555–1560)
Ihr Vater hatte Jeanne ein blühendes Land hinterlassen. Er hatte Industrien nach Béarn geholt, das Steuersystem effektiv gestaltet und für den religiösen Frieden gesorgt. Große Einkünfte entstanden auch durch seine Posten als Gouverneur und Admiral der französischen Krone in Guyenne. Anton von Bourbon bekam diese Posten nach seinem verstorbenen Schwiegervater, und später hat sein Sohn, Heinrich von Navarra, sie übernommen. Jeanne und Antoine standen als die größten Grundbesitzer Südwestfrankreichs finanziell sehr gut da.
1555 find Calvin seine missionarische Tätigkeit in Frankreich an. Reformierte gab es in Südwestfrankreich zu diesem Zeitpunkt längst, weil Margareta von Navarra sie mit Predigern unterstützt hatte und Gérard Roussel, einen Reformkatholiken, als Bischof in Orthez, eingesetzt hatte. Dieser Roussel war einmal Weggefährte Calvins gewesen, und dieser warf ihm vor, nicht konsequent genug zu sein, als er die Stelle als katholischer Bischof trotz seiner reformatorischen Sympathien annahm (CStA I,1).
Als Königin hatte Jeanne bei ihrer Krönung versprechen müssen, die katholische Religion zu verteidigen. Am selben Tag, nachdem sie diesen feierlichen Eid abgelegt hatte, schrieb sie an einen Vasallen, dem vicomte von Gourdon, und erzählte ihm, sie wolle über die Förderung des reformierten Glaubens im kleinem Kreis heimlich beraten. Dieser Brief ist Teil eines Briefwechsels mit zwei vicomtes de Gourdon, Vater und Sohn, die die gesamte Regierungszeit Jeannes überdauerte. Die Briefsammlung wurde im vorigen Jahrhundert entdeckt und gibt viele neue Einsichten in die Vorhaben und die Beweggründe Jeannes. Da die entdeckten Briefe uns nur als teilweise fehlerhafte Kopien vorliegen, haben viele Forscher die Briefe als Fälschungen abgetan (Text und Diskussion bei Bryson).
Der erste Brief vom August 1555 teilt uns mit, dass Jeanne schon zu diesem Zeitpunkt reformierte Sympathien deutlich aussprach. Sie schrieb dem vicomte, dass ihre Mutter sich zwischen den zwei Religionen nicht habe entscheiden können, und dass sie selbst aus Furcht vor ihrem Vater bislang nicht gewagt habe, sich offen zum Protestantismus zu bekennen. Das Edikt von Chateaubriant von 1551 verbot eindeutig jede „Ketzerei“ und deshalb schlug sie vor, die Reformierten sollten sich heimlich auf dem Schloss Odos treffen.
Es gibt sonst keine Quellen, die belegen könnten, dass Jeanne mit dem reformierten Glauben in Berührung kam. Es gab in ganz Frankreich zu der Zeit kleine zerstreute Gemeinden, sowie Prediger und Kolporteure, die reformatorische Bücher schmuggelten. Die wiederholten Verbote des Königs konnten das nicht unterbinden, sie führten nur dazu, dass Protestanten, wie Jeanne, sich heimlich treffen mussten.
In den Jahren nach 1555 verbreitete sich der reformierte Glaube mehr und mehr im Hochadel. Auch Anton von Bourbon wurde davon ergriffen, brachte reformierte Prediger nach Béarn und als er und Jeanne 1558 mit Heinrich nach Paris zogen, nahm er an großen psalmensingenden Demonstrationen außerhalb der Stadtmauern von Paris teil. Calvin war darüber hoch erfreut, denn er setzte in seiner Missionsarbeit gerne auf hochrangige Persönlichkeiten. Jeanne dagegen verhielt sich während dieser Zeit bedeckt.
In Paris kam sie mit ihrem vierten Kind, einer Tochter namens Katharina, nieder. Das kleine Mädchen war das einzige Kind, das bei Jeanne aufwachsen durfte, obwohl sie (natürlich) Erzieherinnen und Gouvernanten hatte.
Anton von Bourbon fiel nicht nur mit protestantischen Sympathien auf, sondern wie sein Schwiegervater versuchte er, den spanischen Teil von Navarra zurückzugewinnen. Heinrich d´Albret hatte seinen Besitz gut und gewinnbringend regiert, während Anton von Bourbon seiner Frau die Regierungsgeschäfte überließ, und selbst nur versuchte, ein größeres Königsreich für sich zu gewinnen. So konnte der spanische König Philipp ihm einen Tausch, erst mit dem Herzogtum Milano und später mit Sardinien, anbieten. Damit hätte Spanien den Sprung über die Pyrenäen geschafft und Südfrankreich bedrohen können. Wir würden solches Taktieren mit dem Feind Hochverrat nennen, damals räumte man freilich Adligen große Freiheiten ein, sich einen Herren auszusuchen, aber Anton von Bourbon wurde auch von den Zeitgenossen als unzuverlässig und unverantwortlich angesehen, und nicht zuletzt war er so politisch ungeschickt, dass es an Dummheit grenzte (Sutherland 1984).
Im Sommer 1559 starb Heinrich II. von Frankreich unerwartet. Sein Sohn Franz II. folgte ihm als nur fünfzehnjähriger Knabe auf dem Thron. In dieser Situation war die traditionelle Lösung, dass der erste erwachsene Erbprinz, Anton von Bourbon, ihn unterstützen sollte, und Calvin ermahnte ihn eindringlich, dieses Amt zu übernehmen und dabei den Hugenotten zu helfen. Anton von Bourbon verspielte diese Chance und überließ die Regierungsgeschäfte der Familie von Guise, besonders dem Herzog von Guise und dem Kardinal von Lorraine, die beide die antiketzerische Politik des verstorbenen Königs weiterführen wollten. Nach dem Tod Heinrichs II. bekannten sich mehrere hochrangige Adlige offen zum Protestantismus und es gab im März 1560 sogar einen hugenottischen Komplott, den König zu entführen und von seinen „schlechten Ratgebern“ zu trennen. Anton von Bourbon und sein jüngerer Bruder, der Prinz von Condé, beide notorische Reformierte, wurden wegen diesem Angriff auf den König angeklagt. Anton von Bourbon versprach Besserung, während sein Bruder, der Prinz Ludwig von Condé zum Tode verurteilt wurde. Nur der plötzliche Tod des jungen Königs rettete ihn vor der Hinrichtung. Da der neue König, Karl IX., ein zehnjähriges Kind war, brauchte Frankreich einen Regenten, nämlich den ranghöchsten Erbprinz Anton von Bourbon. Wiederum ergriff dieser nicht die Chance. Katharina von Medici ließ sich stattdessen als Regentin einsetzen und Anton von Bourbon wurde zum Generalstatthalter ernannt. Die Hugenotten mit Calvin an der Spitze waren zutiefst enttäuscht. In diesen Jahren hatte der reformierte Glaube großen Zulauf, es wurde von mehreren Tausend Gottesdienstbesuchern überall in Frankreich berichtet, von Abendmahlgottesdiensten, die zwei Tage dauerten und von Bekehrungen am Hof und im Hochadel.
1560 verließ Jeanne Paris, um zurück nach Pau zu fahren. Theodorus Beza, der engste Mitarbeiter Calvins, besuchte sie dort, und es entwickelte sich eine enge Zusammenarbeit, die bis Jeannes Tod dauerte. Beza versorgte sie mit Predigern und Beratern für ihr Land. Im Dezember 1560 unternahm Jeanne den entscheidenden Schritt und bekehrte sich öffentlich zum reformierten Glauben. Während ihr Gatte nicht in der Lage war, sich an die Spitze der Hugenotten zu setzen, wurde sie jetzt die leitende Hugenottin in Frankreich.
Reformierte Königin (1560–1568)
Jeanne d´Albret war zweifelsohne eine tief religiöse Frau. Lange Zeit hatte sie äußerste Diskretion walten lassen, zwar mit ihrem Gatten reformierte Prediger gehört, aber sich niemals offen zum reformierten Glauben bekannt. Erst nachdem Anton von Bourbon sich mit dem Posten als lieutenant générale abgefunden hatte, kam sie aus der Deckung.
Es war eine Zeit, wo alle große Hoffnungen bzw. Ängste für den Protestantismus in Frankreich hegten. Drei wichtige Katholiken – der Herzog von Guise, der Konstabel von Montmorency und der Marschall St. André – schlossen sich zusammen, um Frankreich gegen die Reformierten zu schützen. Sie planten den Sturz von Anton von Bourbon und einen Angriff auf Genf mit der Hilfe des Herzogs von Savoyen, zu dessen Besitz Genf bis 1534 gehört hatte. Dieses Triumvirat war der erste Vorbote der katholischen Liga, die später Heinrich IV. hartnäckig bekämpfte (Sutherland 1973).
1560 war noch zu erwarten, dass der Protestantismus nach Frankreich gekommen war, um zu bleiben. Jeanne war sich sehr bewusst, welche Gefahren ihr von Spanien, vom Papst und von der mächtigen Familie von Guise drohten. Sie hatte noch die Hoffnung, dass der junge König Karl IX., Katharina von Medici und ihr Kanzler, der tolerante Michel de l´Hôpital, die Reformierten unterstützen würden, zumal die Königinmutter sich selbst von denen von Guise bedrängt fühlte.
Diese letzte Hoffnung erwies sich als trügerisch, aber niemals wich Jeanne später vom einmal eingeschlagenen Kurs ab. Sie konnte weder geldwerte Vorteile noch politisches Kapital aus ihren Glauben schlagen, dafür hielt sie konsequent an ihrer Überzeugung fest.
In Béarn machte sie erste vorsichtige Schritte, um das Land zu reformieren. Es gab schon Reformierte dort, und Prediger hatten angefangen, den neuen Glauben zu verbreiten, Jeanne aber träumte von einem reformierten Land, und fing langsam und vorsichtig an, diesen Traum zu verwirklichen.
Der erste Schritt war, den reformierten Glauben dem Katholizismus rechtlich gleich zu stellen. Die Kirchen wurden für beide Religionen geöffnet (das sogenannte simultaneum) und aus den Kirchen in Lescar und Pau wurden Bilder und Statuen entfernt, allerdings nicht in Form eines Bildersturms, sondern von den Behörden. Jeanne beschlagnahmte das kirchliche Vermögen nicht für sich selbst, sondern investierte es in Sozialfürsorge und Bildung.
Es ist klar, dass sie den reformierten Glauben einführen wollte, aber zu keinem Zeitpunkt vefolgte sie Andersgläubige, geschweige denn verbrannte sie. Immer setzte sie auf Überredung.
Im August 1561 begab sie sich wieder zum Hof. Überall wurde sie stürmisch von Hugenotten begrüßt, als ob sie „der Messias sei“, bemerkte verärgert der spanische Gesandte. Katharina von Medici hatte zu einem Religionsgespräch eingeladen. Dieses Gespräch fand in Poissy außerhalb Paris statt. Seitens der Krone war gewiss an eine Versöhnung oder gar einen Ausgleich zwischen den Religionen gedacht, die reformierten Teilnehmer mit Beza an der Spitze mochten jedoch keine Kompromisse eingehen. Beza wurde unterstützt von Calvin in Genf, der selbst zu krank war, um mitzukommen. Calvin war mit den Auftritten und Reden Bezas zufrieden, während z.B. der Admiral Coligny Beza als reichlich provokant wahrnahm.
Im Herbst 1562 blieb Jeanne mit ihren Kindern beim Hofe. Katharina von Medici suchte auch nach den Religionsgesprächen eine Übereinkunft mit den Protestanten, was in dem Edikt vom 17. Januar 1562 – auch Edikt von St. Germain genannt – gipfelte. Dieses Edikt, an dem der Kanzler Michel de l´Hôpital und Beza beteiligt waren, erlaubte es den Hugenotten, außerhalb der Städte Gottesdienste zu halten. Es war das günstigste Edikt, das sie jemals erlangen sollten, das Edikt von Nantes 1598 war ihm sehr ähnlich, aber nicht ganz so großzügig. Der Unterschied war, dass Heinrich IV. dafür sorgte, dass das Edikt von Nantes durchgeführt wurde, während alle frühere Edikte, so wohlgemeint sie auf dem Papier auch waren, von katholischen Behörden unterlaufen wurden, und der König zu schwach war, um für ihre Durchführung zu sorgen.
Im März 1562 massakrierte der Herzog von Guise eine reformierte Gemeinde, die innerhalb des Städtchens Wassy Gottesdienst feierte. Damit war die Versöhnungspolitik Katharinas von Medici gescheitert. Die Hugenotten unter dem Prinzen von Condé griffen zu den Waffen und Anton von Bourbon bat Jeanne den Hof zu verlassen. Er behielt seinen Sohn Heinrich bei sich, entließ aber dessen hugenottischen Hauslehrer. Jeanne beschwor ihren Sohn, nicht zur Messe zu gehen, und der junge Prinz hielt sich wohl auch ein paar Wochen daran, musste sich aber schließlich fügen. Nach ihrem Fortgang vom Hofe trat Jeanne eine monatelange abenteuerliche Reise durch Frankreich an, so gefährlich, dass die ersten Briefen von der Hand Heinrichs seine Ängste um seine Mutter bezeugen. Ihre kleine Tochter Katharina durfte sie behalten.
Im ersten Religionskrieg führte Anton von Bourbon die königlichen katholischen Truppen gegen die Hugenotten. Bei der Belagerung von Rouen wurde er verwundet und starb am 17. November. Der junge Heinrich blieb am Hofe in der Obhut Katharinas von Medici, die allerdings Jeanne gestattete, ihm wieder reformierte Hauslehrer zu geben. Sie sollte ihn erst 1564 wiedersehen.
Die Kirche in Béarn und Navarra
Ihre große Aufgabe sah Jeanne darin, die Reformation in Béarn durchzuführen.
Calvin stellte ihr Jean Raymond Merlin zur Seite, den früheren Professor für Hebräisch in Lausanne, wo er Kollege von Beza, dem Professor für Griechisch, und von Pierre Viret, dem Rektor der Akademie, gewesen war. Pierre Viret arbeitete nach seiner Zeit in Lausanne und Genf vor allem in Frankreich, besonders in den Kirchen von Lyons und Nîmes. Später sollte er für Jeanne d´Albret ihre Akademie in Orthez aufbauen. Merlin war übrigens mit einer Tochter von Marie Dentière verheiratet, derjenigen, die vor Jahren Jeanne eine selbstgeschriebene hebräische Grammatik zugesandt hatte (vgl. Graesslé13f.; Nielsen).
Merlin ging voll Eifer an die Aufgabe, eine reformierte Kirche in Béarn aufzubauen. Es gab viele Reformierte in Südfrankreich, aber meistens unter städtischen Eliten und Handwerkern. Die Reformierten waren meistens des Lesens fähig, vor allem des Lesen französischer Texte. In Südwestfrankreich sprach die Bevölkerung die langue d´oc, die alte oczitanische Sprache, in irgendeiner Form. Die Gascogne hatte ihre Sprache, in der ein Neues Testament und fünfzig Psalmen übersetzt wurden, und Béarn hatte béarnais sogar als Amtssprache. Hinzu kam, dass die Bevölkerung in Navarra Baskisch sprach. Wenn Merlin das ganze Land reformieren sollte, musste er diese Sprachbarrieren überwinden, denn die Landbevölkerung musste erreicht und für die Reformation gewonnen werden.
Jeanne d´Albret beauftragte eine Übersetzung des Neuen Testaments ins Baskische, und eine Übertragung der Psalmen, der Zehn Gebote, der Liturgie und des Katechismus Calvins in die Sprache Béarns. Der Anwalt, später Pastor, Arnaud de la Salette, stellte 1571 diese Übersetzung fertig, und obwohl sie erst 1583 gedruckt wurde, darf man annehmen, dass in der Zwischenzeit Manuskriptkopien verwendet wurden. Pastoren, die die béarnesische oder die baskische Sprache beherrschten, wurde händeringend gesucht, und von den Anderen wurde ausdrücklich verlangt, dass sie es lernen sollten. Katecheten, die vermutlich Landeskinder waren, wurden in die Gemeinden geschickt.
Allmählich verbot Jeanne katholische Riten und Gebräuche, zuerst die Fronleichnamsprozessionen, danach Maibäume und Jahrmärkte. Dann wurde die Messe abgeschafft. Der Dom von Lescar und die Kirche St. Martin in Pau wurden leergeräumt, und die dort befindlichen Schätze verkauft.
Für Merlin konnte dies nicht schnell genug gehen. In seinen Briefen an Calvin klagte er seine Not: die Bevölkerung sei stur – diese Holzköpfe! - und die Königin zu langsam und vorsichtig (CO 20, Nr. 3988 & Nr. 4061). Merlin hatte übrigens auch früher in Montargis Probleme mit Renée de France gehabt, Herzogin von Ferrara, die in ihrem Gebiet so vorsichtig war wie Jeanne in Béarn (vgl. Lambin, 2). Jeanne bekam Klagen auf der jährlichen Ständeversammlung, wo die Katholiken über den Verlust alter Freiheiten und Rechte klagten. In den sechziger Jahren musste sie mehrmals Aufstände niederschlagen.
Der Nachfolger für Merlin war Pierre Viret, der enge Freund Calvins. Er war Pastor und Rektor für die Akademie in Lausanne – mit Beza und Merlin als Kollegen – gewesen. Wegen eines Streits mit dem Stadtrat in Bern, übersiedelten 1559 alle Professoren nach Genf, um dort in der neu errichteten Akademie zu unterrichten. Von Genf begab Viret sich nach Frankreich, wo er in Lyon als Pastor arbeitete, danach leitete er die Nationalsynode in Nîmes und schließlich folgte er dem Ruf nach Béarn. Seine wesentlichste Aufgabe war es, die Akademie in Orthez aufzubauen. Die Fächer Theologie, Hebräisch, Griechisch, Philosophie und Mathematik wurden dort unterrichtet, während es keine Anzeigen für Professuren in Jura und Medizin gibt.
Vor ihrer akademischen Laufbahn absolvierten die Jungen eine fünfjährigen Ausbildung in einer Lateinschule (collège), während die Grundschule sowohl Jungen wie Mädchen unterrichtete, die Mädchen allerdings getrennt mit weiblichen Lehrkräften. Damit wurde das kleine Béarn das erste Land Europas, welches kostenlosen Unterricht für Mädchen zusicherte, und zwar mit der interessanten Begründung, dass sie so im Stande waren, ihr Brot zu verdienen und sich der Gesellschaft nützlich zu machen („Pareil rolle sera aussy faict des filles qui sont en bas aage et qui n´ont nul moyen de vivre et de s´entretenir, par toutes les églises, afin que de mesmes deniers et en écolle séparée elles soient enseignées, nourries et tenues par des femmes sages et pudiques, par leur industrie pouvoir aprés se nourrir et entretenir et servir au public“. Art. 32 der Verfassung der Akademie von 1566, zitiert nach Desplat 2004). Desplat unterstreicht die säkulare Ausrichtung der Ausbildung. Allgemein wird behauptet, der Zweck des Unterrichts in protestantischen Ländern sei, die Bevölkerung des Lesens der Bibel und des Katechismus zu befähigen. Hier werden nur die Vorteile eines Schulunterrichts für die Gesellschaft betont.
Die Akademie wurde 1566 geöffnet. Die ersten protestantischen Akademiegründungen in Frankreich fanden in Nîmes (1562) und Montpellier statt. Vorrangiges Ziel war es, die Kirchen mit Pastoren zu versorgen, da die Akademie in Genf die steigende Nachfrage der Gemeinden kaum nachkommen konnte. Da Papst Pius V. die katholischen Universitäten angewiesen hatte, Protestanten die Abschlüsse zu verweigern (Maag 2002, 140), brauchten junge Hugenotten ihre eigenen Universitäten, die dann auch gegründet wurden, vor allem in Leiden und Heidelberg, aber auch in Frankreich und benachbarten Gebieten wie Béarn, Orange und Sedan, die alle zu diesem Zeitpunkt unabhängig waren.
Jeanne hatte sehr gute Gründe, langsam und überlegt vorzugehen. Der Kardinal von Armagnac ließ sie wissen, dass sie die Bevölkerung Béarns in Ruhe lassen sollte, ihre Untertanen wollten ihren Katholizismus nicht aufgeben. Jeanne antwortete, dass sie in Béarn nur Gott über sich habe, dort könne sie ihrem Gewissen folgen, und in ihrem Land werde niemand wegen seines Glaubens verfolgt. Das letzte war ihr ein Anliegen, denn 1571 schrieb sie an ihren Statthalter, den Baron d´Arros, dass in ihrem Land niemand zum Glauben je gezwungen worden war und es auch nicht werden sollte („...intention n´a point esté et n´est encores qu´ilz soyent contraints par force et violence de se reanger à ladite Religion“, d´Aas 2002, 452).
Als sie sich bei der Einführung der Reformation in ihren Ländern unnachgiebig zeigte, zitierte der Papst sie nach Rom zwecks eines Ketzerprozesses. Da sie dieser Einladung nicht folgte, exkommunizierte er sie. Der Bann war eine ernste Bedrohung, da jeder katholische Herrscher jetzt das Recht hatte, ihre Länder an sich zu reißen und sie abzusetzen, eine Chance, die Philipp II. von Spanien sich nicht entgehen lassen würde. Katharina von Medici verteidigte deshalb Jeanne, weil sie keine spanische Präsenz auf der französischen Seite der Pyrenäen dulden wollte. Außerdem war sie eine Verfechterin der gallikanischen Freiheit der französischen Kirche und meinte deshalb, der Papst solle sich nicht in die Angelegenheiten der Kirche einmischen.
Königin der Hugenotten
Nach dem ersten Religionskrieg (1562-63) ließ Katharina von Medici den jungen Karl IX. mündig erklären und führte ihn mit dem Hof auf eine große Frankreichreise, die mehrere Jahre dauerte. Der Zweck dieser Reise war es, den König dem Volk zu zeigen, und damit die Loyalität der Bevölkerung zu erhalten. Jeanne wurde als Vasallin einberufen und stieß Ende Mai 1564 zum Zug in Macon.
Ihr Sohn Heinrich nahm auch Teil an diese Reise und seinetwegen stritten die zwei Königinnen sich, weil Jeanne ihn bei ihren protestantischen Gottesdiensten dabei haben wollte, und Katharina wünschte, dass er mit der königlichen Familie zur Messe gehe. Schließlich sandte Karl IX. Jeanne zu ihrem Besitz in Vendôme, während Heinrich als Gouverneur von Guyenne den Zug begleitete und in den Städten für den feierlichen Empfang des Königs sorgte.
Jeanne durfte nicht mit nach Bayonne, wo Katharina ihrer Tochter Elizabeth, Königin von Spanien, begegnen wollte. Philipp II. sandte als seinen Gesandten den Herzog von Alba, der auf dem Weg in die Niederlande war. Die Hugenotten waren später überzeugt, dass Alba und die Königinmutter in Bayonne ihre Ausrottung geplant hatten. Sicher ist, dass Alba in den Niederlanden mit aller Härte gegen die Protestanten vorging, und es ist durchaus möglich, dass er versuchte, Katharina auf seinen mörderischen Kurs einzustimmen. Schon 1568 – also vor der Bartholomäusnacht! – schrieb Jeanne, dass die Waffen, die gegen die Hugenotten verwendet werden sollten, in Bayonne geschmiedet worden seien (Ample déclaration).
Jeanne und Heinrich trafen sich später in Paris. 1566 ersuchte sie erneut um Erlaubnis, mit ihren beiden Kindern nach Béarn zu fahren, was ausgeschlagen wurde. Sie erhielt aber Erlaubnis, ihren Sohn in seinen französischen Ländereien herumzuführen, und Anfang 1567 reiste sie dann mit ihm nach Vendôme, und von dort setzte sie sich unerlaubt ab nach Béarn. Damit machte sie laut des Biographen Heinrichs, Pierre Babelon, aus einem französischen Prinzen einen Ausländer, und vor allem einen Hugenotten.
Von 1567 an arbeitete Jeanne für die Zukunft ihres Sohnes. Ihre Lebensaufgabe, schrieb sie selbst, sei: Gott, Königtum und ihr Blut. Mit Gott war die reformierte Religion, die wahre Kirche Gottes, gemeint. Mit dem König ihr Status als Vasallin und – trotz Béarn – als Französin, und mit dem „Blut“, die Familie, zuallererst ihr Sohn Heinrich. Er sollte von jetzt an kein Höfling mehr sein, sondern die Aufgaben eines Regenten lernen. Als ein Aufstand in Navarra niedergeschlagen worden war, wurde er dorthin geschickt, um die Basken zu befrieden. Als 14jähriger hielt er für seine Untertanen eine Rede, in welcher er ihr Fehlverhalten geißelte, ihnen die Gunst der Königin zusicherte, falls sie sich verbessern würden, und seinen berühmten Charme mit seinem Autoritätsanspruch verband.
Im Herbst 1567 versuchten die Hugenotten, die sich von der Aufrüstung des Königs bedroht fühlten, Karl IX. in ihre Gewalt zu bringen. Die Entführung missglückte, und die königliche Familie suchte, beschützt von den schweizerischen Söldnern, die die Ängste der Hugenotten verursacht hatten, Zuflucht in Paris. Die Hugenotten belagerten die Stadt. Im November wurden sie vor den Toren von St. Denis geschlagen und mussten sich in die Provinz zurückziehen, wo sie den Kampf bis zum Friedenschluss von Longjumeau im März 1568 fortsetzen.
Der Friedensvertrag war an sich nicht ungünstig für die Hugenotten, nur haperte es wie immer mit der Umsetzung. Katholische Behörden waren über die für die Hugenotten günstigen Bedingungen empört und setzten sie nicht um. Der Protestant La Noue schrieb in seinen Erinnerungen, dass der Krieg zwar viel Unheil bringe, aber dieser elende kleine Friedensvertrag sei viel schlimmer für die Reformierten, die in ihren Häuser umgebracht wurden, ohne dass sie sich zu wehren wagten („ …une guerre est misérable et qu´elle apporte avec soy beaucoup des maux…cette méchante petite paix est beaucoup pire pour ceux de la Réligion, qu´on assassinoit en leur maisons, et ne s´osoyent encores défendre“, d´Aas 2002, 382) Im Laufe des Sommers 1568 versuchten die Gruppierungen noch einmal miteinander zu reden, Karl IX. sandte einen Botschafter nach Béarn, und Jeanne verfasste ein Sendschreiben an den König mit dem Antrag, den Frieden in Guyenne wiederherzustellen.
In der Zwischenzeit fühlten sich der Prinz von Condé und der Admiral Coligny auf ihre Schlösser in Bourgogne zunehmend bedroht. Der Herzog von Alba wollte in den Niederlanden mit Feuer und Schwert den Protestantismus auszurotten, und Flüchtlinge berichteten ihnen von seinem Terror. Am 23. August 1568 flüchteten sie mit ihren Familien und Angehörigen über die Loire nach La Rochelle. Die Überquerung der Loire erinnerte fast an den biblischen Durchzug durchs Schilfmeer: so viele Hugenotten hatten sich angeschlossen, dass der Zug fast wie eine Völkerwanderung aussah, und die Loire hatte in der Augusthitze einen so niedrigen Wasserstand, dass Sandbanken in der Mitte auftauchten. Dementsprechend sangen alle Psalm 114 vom Auszug der Israeliten aus Ägypten, als sie hinüber waren. Die Parallele wurde noch einmal deutlich, als die königlichen Truppen, die sie verfolgten, wegen plötzlich einsetzenden Hochwassers den Fluss nicht überqueren konnten.
In dieser Situation war Jeanne zutiefst gespalten. Bislang hatte sie die Kriege moralisch unterstützt, aber nicht selbst teilgenommen. Falls es zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen sollte, konnte sie immer mit ihren Kindern in der uneinnehmbaren Festung Navarrenx Zuflucht suchen. Sie hatte jedoch ihren Sohn, der als zukünftiger Führer der Hugenotten das Kriegshandwerk lernen sollte, und so musste sie wählen, ob sie in Béarn unter ihrem Volk bleiben oder sich den Hugenotten anschließen sollte: „ich hatte den Krieg im Bauch“ schrieb sie danach („J´eu la guerre en mes entrailles“, Ample declaration). Sie setzte den Baron d´Arros als Statthalter ein, und Anfang September begab sie sich in Eilmarsch nach La Rochelle (Cocula 2004). Dort konnte sie ihren Sohn dem Prinzen von Condé überantworten. Sie schrieb unterwegs eine Reihe Briefe an Karl IX., an Katharina von Medici, an ihren Schwager, den Kardinal von Bourbon und an die Königin Elizabeth von England, um ihren Entschluss zu begründen. Angekommen in La Rochelle schrieb sie eine Erklärung („Ample declaration“) um der Öffentlichkeit zu erklären, warum sie sich der hugenottischen Armee zugesellte.
Die Hugenotten unter ihren Anführer aus der königlichen Familie wollten nicht als Aufrührer dastehen. Sie behaupteten, die erzkatholische Partei sei schuld daran, dass königliche Befehle nicht vollzogen wurden. Die Katholiken mit ihren Verbindungen nach Spanien und Rom seien Landesverräter. Die Politik des Kardinals von Lorraine verdient laut Sutherland (1974) keinen anderer Namen. Wenn Jeanne vom Frieden sprach, meinte sie eine Duldung der Hugenotten in Frankreich. Die Forderungen der Hugenotten waren immer dieselbe: Erlaubnis, Gottesdienste zu feiern, Gerichte mit zur Hälfte hugenottischen Richtern, sichere Zufluchtsstädte – deren Anzahl schwankte in den Verhandlungen – und Zugang zu Ausbildung und Beamtenstellen gleichrangig mit den Katholiken. Die Provinz Languedoc unter dem moderat katholischen Gouverneur Montmorency-Damville war ein friedlicher Ort in den Religionskriegen, weil Damville den Hugenotten solche Rechte einräumte, und die katholische Bevölkerung sich damit abfand.
Im März 1569 fand eine Schlacht bei Jarnac statt. Der Prinz von Condé kämpfte mit, wurde verwundet und nach der Schlacht ermordet. Es gelang Admiral Coligny, die hugenottischen Truppen zusammenzuhalten, aber der Verlust des Prinzen war ein herber Schlag. Heinrich von Navarra war jetzt der ranghöchste Prinz, und zusammen mit seinem Vetter, dem gleichaltrigen Heinrich von Condé, wurde er jetzt Oberbefehlshaber über die Armee der Prinzen. In Wirklichkeit lag die Verantwortung für die Kriegsführung bei dem erfahrenen Admiral, und die beiden Prinzen wurden seine Pagen genannt.
Jeanne blieb in La Rochelle, während Coligny mit den Prinzen im Krieg war, und sie konnte, unterstützt von einem Rat adliger Hugenotten, die „Regierungsgeschäfte“ regeln. Sie schrieb an England und nach Deutschland. Sie unterzeichnete Erlässe, versuchte Geld für das Heer aufzutreiben, pfändete ihren schönsten Schmuck für einen Kriegsdarlehen an Elizabeth von England und ließ ein Kriegsschiff namens „Die Hugenottin“ bauen.
So wie sie immer behauptete, nicht gegen den König, sondern gegen seine schlechten Ratgeber zu kämpfen, so behauptete Karl IX., dass sie in La Rochelle von den Hugenotten gefangen gehalten wurde, und er ließ den Baron Terride mit einer „Befreiungsarmee“ in Béarn einfallen. In kürzester Zeit waren ganz Béarn und Navarra erobert und zum Katholizismus zurückgeführt. Nur der Baron d`Arros hielt im Navarrenx stand. Um ihre Länder zurückzuerobern, sandte Jeanne den Graf von Montgommery mit einer „Hilfsarmee“ nach Navarrenx. In noch kürzerer Zeit als Terride gebraucht hatte, verjagte er ihn aus Béarn. Die Befreiung von Terride wurde in Pau mit einem Festgottesdienst gefeiert, wobei Pierre Viret über Psalm 124, 7: „Unsere Seele ist aus dem Netz des Vogelfängers entkommen“ predigte.
Vom Winter 1569 bis zum Frühjahr 1570 führte Coligny sein Heer mit den Prinzen Heinrich von Navarra und Heinrich von Condé durch ganz Südfrankreich und von Provence nach Norden, bis er Paris bedrohte. Der König hatte kein Geld mehr, um Krieg zu führen, und musste notgedrungen Friedensverhandlungen einleiten. Im August 1570 wurde dann der Frieden von St. Germain geschlossen. Wiederum war Jeanne d´Albret diejenige, die auf Augenhöhe mit dem König verhandeln konnte. Der Vertragstext erklärt immer wieder, dass der König die Bedingungen seiner Tante erfüllen wollte (Sutherland 1980, Potter 1997).
Jeanne blieb vorläufig in La Rochelle. Im April 1571 fand dort die Nationalsynode der reformierten Kirchen Frankreichs statt. Theodor Beza kam aus Genf angereist, um die Synode zu leiten. Pierre Viret wollte teilnehmen, starb aber vorher, vermutlich hatte seine Gesundheit in der Gefangenschaft unter Baron Terride gelitten. Auf der Synode wurde das französische Glaubensbekenntnis von 1559 neu verhandelt und die endgültige Fassung als „Bekenntnis von La Rochelle“ beschlossen. Darüber hinaus wurde eine Kirchenordnung für Béarn beschlossen, und die Synode diskutierte Fragen, die Jeanne d´Albret gestellt hatte. Als Ersatz für Pierre Viret bekam sie Nicolas des Gallars zur Seite gestellt. Er war Calvins Sekretär gewesen, danach hatte er die „Strangers´ Church“, die Kirche für Ausländer in London, als Nachfolger für Johannes à Lasco geleitet und dann an Bezas Seite im Colloquium von Poissy 1561 gestanden. Er war Pastor in Orléans gewesen und wurde jetzt Seelsorger für Jeanne d´Albret und ihr theologischer Ratgeber für die Kirche in ihrem Land.
Er war eine gute Wahl, denn während Beza sehr an dem Konzept von Genf hing und ein presbyteriales Kirchenverständnis (Kingdon 1967) hatte, war des Gallars in England gewesen, als Königin Elizabeth nach dem Tod ihrer katholischen Schwester die anglikanische Kirche einführte. Außerdem behauptet Bernard Roussel (2004), dass er das Buch Martin Bucers „De regno Christi“ von 1550 mitbrachte. Dieses Buch ist dem englischen König Edward VI. gewidmet und beschreibt, wie ein König eine reformierte Kirche leiten kann. Damit hatte des Gallars ein Konzept für eine von einer Fürstin geleitete Kirche, die dann in den Jahren als Heinrich und Katharina von Navarra das Erbe der Mutter verwalteten, Bestand hatte.
Während Jeanne in La Rochelle noch weilte, ereilte sie ein Angebot von Katharina von Medici, ob ihren Sohn Heinrich die Tochter Katharinas heiraten mochte. Hugenotten und Katholiken würden sich versöhnen und die Häuser Valois und Bourbon sich nahekommen. Dieses Angebot war zu verlockend, um es auszuschlagen, aber Jeanne traute Katharina nicht so recht, jedenfalls wollte sie nicht gleich nach Paris ziehen, um über die Ehe zu verhandeln.
Stattdessen fuhr sie nach Pau zurück, führte die neu beschlossene Kirchenordnung ein und kümmerte sich um ihre Länder. Die Tuberkulose machte sich bemerkbar und sie wollte zur Kur in die Bergen fahren. Währenddessen zogen sich die Eheverhandlungen hin, bis Jeanne endlich im Frühjahr 1572 nach Paris zog. In den Briefen an ihren Sohn hört man von den Verhandlungen, von ihrer Missbilligung des höfischen Lebens und von ihrem Ärger mit Katharina. Jeanne wollte so viele Rechte wie möglich für ihren Sohn und die Hugenotten aushandeln. Am Ende musste sie es aufgeben, Margareta von Valois, Margot genannt, zum reformierten Glauben zu bekehren. Dafür hoffte sie aber, dass das Brautpaar nach Béarn ziehen würde. Eine königliche Mischehe war etwas ganz Neues und musste in Detail besprochen und geplant werden. Jeanne handelte das Meistmögliche für ihren Sohn aus und im April 1572 wurde eine Einigung erzielt. Heinrich sollte allerdings noch eine Weile in Béarn bleiben und Jeanne bereitete in Paris die Hochzeit vor.
Die zähen Verhandlungen im Frühjahr hatten viel Kraft gekostet, Jeanne hielt sich aber tapfer. Im Juni brach sie zusammen und starb am 9. Juni an der Tuberkulose, die sie seit Jahren geplagt hatte. Später entstanden Gerüchte, sie sei von Katharina von Medici vergiftet worden. Diese sollte ihr ein Paar Handschuhe, die von ihrem privaten Giftmischer präpariert worden seien, geschenkt haben. Da Katharina nach den Massakern von St. Bartholomäus, die in der Periode von August bis November 1572 stattfanden, von den Hugenotten als der Inbegriff des Bösen dargestellt wurde, gehört der Giftmord an Jeanne d´Albret zu den Verleumdungen.
Heinrich traf erst etwas später in Paris ein. Im Testament Jeannes hatte sie sich gewünscht, in Béarn bei ihrem Vater beerdigt zu werden. Ihr Sohn setzte sich über ihren letzten Willen hinweg: sie wurde nach Vendôme geführt und neben ihrem Mann, Anton von Bourbon, bestattet.
Trotz ihre Fähigkeiten wurde sie eine Fußnote in der Geschichte Frankreichs: ihr Sohn wurde zwar als Heinrich IV. König von Frankreich, aber er wurde katholisch und aus den Hugenotten wurde, dank des Ediktes von Nantes 1598, eine geduldete Minderheit. Die Kirche, die Jeanne in Béarn aufgebaut hatte, wurde unter ihrem Enkelsohn, Ludwig XIII., verboten. 1685 wurde dann das Edikt von Nantes aufgehoben, und die Reformierten wurden grausam verfolgt. Viele flüchteten, viele konvertierten und viele wurden umgebracht. Die großen Hoffnungen, die die Hugenotten um Jahr 1560, als Jeanne konvertierte, hegten, erwiesen sich als trügerisch.
Wenn auch letztlich nicht erfolgreich, war sie dennoch bewundernswert. Mit dem Admiral Coligny zusammen hatte sie den Frieden von St. Germain errungen, dann eine Landeskirche aufgebaut und ihre Kinder gefördert. Sie war die reformierte Präsenz in der königlichen Familie und in ihren letzten Jahren wurde sie die Königin der Hugenotten.
Stammtafeln der Familie von Valois und der Familie von Bourbon (PDF)
Literatur
Quellen:
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Sekundärliteratur:
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Nielsen, Merete: Marie Dentière,
Die Geburt aller rechten Erkenntnis Gottes aus dem Gehorsam
Von Gerard C. den Hertog, Apeldoorn
Gerard C. den Hertog, Die Geburt aller rechten Erkenntnis Gottes aus dem Gehorsam. pdf
Cogitio Dei et hominis
‘In Ihm bewegen wir uns’
Es geht in diesem Beitrag über das Zustandekommen der rechten Gotteserkenntnis. Im Titel klingt der bekannte – oder soll ich sagen: berüchtigte – Satz aus Institutio I,6,2 an:
„Neque enim perfecta solum, vel numeris suis completa fides, sed omnis recta cognitio Dei ab oboedentia nascitur.“[1]
„Denn nicht bloß ein echter und vollkommener Glaube, sondern alle rechte Erkenntnis Gottes entsteht aus dem Gehorsam.“
Wären nur die ersten Worte dieses Satzes uns überliefert, dann hätten wir ihn vielleicht doch noch wohl anders fortgeschrieben. Sicher nach den großen Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts würden wir eher geneigt sein zu notieren: „Alle rechte Erkenntnis Gottes geht hervor aus Gottes Selbstoffenbarung.“
Wenn wir hier plädieren würden für das Wort ,Offenbarung‘, so würden wir meinen, wäre das aber nicht nur eine Korrektur von uns aus, aufgrund der Erfahrungen der Neuzeit. Nein, es wäre bestimmt auch im Geiste der Reformation. Haben Luther und auch Calvin nicht betont, dass all unser natürliches Erkennen von Gott verfinstert ist?! Was liegt dann mehr auf der Hand, als zu sagen: „Alle rechte Erkenntnis Gottes geht hervor aus Gottes Selbstoffenbarung“?!!
Dennoch schreibt Calvin den pauschalen Satz: „Alle rechte Erkenntnis Gottes wird geboren aus dem Gehorsam.“ Vom historischen Gesichtspunkt aus kann man das ein Stückweit erklären. Peter Eicher hat vor dreißig Jahren in seinem Buch ,Offenbarung. Prinzip neuzeitlicher Theologie‘ ausgeführt, dass der Ausdruck ,Offenbarung‘ bis zur Aufklärung kaum benutzt wurde und erst unter dem Druck des Aufkommens eines auf die Vernunft gegründeten Denkens zum Schlüsselterminus wird.[2] Es spielt sicher mit, dass die Spannung oder sogar der Zwiespalt zwischen Offenbarung und Erfahrung, wie wir sie erfahren, den Reformatoren wie ihren Zeitgenossen fremd war. Christian Link hat es so gesagt:
„Der Begriff der Offenbarung, so wie er sich im modernen theologischen Sprachgebrauch durchgesetzt hat, ist ein spätes Produkt der orthodoxen Apologetik. Die Theologie der Reformatoren kommt ohne ihn aus.“[3]
Ich frage aber nicht rein historisch, sondern erstens und vor allem sachlich, inhaltlich. Wie glücklich ist es, zu behaupten, alle rechte Erkenntnis Gottes werde geboren aus dem Gehorsam? Stimmt es, von einer biblischer Perspektive her? In den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts hat es den Streit um die natürliche Theologie gegeben, zwischen Barth und Brunner. Da ging es nicht so sehr um die Frage ob der Gehorsam betont werden sollte, sondern darum, dass – so Brunners Schüler Gloede - die „natürliche Theologie Calvins (...) dies (...) bezeichnet (...): daß es trotz der Sünde so etwas gibt wie eine allgemeine Gotteserkenntnis“.[4] Der natürliche Mensch würde aufgrund des „ihm verbliebenen Imago-Teiles“[5] und auch dank Gottes Manifestation in seinen Werken schon von Hause aus in einem positiven Verhältnis stehen zu dem, was der Geist mittels des Wortes in Menschen wirkt. Mir ist nicht präsent, inwiefern dieses Wort Calvins von der Geburt aller rechten Erkenntnis Gottes aus dem Gehorsam darin eine Rolle gespielt hat. Ich denke daran, dass der Begriff ,Gehorsam‘ damals in Deutschland Konjunktur hatte und in der Formulierung von Barmen I wie auch z.B. im bekannten Wort von Friedrich Gogarten, dem Autor der Streitschrift Wider die Ächtung der Autorität [6], im Hintergrund steht:
„Wenn ein Volk, das so außer Form geraten ist wie das unsere, wieder in Form gebracht werden soll, dann muß es zunächst in Uniform gebracht werden.“ [7]
Wenn Dietrich Bonhoeffer einige Jahre später auch die Bedeutung des Gehorsams betont, so ist das ganz präzise: der Gehorsam des Glaubens, und nicht ein leerer Gehorsam im Bereich des Gesetzes:
„Nur der Glaubende ist gehorsam, und nur der Gehorsame glaubt.“[8]
Dieser Gehorsam hat seinen Ort nicht vor dem Glauben an Jesus Christus, sondern ist entscheidend geprägt durch diesen Glauben. Das ist aber in dem Calvin-Wort wohl anders. Aber wie?
Cogitio Dei et hominis
Der erste Satz der Institutio ist bekannt geworden – und nicht ohne Grund, denn dieser erste Satz regiert das Ganze:
„All unsere Weisheit, sofern sie wirklich den Namen Weisheit verdient und wahr und zuverlässig ist, umfaßt im Grunde eigentlich zweierlei: die Erkenntnis Gottes und unsere Selbsterkenntnis. Diese beiden aber hängen vielfältig zusammen, und darum ist es nun doch nicht so einfach zu sagen, welche denn an erster Stelle steht und die andere aus sich heraus bewirkt.“ [9]
Calvin nimmt eine unverbrüchliche Einheit und eine Verflechtung der Erkenntnis Gottes und unseres Selbst wahr. Frage ist dann gleich, wo man anfängt. Bei Gott? Calvin meint, es sei „nicht so einfach zu sagen, welche denn an erster Stelle steht und die andere aus sich heraus bewirkt.“ 1536 sagte er das noch nicht so, sondern setzte an bei Gott, bei dem was seiner Meinung nach in der damaligen Lage zuerst von Gott zu sagen sei. Dann spricht er auch von „summa sacrae doctrinae“, seit 1539 von „summa sapientiae nostrae“. 1559 problematisiert er gleich: man könnte auch beim Menschen einsetzen, meint er. Oder lesen wir falsch? Stimmt unsere Perspektive? Ich werde darauf zurückkommen.
Die Verflechtung von Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis war ein neuer Akzent, den das sechzehnte Jahrhundert setzte. Neu – im Vergleich mit dem Mittelalter. Im Zuge der Renaissance wurde diese Einsicht des klassischen Altertums neu entdeckt – auch bei Augustin - und ging wie in den Humanismus und die devotio moderna auch in die Reformation hinein.[10] Sein humanistischer Hintergrund geht auch daraus hervor, dass er, wenn er im Buch II auf diesen Zusammenhang von Erkenntnis Gottes und unseres selbst zurück kommt, er auf Xenophon und Cicrero verweist.[11] Calvin ist hier also ein Renaissance-Mensch, wie auch Luther und Zwingli übrigens. Um schnelle Übernahme, Anpassung an den Zeitgeist geht es hier nicht. „[P]er suum exire Deus facit nos in nos ipsos introire“[12] bemerkte Luther schon in seiner 1515er Vorlesung über den Römerbrief und in seiner Auslegung von Psalm 51 sprach er ausdrücklich von cognitio Dei et hominis. Auch bei Zwingli kommt dieser Ausdruck vor. Interessant ist aber, dass eine Abhängigkeit der drei Reformatoren untereinander nicht bewiesen ist und auch wohl unwahrscheinlich ist.[13]
Calvin spricht übrigens nicht von cognitio hominis, sondern von cognitio nostri. Diese Formulierung ist noch etwas zugespitzter, rückt uns näher auf die Haut, wenn auch wir nicht von einer inhaltlich-sachlichen Differenz mit z.B. Luther sprechen sollen. Luther sprach ja auch nicht über theologia crucis, sondern über den theologus crucis – alle Abstraktion ist da ausgeblendet -, und Theologe wird man nach ihm nicht dadurch, dass man liest und sich einige tiefsinnige Gedanken macht, sondern nur so, dass man lebt, oder besser: stirbt und sich verdammen lässt.[14]
Es zeigt sich also ein innerer Zusammenhang zwischen der Erkenntnis Gottes und des Menschen. So wahr Gott der Schöpfer des Himmels und der Erde ist, der Treue hält und die Werke seiner Hände nicht aufgibt, ist der Mensch nicht ohne Gott zu denken – und Gott nicht ohne den Menschen. Deswegen kommt der Mensch bei Calvin nicht an und für sich vor, sondern ist alle echte Menschenkenntnis eingeschlossen in der Gotteserkenntnis, aber auch umgekehrt.[15] Das bringt mit sich, dass es wirklich unsere Erkenntnis sein will, nicht eine auswendig gelernte Theorie. Dennoch wird damit von Calvin nicht Tür und Tor eröffnet für unseren heutigen Hang nach Individualität und Authentizität. Rechte Erkenntnis bringt uns auf die richtige Stelle, am richtigen Ort: coram Deo.
Calvin lebte vor der Aufklärung und vor Schleiermacher. Er kannte die Fragestellung nicht, inwieweit wir von uns aus auf dem Wege der Vernunft zu wahrer Erkenntnis Gottes aufsteigen können, und ob das Gottesbewusstsein enthalten sei in dem Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit. Vor allem aber liegt der Unterschied darin, dass Gott von Calvin nicht als otiosus gedacht wird, als der Uhrmacher, der sein Werk aus den Händen gibt und eine unabhängige Existenz zuerkennt. Oder besser: der Standort Calvins ist nicht der eines kennenden Subjektes, der mit Hilfe der Vernunft untersucht, sich selber aber soweit wie möglich ausblendet, sondern der eines ,ganzen‘ Menschen, dem Gott auf der Haut sitzt. Weil Gott die Welt und uns geschaffen hat und nicht loslässt, darum kann er nicht anders, als unseren Gehorsam in Anspruch zu nehmen, es sei denn, Er höre auf, Gott zu sein.
„Wie sollte denn der Gedanke an Gott anders in deinem Herzen Raum gewinnen, als daß du sogleich bedächtest: Du bist sein Gebild und kraft Rechts der Erschaffung seinem Befehl unterstellt und hörig; dein Leben verdankst du ihm, all dein Tun und Planen soll sich nach ihm ausrichten? Wenn das so ist, dann ergibt sich sofort weiter, daß dein Leben schändlich verdorben ist, wenn es nicht zu seinem Dienste da ist! Denn sein Wille muß das Gesetz unseres Lebens sein.“ [16]
Um Gehorsam dreht es sich nach Calvin in der Bibel, auch schon in der Schöpfungsgeschichte. Aber dieser Gehorsam ist nicht leer, sondern inhaltlich-qualifiziert. Es handelt sich nicht darum, dass der Mensch gehorcht ohne zu räsonieren, sondern darum, dass er Gott traut, Ihm glaubt, und zwar dass Er es gut meint, wenn Er den Menschen verbietet vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen:
„Denn das Verbot, von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu nehmen, war ja eine Prüfung im Gehorsam: Adam sollte durch seine Folgsamkeit beweisen, daß er gern Gottes Befehl sich unterwarf! Der Name (des Baums) selber zeigt doch, daß das Gebot keinen anderen Zweck hatte, als daß der Mensch, mit seiner Lage zufrieden, sich nicht von gottloser Begehrlichkeit zu Höherem emporreißen ließ. Und die Verheißung, die ihn auf das ewige Leben hoffen ließ, solange er vom Baume des Lebens aß, die furchtbare Androhung des Todes wiederum, sobald er etwa von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen äße - beides hatte den Zweck, seinen Glauben zu prüfen.“ [17]
Wenn man hier besorgt einwirft, ob hier unsere Autonomie nicht gefährdet sein könnte, so würde Calvin uns vielleicht die Rückfrage stellen, ob nicht schon unser Insistieren auf die menschliche Autonomie ein Glaubensartikel sei, oder besser: ein Unglaubenartikel. Denn, Gott denken heißt im selben Atemzug auch erwägen: „Ich bin also Geschöpf und daher daraufhin geschaffen, dass ich zu seinem Dienst, zum Dienst seiner Ehre geschaffen bin.“ Die Bestimmung des menschlichen Lebens, so der Genfer Katechismus von 1537, ist die Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes und „aufgrund dieser Erkenntnis ihn über alles zu achten und in aller Furcht, Liebe und Ehrerbietung zu verehren.“ [18] Die „wahre und rechte Erkenntnis Gottes [ist] diejenige, bei welcher ihm die angemessene und geschuldete Ehre erwiesen wird“.[19] Die Ehre Gottes ist ja in der Bibel keine Abstraktion, sondern laut Lukas 2 fällt ihr Gehalt zusammen mit dem Heil des Menschen.
Wie steht es aber de facto um unsere Freiheit in Sinne der Autonomie? Nun, es sind ja - in den Worten Lessings - „nicht alle frei, die ihrer Ketten spotten.“[20] Calvin hat nicht eine Abstraktion ,Mensch‘ in dem Blick, wenn er darauf besteht, der Mensch verpasse sein Glück und verfehle seine Bestimmung. Bei der Auslegung des Ersten Gebots bemerkt er:
„der Herr deutet an, daß sein Volk von der elenden Knechtschaft dazu frei geworden ist, daß es nun seinen Befreier in freudiger Bereitschaft gehorsam verehre.“[21]
„Elende Knechtschaft“ – das werden wir nicht gleich zustimmen. Heute nicht, aber auch im sechzehnten Jahrhundert nicht. Wie versucht Calvin die Menschen seiner Zeit zu gewinnen, zu überzeugen? Dieser Frage wenden wir uns nun zuerst zu.
‘In Ihm bewegen wir uns’
In Buch I der Institutio spielt Apostelgeschichte 17,16-32 eine wichtige Rolle, wo es sich handelt um Gottes Präsenz bei uns Menschen. Es ist auffällig, dass Calvin kaum verweist auf Römer 1,18-32 und 2,12-16 - Bibelstellen die meistens in einem Atem mit Apostelgeschichte 17 genannt werden. Er tut es zwar, aber erst im II. Buch. Gleich in I.1.1, nach dem Eröffnungssatz, in dem er die Korrelation zwischen der Erkenntnis Gottes und unseres Selbst allem Folgenden voranstellt, folgert er:
„Es kann nämlich erstens kein Mensch sich selbst betrachten, ohne sogleich seine Sinne darauf zu richten, Gott anzuschauen, in dem er doch „lebt und webt“ (Apg. 17,28). Denn all die Gaben, die unseren Besitz ausmachen, haben wir ja offenkundig gar nicht von uns selber. Ja, selbst unser Dasein als Menschen besteht doch nur darin, daß wir unser Wesen in dem einigen Gott haben! Und zweitens kommen ja diese Gaben wie Regentropfen vom Himmel zu uns hernieder, und sie leiten uns wie Bächlein zur Quelle hin.“ [22]
Fragen wir, warum Calvin Apostelgeschichte
„Aus diesem Grunde fügt Paulus der Feststellung, daß Gott auch von Blinden zu greifen sei, alsbald hinzu, man brauche ihn nicht in der Ferne zu suchen (Apg. 17,27), weil doch jeder einzelne die himmlische Gnade, von der er lebt, innerlich ohne Zweifel empfindet.“ [24]
Jeder einzelne empfindet also die himmlische Gnade, von der er lebt, ohne Zweifel innerlich. Und einige Zeilen weiter verweist Calvin wiederum auf Apostelgeschichte 17, dann auf das Zitat des heidnischen Dichters Aratus: „Wir sind seines Geschlechts“ (Apg. 17,28). Er folgert dann:
„es wird sich niemand Gott aus freien Stücken und willig in Gehorsam unterwerfen, der nicht seine väterliche Liebe geschmeckt hat und dadurch gereizt wurde, ihn zu lieben und ihm zu dienen.“ [25]
Hier ist wiederum die Rede vom Gehorsam, aber in welchem Zusammenhang! Von wahrem Gehorsam kann erstens nur die Rede sein, wo er aus freien Stücken und willig dargebracht wird. Und er wird - so zweitens - nicht hervorgerufen aus Zwang, sondern aus dem Schmecken von Gottes väterlicher Liebe. Gott sucht uns – und nicht mit Drohungen und Strafen, sondern dadurch, dass Er uns umgibt und bekleidet mit Güte. Drittens wird Gott hier gezeichnet wie ein Liebhaber, der um seine Kreatur wirbt.
„Es bedarf, wie wir sahen, keiner umständlichen Beweisführung, um all die Zeugnisse aufzuzeigen, die Gottes Majestät hell ans Licht bringen. Aus dem wenigen, das wir betrachtet haben, ergab sich ja schon allenthalben, daß sie uns dermaßen klar entgegentreten und in die Augen fallen, daß man sie leicht erblicken, ja mit Fingern auf sie weisen kann. Hier muß nun wieder darauf hingewiesen werden: wir sind zu einem solchen Wissen um Gott berufen, das nicht, mit eitlem Gedankenspiel zufrieden, bloß im Gehirn herumflattert, sondern das bleibend und fruchtbringend sein soll, wo es nur recht von uns aufgenommen wird und Wurzel im Herzen schlägt. Denn Gott offenbart sich in seinen Kräften, und weil wir deren Gewalt an uns verspüren und seine Wohltaten genießen, so werden wir durch solche Erkenntnis notwendig viel tiefer ergriffen, als wenn wir uns einen Gott einbildeten, von dem keine Empfindung zu uns gelangte! So sehen wir, wie man Gott in rechter Weise suchen soll: Nicht sollen wir in vermessener Neugier den zudringlichen Versuch machen, sein ,Sein‘ und ,Wesen‘ zu erforschen, das wir anbeten, nicht aber ergrübeln sollen. Nein, wir sollen ihn in seinen Werken anschauen, in denen er uns nahe kommt, sich uns vertraut macht und gewissermaßen mitteilt. Das hatte der Apostel im Auge, als er sagte, er sei nicht ferne zu suchen, da er doch durch gegenwärtigste Kraft in jeglichem unter uns wohnt (Apg. 17,27).“[26]
Es zeigt sich klar, wieviel Calvin daran lag, dass echte und rechte Gotteserkenntnis im Menschen zustande käme. Denn Gott Erkennen heißt, ihn anerkennen, ihm die Ehre geben, die ihm gebührt. Darin liegt das Heil des Menschen, denn Gott nimmt sein Geschöpf so ernst, dass Er es nicht hinnehmen kann, wenn der Mensch seine Bestimmung verfehlt. Calvin wird mit Recht ein Theologe des Heiligen Geistes genannt, denn Theologie hat nicht damit sein Bewenden, dass wir Richtiges über Gott für wahr halten und behaupten, sondern dass der Mensch gerettet wird. Calvins Traumgespenst war die Lehre der fides implicita oder der Köhlerglaube. Der Glaube will bewusst sein, mir präsent sein, ich darf und soll wissen, an wen ich glaube. So schreibt er in seinem Begleitschreiben an den Leser in der Genfer Gottesdienstordnung von 1542:
„Es ist in der Christenheit erforderlich, ja etwas vom Nötigsten, daß jeder Gläubige die Gemeinschaft mit der Kirche an seinem Ort beachtet und pflegt und die Versammlungen besucht, die am Sonntag und an den anderen Tagen stattfinden, um Gott zu ehren und ihm zu dienen. Und so ist es auch nützlich und vernünftig, daß alle wissen und verstehen, was im Gotteshaus gesagt und getan wird, um daraus Frucht und Erbauung zu gewinnen. Unser Herr hat nämlich die Ordnung, die wir einhalten sollen, wenn wir in seinem Namen zusammenkommen, nicht gegeben, um den Leuten Unterhaltung zum Anschauen und Zuschauen zu bieten; vielmehr hat er gewollt, daß daraus Gewinn für sein ganzes Volk entstehe. (…)
Das ist aber nur möglich, wenn wir unterrichtet sind, damit wir all das verstehen, was zu unserem Nutzen angeordnet ist. Denn zu sagen, wir könnten im Gebet oder im öffentlichen Gottesdienst auch andächtig sein, ohne etwas davon zu verstehen, ist ein schlechter Witz - wie man gemeinhin sagt. Die Zuneigung zu Gott ist keine tote oder stumpfe Sache, sondern eine lebendige Bewegung, ausgehend vom heiligen Geist, und dabei wird das Herz direkt berührt und der Verstand erleuchtet.“[27]
In den letzten Zeilen ist Calvins Definition des Glaubens leicht wiederzuerkennen, laut derer der Glaube ist
„die feste und gewisse Erkenntnis des göttlichen Wohlwollens gegen uns, die sich auf die Wahrheit der in Christus uns dargebotenen Gnadenverheißung stützt und durch den Heiligen Geist unserem Verstand geoffenbart und in unserem Herzen versiegelt wird.“[28]
Kurz davor hatte er schon notiert:
„Die Einsicht des Glaubens hat es nämlich nicht bloß damit zu tun, daß wir anerkennen: Es ist ein Gott; sondern es handelt sich auch, ja vornehmlich darum, daß wir begreifen, wie sein Wille uns gegenüber beschaffen ist. Denn es liegt für uns nicht nur daran, zu wissen, wer er in sich selber ist, sondern wie er sich uns gegenüber verhalten will.“[29]
Die wahre Erkenntnis Christi ist, daß wir ihn annehmen, wie der Vater ihn uns anbietet, nämlich mit seinem Evangelium bekleidet. Hier spricht nun Calvin von der unerlässlichen Bedeutung des Wortes Gottes. Das Wort, wie immer es auch zu uns kommt, ist wie ein Spiegel, in dem der Glaube Gott anschaut. Wir können darum das Wort Gottes in keinerlei Weise entbehren, denn
„das Wort ist das Fundament, auf das der Glaube sich stützt und das ihn trägt; wendet er sich von ihm weg, so bricht er zusammen. Nimm also das Wort weg und kein Glaube wird mehr übrigbleiben!“[30]
Also – letztendlich doch das Wort Gottes, als bleibender Ursprung des Glaubens. Nicht so, dass Calvin seine Ausführungen über die Ungereimtheit und Unverschämtheit, dass wir nämlich von uns aus faktisch Gott nicht erkennen, auf einmal herunterschluckt. Nein, er meint, dass das Wort Glauben schafft, um uns zur rechten Erkenntnis zurück zu führen, unerlässlich ist. Aber Gott erkennen – das ist keine Sache von „Friss Vogel, oder stirb“.[31]
Der Vorwurf, wir stoßen bei Calvin auf einen autoritären Glaubensbegriff, lässt sich verstehen, obwohl er nicht selten einen gewissen Pavlov-Gehalt aufzeigt. Es liegt, sicher in de Niederländischen Situation, auf der Hand, dass in einer Festschrift für den Vorkämpfer des Autonomiegedankens, H. M. Kuitert, Calvin und Barth unter dasselbe Verdikt fallen.[32]
Zum Schluss
1. Ich beziehe mich jetzt auf einen anderen Niederländischen Theologen, den vor einigen Jahren verstorbenen C. Graafland. Promoviert hat er 1961 über das Thema der Glaubensgewissheit bei Calvin und des reformierten Pietismus nach ihm.[33] Zunehmend aber ist er der Überzeugung geworden, die Erwählung sei bei Calvin eine Art Zentraldogma, und was auch immer Calvin über Gottes Einladen und Locken und über Gottes Güte in seinen Werken sagt, das Ganze wird regiert vom Schatten des decretum horribile, in dem Sinne, dass der ganze Aufbau und der Duktus letztendlich doch nur Konstruktion sind, und nicht eine Lebensbewegung, in die wir mitgenommen werden können.
Ich lese Calvin anders. Man wird ihm nicht gerecht, wann man behauptet, bei ihm sei das Leben nur das Abspielen eines vorher schon aufgenommenen Films. Wenn die Erwählung zur Sprache kommt, dann nicht als drohender Schatten, der die Bewegung im Ganzen lahm legt.
Es ist auch hier zutiefst Trost für die Angefochtenen. Denn, wenn wir so dran sind, wie wir sind, wenn alle Bedingungen da sind um Gott zu erkennen und wir tun es nicht - wird dann je Einer durch einen wahren Glauben in die Gemeinschaft mit Christus einverleibt werden? In dem Zusammenhang bringt Calvin die Prädestination ein, als Ermutigung und Trost also, eher nebenbei als das Ganze regierend und lähmend.
Ist diese Sicht auch nicht mehr in Übereinstimmung mit dem Eingangssatz der Institutio?
Wie steht es um Lewis? Für ihn ist Gott der tiefste Grund unserer Existenz und im Gebet suchen wir die göttliche Tiefendimension der menschlichen Existenz.
Früher hat Greven optiert für van Buren und in unserer Kultur hat diese Linie gesiegt. Greven aber würde jetzt die Romantik von Lewis bevorzugen gegenüber der Rationalität eines Van Buren.
Wo stünde Calvin in diesem Zusammenhang? Nein, van Buren wäre ihm völlig fremd, ein Rätsel. Calvin war auch nicht ein Mensch des achtzehnten Jahrhunderts, für den die Natur weitgehend eine Konstruktion war, ein Wunschtraum einer harmonischen Welt, wie wir Morgen in Het Loo sehen werden. Es ist die Zeit, in der für viele Menschen dieses Leben wirklich ein Jammertal war oder – wie das klassische reformierte Taufformular es zum Erschrecken heutiger Menschen wie selbstverständlich formuliert – ein „steter Tod“. Calvin und seine Zeitgenossen lasen im Buch der Natur nicht eine Idylle, der man sich schwärmerisch hingeben kann, sondern vieles Unbegreifliche und Verwirrende. Zwischen den dunklen Wolken leuchtet aber das Licht von Gottes unverdienter Güte.
Calvins ,natürliche Theologie‘ lädt uns ein, nicht zu leben nach dem, was wir denken und empfinden, sondern hält die Wache beim extra nos.
„Lenken wir den Blick nicht über die Erde hinaus, so sind wir mit der eigenen Gerechtigkeit, Weisheit und Tugend reichlich zufrieden und schmeicheln uns mächtig - es fehlte, daß wir uns für Halbgötter hielten! Aber wenn wir einmal anfangen, unsere Gedanken auf Gott emporzurichten, wenn wir bedenken, was er für ein Gott sei, wenn wir die strenge Vollkommenheit seiner Gerechtigkeit, Weisheit und Tugend erwägen, der wir doch gleichförmig sein sollten - so wird uns das, was uns zuvor unter dem trügerischen Gewand der Gerechtigkeit anglänzte, zur fürchterlichsten Ungerechtigkeit; was uns als Weisheit wundersam Eindruck machte, wird grausig als schlimmste Narrheit offenbar, was die Maske der Tugend an sich trug, wird als jämmerlichste Untüchtigkeit erfunden! So wenig kann vor Gottes Reinheit bestehen, was unter uns noch das Vollkommenste zu sein schien.“[34]
Kann man das nicht sehen und würdigen als – gerade nicht eine natürliche Theologie, der nichts Neues einfällt, sondern umgekehrt: daraus hervorgeht, dass Gott nicht eine Gedankenkonstruktion im Leeren ist, sondern der lebendige Gott, der uns sucht? Sollen wir nicht auf seine Hinweise eingehen? Wird nicht alle rechte Erkenntnis Gottes aus dem Gehorsam geboren?
Zitierempfehlung:
Gerard C. den Hertog, Die Geburt aller rechten Erkenntnis Gottes aus dem Gehorsam (August 2008), auf www.reformiert-info.de, URL: http://www.reformiert-info.de/2550-0-0-3.html (Abrufdatum)
[1] J. Calvijn, Institutio Christianae religionis I,6,2.
[2] P. Eicher, Offenbarung. Prinzip neuzeitlicher Theologie, München 1977.
[3] Chr. Link, Die Welt als Gleichnis. Studien zum Problem der natürlichen Theologie, (Beiträge zur evangelischen Theologie Band 73), München 1976, 41.
[4] G. Gloede, Theologia naturalis bei Calvin, Tübinger Studien zur systematischen Theologie Heft 5, Stuttgart 1935, 5.
[5] E. Brunner, Natur und Gnade. Zum Gespräch mit Karl Barth. Zweite, stark erweiterte Auflage, Tübingen 19352, 28.
[6] Jena 1930.
[7] F. Gogarten, Ist Volksgesetz Gottesgesetz?, Hamburg 1934, 17.
[8] D. Bonhoeffer, Nachfolge, herausgegeben von Martin Kuske und Ilse Tödt, DBW Bd. 4, Gütersloh 19921, 52.
[9] J. Calvin, Institutio Christianae religionis (1559) I.1, Opera Selecta II, München 1967, 31.
[10] Vgl. G. Ebeling, ‘Cognitio Dei et hominis’, in: G. Ebeling, Lutherstudien. Band I, Tübingen 1971, 222 (221-272). Vgl. auch C. van der Kooi, Als in een spiegel. God kennen volgens Calvijn en Barth. Een tweeluik, Kampen 2002, 29.
[11]J. Calvin, Institutio Christianae religionis (1559) I.1, Opera Selecta III, München 1967, 228. Vgl. ook O. Bayer, Theologie. Handbuch Systematischer Theologie Bd. 1, Gütersloh 1994, 158-166.
[12] M. Luther, Römerbrief-Vorlesung zu Römer 3,5 (Ficker II, 67 = WA 56, 229).
[13] Vgl. P. Opitz, Calvins theologische Hermeneutik, Neukirchen-Vluyn 1994, 183.
[14] M. Luther, Komm. Ps 5,12 (WA 5, 163, 28).
[15] Vgl. R.H. Reeling Brouwer, ‘Ken uzelf, ken uw zwakte, ken uw vrijheid. Mensenkennis bij Calvijn’, in: Nico T. Bakker, Ranfar Kouwijzer, Ad van Nieuwpoort (u.A.), De verdwijnende mens? Bijdragen over de bijbelse antropologie, Kampen 2002, 97.
[16] J. Calvin, Institutio Christianae religionis, I,2,2.
[17] J. Calvin, Institutio Christianae religionis, II,1,4.
[18] J. Calvin, Genfer Katechismus und Glaubensbekenntnis (1537), in: Eberhard Busch, Alasdair Heron, Christian Link, Peter Opitz, Ernst Saxer, Hans Scholl (Hg.), Calvin-Studienausgabe. Band I,1. Reformatorische Anfänge 1533-1541, Neukirchen-Vluyn 1994, 139.
[19] J. Calvin, Der Genfer Katechismus von 1545, in: Eberhard Busch, Alasdair Heron, Christian Link, Peter Opitz, Ernst Saxer, Hans Scholl (Hg.), Calvin-Studienausgabe. Band 2. Gestalt und Ordnung der Kirche, Neukirchen-Vluyn 1997, 17. Vgl. G. Plasger, Erkenntnis und Ehre Gottes. Überlegungen zum Verhältnis von zwei zentralen Begriffen bei Johannes Calvin, in: J. Marius J. Lange van Ravenswaay / Herman J. Selderhuis (Hg.), Reformierte Spuren, Wuppertal 2004, 105.
[20] G. E. Lessing, Nathan der Weise. Ein dramatisches Gedicht in fünf Aufzügen, Universalbibliothek Nr. 3, Stuttgart 1987, 100 (2755-2758).
[21] J. Calvin, Institutio Christianae religionis, II,8,15.
[22] J. Calvin, Institutio Christianae religionis, I,1,1.
[23] Vgl. G. Plasger, Erkenntnis und Ehre Gottes. Überlegungen zum Verhältnis von zwei zentralen Begriffen bei Johannes Calvin, in: J. Marius J. Lange van Ravenswaay / Herman J. Selderhuis (Hg.), Reformierte Spuren, Wuppertal 2004, 106: „Selbsterkenntnis basiert auf Gotteserkenntnis, aber auch Gotteserkenntnis basiert auf Sündenerkenntnis. Sündenerkenntnis treibt zur Gotteserkenntnis, aber auch: Gotteserkenntnis treibt zur Selbsterkenntnis.“
[24] J. Calvin, Institutio Christianae religionis, I,5,3.
[25] J. Calvin, Institutio Christianae religionis, I,5,2-3.
[26]J. Calvin, Institutio Christianae religionis, I,5,9.
[27] J. Calvin, An den Leser, in: Die Genfer Gottesdienstordnung (1542), in: Eberhard Busch, Alasdair Heron, Christian Link, Peter Opitz, Ernst Saxer, Hans Scholl (Hg.), Calvin-Studienausgabe. Band 2. Gestalt und Ordnung der Kirche, Neukirchen-Vluyn 1997, 151.
[28] J. Calvin, Institutio Christianae religionis, III,2,7.
[29] J. Calvin, Institutio Christianae religionis, III,2,6.
[30] J. Calvin, Institutio Christianae religionis, III,2,6.
[31] Jüngst hat Henk van den Belt dargestellt, für Calvin sei der innerliche Zusammenhang zwischen der selbstüberzeugenden Kraft der Heiligen Schrift und dem testimonium Spiritus sancti kennzeichnend. Die autopistie der Bibel bekommt nur Bedeutung durch das testimonium Spiritus sancti und wird nicht ein rationalistisches Prinzip (Henk van den Belt, The Authority of Scripture in Reformed Theology. Truth and Trust, Studies in Reformed Theology Vol. 17,
[32] J. A. Montsma, ‘Omnis recta cognitio Dei ab oboedentia nascitur? Over de plaats van de gehoorzaamheid in Barths Kirchliche Dogmatik’, in: K. U. Gäbler e.a. (red.), Geloof dat te denken geeft. Opstellen aangeboden aan prof. dr. H. M. Kuitert, Baarn 1989, 140-158.
[33] C. Graafland, De zekerheid van het geloof. Een onderzoek naar de geloofsbeschouwing van enige vertegenwoordigers van reformatie en nadere reformatie, Wageningen 1961.
[34]J. Calvin, Institutio Christianae religionis, I,1,2.
Zitierempfehlung:
Gerard C. den Hertog, Die Geburt aller rechten Erkenntnis Gottes aus dem Gehorsam (August 2008), auf www.reformiert-info.de, URL: http://www.reformiert-info.de/2550-0-0-3.html (Abrufdatum)
©Prof. Dr. Gerard C. den Hertog, Apeldoorn
Gerard C. den Hertog, Die Geburt aller rechten Erkenntnis Gottes aus dem Gehorsam. pdf
Vorlesung, gehalten auf der Reformierten Sommeruniveristät 2008 in Apeldoorn.
Biografie und Theologie des Reformators