Wichtige Marksteine
Reformierte im Spiegel der Zeit
Geschichte des Reformierten Bunds
Geschichte der Gemeinden
Geschichte der Regionen
Geschichte der Kirchen
Biografien A bis Z
(1528–1572)
Jeanne d´Albret (1528–1572) war die bedeutendste Frau in der Geschichte der Hugenotten im 16. Jahrhundert. Besonders in ihrem Witwenstand, in den letzten zehn Jahren ihres Lebens, baute sie eine reformierte Kirche in Béarn auf und war das politische Oberhaupt der Hugenotten im dritten Religionskrieg (1568–1570). Nach 1570 versuchte sie, die Reformierten zu schützen und ihnen einen gesicherten Platz in der Gesellschaft zu verschaffen. Sie handelte für die Hugenotten den Friedensschluss von St. Germain 1570 aus, und durch die Heirat ihres Sohnes Heinrich (später Heinrich IV. von Frankreich) mit Margarete von Valois, Schwester des Königs Karl IX. von Frankreich, strebte sie eine enge Verbindung von Hugenotten und Katholiken an.
Keine andere Frau hatte eine solche Machtposition unter den Hugenotten in Frankreich inne. Sie war respektiert und gefürchtet in Rom und Madrid, alliiert mit Elizabeth von England und befreundet mit Katharina von Medici – keine unkomplizierte Freundschaft zwischen zwei starke Frauen.
Sie sorgte dafür, dass ihre Kinder – Heinrich und Katharina – im reformierten Glauben erzogen wurden. Jahrelang kämpfte Heinrich als Anführer der Hugenotten und von einer Machtbasis in Südfrankreich aus um die französische Krone, bis er 1589 König von Frankreich wurde und schließlich 1593 zum katholischen Glauben übertrat, um das Land zu befrieden.
Jeanne d´Albret war nicht nur Mutter ihres berühmten Sohnes, sie war auch selbst eine machtvolle Frau in Frankreich, da ihre Position als Anführerin der Hugenotten ihr einen Einfluss weit über die Grenzen ihres kleinen Königreiches zusicherte.
Jugend und Ehe (1528-1555)
Jeanne d´Albret wurde am 7. November 1528 auf dem Schloss Blois von Margarete und Heinrich II. von Navarra geboren. Ihre Mutter wusste angeblich, dass sie eine Tochter gebären würde, ihr sehnlichster Wunsch war freilich nach einem Sohn. Jeanne blieb das einzige Kind aus dieser Ehe, Margarete von Navarra gebar zwar kurz danach einen Sohn, der als Kleinkind starb, und alle übrigen Hoffnungen auf Schwangerschaften zerschlugen sich.
Die kleine Prinzessin konnte von ihrem Vater das Königreich Navarra erben, weil dort das salische Gesetz, das in Frankreich weibliche Thronerben verbot, nicht gültig war. Außerdem war das vicomté Béarn selbständig. Deswegen waren die zwei Großmächte Spanien und Frankreich zutiefst an diesen Grenzregionen interessiert. Frankreich wollte seine Südgrenze verteidigen, und Spanien beide Seiten der Pyrenäen besitzen, um in Frankreich einfallen zu können. Zudem war die väterliche Familie von Albret Großgrundbesitzer in Südwestfrankreich und damit Vasall des französischen Königs. Das frühere Aquitanien hatte mehrere hundert Jahre der englischen Krone gehört und war spät von England aufgegeben worden. Im 16. Jahrhundert wurde das Gebiet meistens als Guyenne bezeichnet.
In ihren jungen Jahren wuchs Jeanne in der Normandie auf. Ihre Mutter, Margarete von Navarra, hatte die Aufgabe, die königlichen Kinder ihres Bruders, Franz I., zu erziehen. Sie gab Jeanne in die Obhut ihrer Freundin Aymée de Lafayette, Vogtin von Caen. Man behauptet, sie sei die Vorlage für die Figur Longarine in Heptameron (vgl. Nielsen). Nach meiner Auffassung sind die Erzähler/innen im Heptameron, die sogenannten devisants, eher Typen als historische Persönlichkeiten, die Figur der Longarine ist allerdings eine sehr sympathische Frau mit Humor und Pfiff. Wenn Aymée de Lafayette die Vorlage zu Longarine abgegeben haben soll, deutet alles darauf hin, dass Margarete sie sehr schätzte und meinte, ihre Tochter sei bei ihr gut aufgehoben.
Jeanne wuchs in einem landadligen Milieu auf, umgeben von Wald, Wiesen und Tieren, mit den Mitgliedern der Familie von Aymée de Lafayette als Bezugspersonen, bis sie zehn Jahre alt war. Ihre Mutter sah sie selten, aber jedes Mal, wenn sie krank war, war Margarete sofort zur Stelle. 1538 ließ Franz I. sie nach Plessis-lez-Tours bei der Loire übersiedeln, da sie jetzt ein Alter erreicht hatte, wo sie auf dem Heiratsmarkt von Interesse war. Der König konnte über seine Verwandte entscheiden und Ehen arrangieren, wie es ihm passte.
1540 war es für Jeanne so weit. Herzog Wilhelm der Reiche von Kleve-Jülich-Berg hatte 1538 das Herzogtum Geldern geerbt. Sein Erbanspruch wurde von Kaiser Karl V. angefochten und auf dem Reichstag zu Regensburg wurde dem Kaiser Geldern zugeteilt. 1539 folgte Wilhelm seinem Vater auf dem Thron nach, und um sich vor den Ansprüchen des Kaisers zu schützen, arrangierte er eine Ehe mit Heinrich VIII. von England für seine Schwester Anna, und selbst verbündete er sich mit Franz I. Als Unterpfand für dieses Bündnis sollte er Jeanne d´Albret heiraten.
Was jetzt passierte, ist absolut ungewöhnlich: Jeanne weigerte sich. Die Zwölfjährige ließ ihrem Onkel wissen, dass sie den Herzog nicht heiraten möchte, und sie ließ zwei Schreiben aufsetzen, in welchen sie erklärte, dass sie gegen ihren Willen zu dieser Ehe gezwungen worden sei. Natürlich konnte sie sich nicht auf Dauer gegen den Willen des Königs auflehnen, aber bei der Hochzeitszeremonie am 14. Juni 1541 weigerte sie sich, zum Altar zu schreiten, stattdessen musste sie getragen werden. Ihr Jawort war nicht hörbar und wegen ihres Alters wurde die Ehe nicht vollzogen, der Herzog setzte nur symbolisch ein Bein in ihr Bett. Nach der Hochzeit kehrte er zurück nach Düsseldorf, während Jeanne vorläufig in Frankreich blieb.
1543 griff Kaiser Karl Kleve-Jülich-Berg an, der Herzog wurde geschlagen und musste Geldern Karl V. überlassen. Am Frieden von Venlo im September 1543 hob er das Bündnis mit Franz I. auf und verbündete sich stattdessen mit dem Kaiser. Damit war auch die französische Ehe hinfällig geworden, 1545 wurde sie vom Papst wegen Nichtvollzug annulliert, und der Herzog vermählte sich mit einer Nichte des Kaisers.
Nach kanonischem Recht durfte bei einer Eheschließung keine Zwang im Spiel sei. Die Eheleute mussten ihr Gelübde frei abgeben. Damals konnten junge Frauen aus adligen oder königlichen Familien sich ihre Ehepartner nicht selbst aussuchen, sondern wurden als politische Garanten vermählt, und die meisten fanden sich damit ab, weil das ihr Standesbild entsprach. Jeannes Ablehnung, so wie ihre Kenntnis des kanonischen Rechts, ist erklärungsbedürftig.
Eine mögliche Erklärung ist, dass ihre Eltern für sie eine Ehe mit dem Kronprinzen Philipp von Spanien anstrebten. Königin von Spanien war natürlich prestigeträchtiger als Herzogin von Kleve zu sein, aber vor allem erhoffte sich ihr Vater damit den spanischen Teil von Navarra zurückzugewinnen. 1512 hatten die Spanier Navarra, das Baskenland, bis zu den Pyrenäen erobert und den Albrets nur das winzige Gebiet auf der französischen Seite gelassen. Seitdem überlegten sich die Könige von Navarra, wie sie zu ihrem ganzen Erbe kommen konnten, und eine Ehe zwischen dem Infanten von Spanien und der zukünftigen Königin von Navarra würde genau dies herbeiführen.
Jeanne war möglicherweise auch beeinflusst von einer Erklärung der Ständeversammlung von Béarn, die eine auswärtige Ehe für ihre Kronprinzessin ablehnte.
Sah Jeanne d´Albret ihre Zukunft gefährdet durch eine Ehe mit dem Herzog von Kleve? Oder tat sie, was ihre Eltern wünschten, statt des Königs Willen zu erfüllen? Stammten ihre Kenntnisse des kanonischen Rechts von denen? Margareta von Navarra schrieb ihrem Bruder, sie habe keine Ahnung, was in das Mädchen gefahren sei, aber stimmt das? Hat sie Jeanne mit ihrer Ablehnung der Ehe geholfen aus Liebe (Cholakian & Cholakian), oder aus Ehrgeiz? Es besteht kein Zweifel, dass königliche Kinder damals frühreif waren und in jungen Jahren schon an ihre späteren Aufgaben geführt wurden, trotzdem ist die Zähigkeit und Sturheit des Mädchens erstaunlich.
1547 starb Franz I. und als Jeanne zwanzig Jahre alt war, bot der Nachfolger, Heinrich II. von Frankreich, ihr gleich zwei Heiratskandidaten an: den Herzog Franz von Aumale (der spätere erzkatholische Herzog Franz von Guise) und Anton von Bourbon, Herzog von Vendôme. Der letztere war Erbprinz und vielleicht deshalb für Jeanne die bessere Partie, obwohl er relativ arm war. Er war hochgewachsen – was für einen Bourbon eher selten war – und charmant, wie alle Männer in seiner Familie scheint er ein unverbesserlicher Schürzenjäger gewesen zu sein. Heinrich IV. von Frankreich, der vert galant, hatte seine ausgelebte Sexualität nicht von Fremden, ebenso wenig wie sein militärisches Können und seinen Mut.
Jeanne und Anton von Bourbon heirateten 1548 und sie war überglücklich. Heinrich II. schrieb in einem Brief, dass er selten eine Braut erlebt habe, die immer nur lachte. Diese Ehe war aus Liebe geschlossen, und Anton von Bourbon nahm seine Frau mit, als er in den Krieg zog. Der Kriegsschauplatz war Flandern, und da der Herzog Güter in Nordfrankreich besaß, zog Jeanne in den ersten Jahren ihrer Ehe von Schloss zu Schloss, immer in der Hoffnung, dass sie und Anton von Bourbon sich treffen könnten.
1551 gebar sie ihren ersten Sohn und gab ihn an Aymée de Lafayette, die sie selbst erzogen hatte. Ob nun Frau de Lafayette alt oder übervorsichtig geworden war, der kleine Herzog von Beaumont starb als Kleinkind, angeblich weil er von Wärme erstickt worden sei.
Bald wurde Jeanne wieder schwanger, und während ihr ältester Sohn in Nordfrankreich geboren war, sollte das zweite Kind in Béarn zu Welt kommen. Sie unternahm die lange Reise nach Süden und kam gerade rechtzeitig in Pau an, 14 Tage bevor sie von ihrem zweiten Sohn, Heinrich, auf dem Schloss in Pau entbunden wurde. Es wurde entschieden, dass dieser Junge in Pau bleiben sollte. Der Großvater, Heinrich d´Albret, wollte wahrscheinlich mit diesem kleinen Prinzen die Erbfolge in Béarn und Navarra sichern. Die Legenden von der rauen Erziehung Heinrichs seitens des Großvaters können jedoch nicht wahr sein, allein weil das Kind die ersten Jahre von Ammen betreut wurde, und der Großvater starb, als es zwei Jahre alt war. Es scheint in Béarn Sitte gewesen zu sein, die Lippen des Täuflings mit Rotwein und Knoblauch einzureiben, eine Taufe à la Gascogne, aber die Mär, dass Heinrich barfuß unter den Hirten in den Bergen aufgewachsen sein soll, ist reine Legende. Der spätere Hauslehrer Heinrichs, Palma Cayet, schrieb, als Heinrich schon König von Frankreich war, seine Biographie, und daher stammt der Bericht vom Opa und von seiner rauen Erziehung. Dieser Kindheitsbericht ist eher Propaganda des Königs, wie er gerne gesehen werden möchte.
Tatsächlich kam Heinrich in die Obhut der Familie de Miossens, die auf dem Schloss Coarraze wohnte. Die Frau, Suzanne de Bourbon-Miossens, war eine Cousine von Jeanne. Heinrich wurde demnach genau wie seine Mutter als Landadliger erzogen, und er wuchs in einer Familie mit anderen Söhnen auf, die als Erwachsene seine Gefolgsleute werden sollten. Als seine Mutter den Thron erbte, wurde er schon als Kleinkind als Kronprinz behandelt.
Die zwei Jahre zwischen Heinrichs Geburt 1553 und ihre Thronbesteigung 1555 verbrachte Jeanne wiederum in Nordfrankreich in der Nähe ihres Gatten. In dieser Zeit gebar sie einen dritten Jungen, der jedoch nicht lange lebte. Es muss hinzugefügt werden, dass Anton von Bourbon 1554 einen außerehelichen Sohn, Karl von Bourbon, mit einer Hofdame bekam. Jeanne hatte bereits mehrere Onkel, die illegitim waren, und sie scheint den kleinen Karl in ihrer Familie aufgenommen zu haben. Er wurde später Erzbischof von Rouen.
Erst als der Vater gestorben war, zog sie als Königin nach Pau und obwohl sie die Erbin war, ließ sich ihr Mann als König huldigen, was die Ständeversammlung eigentlich gar nicht wollte, dennoch ordneten sie sich dem Willen Jeannes unter.
Königin an der Seite von Anton von Bourbon (1555–1560)
Ihr Vater hatte Jeanne ein blühendes Land hinterlassen. Er hatte Industrien nach Béarn geholt, das Steuersystem effektiv gestaltet und für den religiösen Frieden gesorgt. Große Einkünfte entstanden auch durch seine Posten als Gouverneur und Admiral der französischen Krone in Guyenne. Anton von Bourbon bekam diese Posten nach seinem verstorbenen Schwiegervater, und später hat sein Sohn, Heinrich von Navarra, sie übernommen. Jeanne und Antoine standen als die größten Grundbesitzer Südwestfrankreichs finanziell sehr gut da.
1555 find Calvin seine missionarische Tätigkeit in Frankreich an. Reformierte gab es in Südwestfrankreich zu diesem Zeitpunkt längst, weil Margareta von Navarra sie mit Predigern unterstützt hatte und Gérard Roussel, einen Reformkatholiken, als Bischof in Orthez, eingesetzt hatte. Dieser Roussel war einmal Weggefährte Calvins gewesen, und dieser warf ihm vor, nicht konsequent genug zu sein, als er die Stelle als katholischer Bischof trotz seiner reformatorischen Sympathien annahm (CStA I,1).
Als Königin hatte Jeanne bei ihrer Krönung versprechen müssen, die katholische Religion zu verteidigen. Am selben Tag, nachdem sie diesen feierlichen Eid abgelegt hatte, schrieb sie an einen Vasallen, dem vicomte von Gourdon, und erzählte ihm, sie wolle über die Förderung des reformierten Glaubens im kleinem Kreis heimlich beraten. Dieser Brief ist Teil eines Briefwechsels mit zwei vicomtes de Gourdon, Vater und Sohn, die die gesamte Regierungszeit Jeannes überdauerte. Die Briefsammlung wurde im vorigen Jahrhundert entdeckt und gibt viele neue Einsichten in die Vorhaben und die Beweggründe Jeannes. Da die entdeckten Briefe uns nur als teilweise fehlerhafte Kopien vorliegen, haben viele Forscher die Briefe als Fälschungen abgetan (Text und Diskussion bei Bryson).
Der erste Brief vom August 1555 teilt uns mit, dass Jeanne schon zu diesem Zeitpunkt reformierte Sympathien deutlich aussprach. Sie schrieb dem vicomte, dass ihre Mutter sich zwischen den zwei Religionen nicht habe entscheiden können, und dass sie selbst aus Furcht vor ihrem Vater bislang nicht gewagt habe, sich offen zum Protestantismus zu bekennen. Das Edikt von Chateaubriant von 1551 verbot eindeutig jede „Ketzerei“ und deshalb schlug sie vor, die Reformierten sollten sich heimlich auf dem Schloss Odos treffen.
Es gibt sonst keine Quellen, die belegen könnten, dass Jeanne mit dem reformierten Glauben in Berührung kam. Es gab in ganz Frankreich zu der Zeit kleine zerstreute Gemeinden, sowie Prediger und Kolporteure, die reformatorische Bücher schmuggelten. Die wiederholten Verbote des Königs konnten das nicht unterbinden, sie führten nur dazu, dass Protestanten, wie Jeanne, sich heimlich treffen mussten.
In den Jahren nach 1555 verbreitete sich der reformierte Glaube mehr und mehr im Hochadel. Auch Anton von Bourbon wurde davon ergriffen, brachte reformierte Prediger nach Béarn und als er und Jeanne 1558 mit Heinrich nach Paris zogen, nahm er an großen psalmensingenden Demonstrationen außerhalb der Stadtmauern von Paris teil. Calvin war darüber hoch erfreut, denn er setzte in seiner Missionsarbeit gerne auf hochrangige Persönlichkeiten. Jeanne dagegen verhielt sich während dieser Zeit bedeckt.
In Paris kam sie mit ihrem vierten Kind, einer Tochter namens Katharina, nieder. Das kleine Mädchen war das einzige Kind, das bei Jeanne aufwachsen durfte, obwohl sie (natürlich) Erzieherinnen und Gouvernanten hatte.
Anton von Bourbon fiel nicht nur mit protestantischen Sympathien auf, sondern wie sein Schwiegervater versuchte er, den spanischen Teil von Navarra zurückzugewinnen. Heinrich d´Albret hatte seinen Besitz gut und gewinnbringend regiert, während Anton von Bourbon seiner Frau die Regierungsgeschäfte überließ, und selbst nur versuchte, ein größeres Königsreich für sich zu gewinnen. So konnte der spanische König Philipp ihm einen Tausch, erst mit dem Herzogtum Milano und später mit Sardinien, anbieten. Damit hätte Spanien den Sprung über die Pyrenäen geschafft und Südfrankreich bedrohen können. Wir würden solches Taktieren mit dem Feind Hochverrat nennen, damals räumte man freilich Adligen große Freiheiten ein, sich einen Herren auszusuchen, aber Anton von Bourbon wurde auch von den Zeitgenossen als unzuverlässig und unverantwortlich angesehen, und nicht zuletzt war er so politisch ungeschickt, dass es an Dummheit grenzte (Sutherland 1984).
Im Sommer 1559 starb Heinrich II. von Frankreich unerwartet. Sein Sohn Franz II. folgte ihm als nur fünfzehnjähriger Knabe auf dem Thron. In dieser Situation war die traditionelle Lösung, dass der erste erwachsene Erbprinz, Anton von Bourbon, ihn unterstützen sollte, und Calvin ermahnte ihn eindringlich, dieses Amt zu übernehmen und dabei den Hugenotten zu helfen. Anton von Bourbon verspielte diese Chance und überließ die Regierungsgeschäfte der Familie von Guise, besonders dem Herzog von Guise und dem Kardinal von Lorraine, die beide die antiketzerische Politik des verstorbenen Königs weiterführen wollten. Nach dem Tod Heinrichs II. bekannten sich mehrere hochrangige Adlige offen zum Protestantismus und es gab im März 1560 sogar einen hugenottischen Komplott, den König zu entführen und von seinen „schlechten Ratgebern“ zu trennen. Anton von Bourbon und sein jüngerer Bruder, der Prinz von Condé, beide notorische Reformierte, wurden wegen diesem Angriff auf den König angeklagt. Anton von Bourbon versprach Besserung, während sein Bruder, der Prinz Ludwig von Condé zum Tode verurteilt wurde. Nur der plötzliche Tod des jungen Königs rettete ihn vor der Hinrichtung. Da der neue König, Karl IX., ein zehnjähriges Kind war, brauchte Frankreich einen Regenten, nämlich den ranghöchsten Erbprinz Anton von Bourbon. Wiederum ergriff dieser nicht die Chance. Katharina von Medici ließ sich stattdessen als Regentin einsetzen und Anton von Bourbon wurde zum Generalstatthalter ernannt. Die Hugenotten mit Calvin an der Spitze waren zutiefst enttäuscht. In diesen Jahren hatte der reformierte Glaube großen Zulauf, es wurde von mehreren Tausend Gottesdienstbesuchern überall in Frankreich berichtet, von Abendmahlgottesdiensten, die zwei Tage dauerten und von Bekehrungen am Hof und im Hochadel.
1560 verließ Jeanne Paris, um zurück nach Pau zu fahren. Theodorus Beza, der engste Mitarbeiter Calvins, besuchte sie dort, und es entwickelte sich eine enge Zusammenarbeit, die bis Jeannes Tod dauerte. Beza versorgte sie mit Predigern und Beratern für ihr Land. Im Dezember 1560 unternahm Jeanne den entscheidenden Schritt und bekehrte sich öffentlich zum reformierten Glauben. Während ihr Gatte nicht in der Lage war, sich an die Spitze der Hugenotten zu setzen, wurde sie jetzt die leitende Hugenottin in Frankreich.
Reformierte Königin (1560–1568)
Jeanne d´Albret war zweifelsohne eine tief religiöse Frau. Lange Zeit hatte sie äußerste Diskretion walten lassen, zwar mit ihrem Gatten reformierte Prediger gehört, aber sich niemals offen zum reformierten Glauben bekannt. Erst nachdem Anton von Bourbon sich mit dem Posten als lieutenant générale abgefunden hatte, kam sie aus der Deckung.
Es war eine Zeit, wo alle große Hoffnungen bzw. Ängste für den Protestantismus in Frankreich hegten. Drei wichtige Katholiken – der Herzog von Guise, der Konstabel von Montmorency und der Marschall St. André – schlossen sich zusammen, um Frankreich gegen die Reformierten zu schützen. Sie planten den Sturz von Anton von Bourbon und einen Angriff auf Genf mit der Hilfe des Herzogs von Savoyen, zu dessen Besitz Genf bis 1534 gehört hatte. Dieses Triumvirat war der erste Vorbote der katholischen Liga, die später Heinrich IV. hartnäckig bekämpfte (Sutherland 1973).
1560 war noch zu erwarten, dass der Protestantismus nach Frankreich gekommen war, um zu bleiben. Jeanne war sich sehr bewusst, welche Gefahren ihr von Spanien, vom Papst und von der mächtigen Familie von Guise drohten. Sie hatte noch die Hoffnung, dass der junge König Karl IX., Katharina von Medici und ihr Kanzler, der tolerante Michel de l´Hôpital, die Reformierten unterstützen würden, zumal die Königinmutter sich selbst von denen von Guise bedrängt fühlte.
Diese letzte Hoffnung erwies sich als trügerisch, aber niemals wich Jeanne später vom einmal eingeschlagenen Kurs ab. Sie konnte weder geldwerte Vorteile noch politisches Kapital aus ihren Glauben schlagen, dafür hielt sie konsequent an ihrer Überzeugung fest.
In Béarn machte sie erste vorsichtige Schritte, um das Land zu reformieren. Es gab schon Reformierte dort, und Prediger hatten angefangen, den neuen Glauben zu verbreiten, Jeanne aber träumte von einem reformierten Land, und fing langsam und vorsichtig an, diesen Traum zu verwirklichen.
Der erste Schritt war, den reformierten Glauben dem Katholizismus rechtlich gleich zu stellen. Die Kirchen wurden für beide Religionen geöffnet (das sogenannte simultaneum) und aus den Kirchen in Lescar und Pau wurden Bilder und Statuen entfernt, allerdings nicht in Form eines Bildersturms, sondern von den Behörden. Jeanne beschlagnahmte das kirchliche Vermögen nicht für sich selbst, sondern investierte es in Sozialfürsorge und Bildung.
Es ist klar, dass sie den reformierten Glauben einführen wollte, aber zu keinem Zeitpunkt vefolgte sie Andersgläubige, geschweige denn verbrannte sie. Immer setzte sie auf Überredung.
Im August 1561 begab sie sich wieder zum Hof. Überall wurde sie stürmisch von Hugenotten begrüßt, als ob sie „der Messias sei“, bemerkte verärgert der spanische Gesandte. Katharina von Medici hatte zu einem Religionsgespräch eingeladen. Dieses Gespräch fand in Poissy außerhalb Paris statt. Seitens der Krone war gewiss an eine Versöhnung oder gar einen Ausgleich zwischen den Religionen gedacht, die reformierten Teilnehmer mit Beza an der Spitze mochten jedoch keine Kompromisse eingehen. Beza wurde unterstützt von Calvin in Genf, der selbst zu krank war, um mitzukommen. Calvin war mit den Auftritten und Reden Bezas zufrieden, während z.B. der Admiral Coligny Beza als reichlich provokant wahrnahm.
Im Herbst 1562 blieb Jeanne mit ihren Kindern beim Hofe. Katharina von Medici suchte auch nach den Religionsgesprächen eine Übereinkunft mit den Protestanten, was in dem Edikt vom 17. Januar 1562 – auch Edikt von St. Germain genannt – gipfelte. Dieses Edikt, an dem der Kanzler Michel de l´Hôpital und Beza beteiligt waren, erlaubte es den Hugenotten, außerhalb der Städte Gottesdienste zu halten. Es war das günstigste Edikt, das sie jemals erlangen sollten, das Edikt von Nantes 1598 war ihm sehr ähnlich, aber nicht ganz so großzügig. Der Unterschied war, dass Heinrich IV. dafür sorgte, dass das Edikt von Nantes durchgeführt wurde, während alle frühere Edikte, so wohlgemeint sie auf dem Papier auch waren, von katholischen Behörden unterlaufen wurden, und der König zu schwach war, um für ihre Durchführung zu sorgen.
Im März 1562 massakrierte der Herzog von Guise eine reformierte Gemeinde, die innerhalb des Städtchens Wassy Gottesdienst feierte. Damit war die Versöhnungspolitik Katharinas von Medici gescheitert. Die Hugenotten unter dem Prinzen von Condé griffen zu den Waffen und Anton von Bourbon bat Jeanne den Hof zu verlassen. Er behielt seinen Sohn Heinrich bei sich, entließ aber dessen hugenottischen Hauslehrer. Jeanne beschwor ihren Sohn, nicht zur Messe zu gehen, und der junge Prinz hielt sich wohl auch ein paar Wochen daran, musste sich aber schließlich fügen. Nach ihrem Fortgang vom Hofe trat Jeanne eine monatelange abenteuerliche Reise durch Frankreich an, so gefährlich, dass die ersten Briefen von der Hand Heinrichs seine Ängste um seine Mutter bezeugen. Ihre kleine Tochter Katharina durfte sie behalten.
Im ersten Religionskrieg führte Anton von Bourbon die königlichen katholischen Truppen gegen die Hugenotten. Bei der Belagerung von Rouen wurde er verwundet und starb am 17. November. Der junge Heinrich blieb am Hofe in der Obhut Katharinas von Medici, die allerdings Jeanne gestattete, ihm wieder reformierte Hauslehrer zu geben. Sie sollte ihn erst 1564 wiedersehen.
Die Kirche in Béarn und Navarra
Ihre große Aufgabe sah Jeanne darin, die Reformation in Béarn durchzuführen.
Calvin stellte ihr Jean Raymond Merlin zur Seite, den früheren Professor für Hebräisch in Lausanne, wo er Kollege von Beza, dem Professor für Griechisch, und von Pierre Viret, dem Rektor der Akademie, gewesen war. Pierre Viret arbeitete nach seiner Zeit in Lausanne und Genf vor allem in Frankreich, besonders in den Kirchen von Lyons und Nîmes. Später sollte er für Jeanne d´Albret ihre Akademie in Orthez aufbauen. Merlin war übrigens mit einer Tochter von Marie Dentière verheiratet, derjenigen, die vor Jahren Jeanne eine selbstgeschriebene hebräische Grammatik zugesandt hatte (vgl. Graesslé13f.; Nielsen).
Merlin ging voll Eifer an die Aufgabe, eine reformierte Kirche in Béarn aufzubauen. Es gab viele Reformierte in Südfrankreich, aber meistens unter städtischen Eliten und Handwerkern. Die Reformierten waren meistens des Lesens fähig, vor allem des Lesen französischer Texte. In Südwestfrankreich sprach die Bevölkerung die langue d´oc, die alte oczitanische Sprache, in irgendeiner Form. Die Gascogne hatte ihre Sprache, in der ein Neues Testament und fünfzig Psalmen übersetzt wurden, und Béarn hatte béarnais sogar als Amtssprache. Hinzu kam, dass die Bevölkerung in Navarra Baskisch sprach. Wenn Merlin das ganze Land reformieren sollte, musste er diese Sprachbarrieren überwinden, denn die Landbevölkerung musste erreicht und für die Reformation gewonnen werden.
Jeanne d´Albret beauftragte eine Übersetzung des Neuen Testaments ins Baskische, und eine Übertragung der Psalmen, der Zehn Gebote, der Liturgie und des Katechismus Calvins in die Sprache Béarns. Der Anwalt, später Pastor, Arnaud de la Salette, stellte 1571 diese Übersetzung fertig, und obwohl sie erst 1583 gedruckt wurde, darf man annehmen, dass in der Zwischenzeit Manuskriptkopien verwendet wurden. Pastoren, die die béarnesische oder die baskische Sprache beherrschten, wurde händeringend gesucht, und von den Anderen wurde ausdrücklich verlangt, dass sie es lernen sollten. Katecheten, die vermutlich Landeskinder waren, wurden in die Gemeinden geschickt.
Allmählich verbot Jeanne katholische Riten und Gebräuche, zuerst die Fronleichnamsprozessionen, danach Maibäume und Jahrmärkte. Dann wurde die Messe abgeschafft. Der Dom von Lescar und die Kirche St. Martin in Pau wurden leergeräumt, und die dort befindlichen Schätze verkauft.
Für Merlin konnte dies nicht schnell genug gehen. In seinen Briefen an Calvin klagte er seine Not: die Bevölkerung sei stur – diese Holzköpfe! - und die Königin zu langsam und vorsichtig (CO 20, Nr. 3988 & Nr. 4061). Merlin hatte übrigens auch früher in Montargis Probleme mit Renée de France gehabt, Herzogin von Ferrara, die in ihrem Gebiet so vorsichtig war wie Jeanne in Béarn (vgl. Lambin, 2). Jeanne bekam Klagen auf der jährlichen Ständeversammlung, wo die Katholiken über den Verlust alter Freiheiten und Rechte klagten. In den sechziger Jahren musste sie mehrmals Aufstände niederschlagen.
Der Nachfolger für Merlin war Pierre Viret, der enge Freund Calvins. Er war Pastor und Rektor für die Akademie in Lausanne – mit Beza und Merlin als Kollegen – gewesen. Wegen eines Streits mit dem Stadtrat in Bern, übersiedelten 1559 alle Professoren nach Genf, um dort in der neu errichteten Akademie zu unterrichten. Von Genf begab Viret sich nach Frankreich, wo er in Lyon als Pastor arbeitete, danach leitete er die Nationalsynode in Nîmes und schließlich folgte er dem Ruf nach Béarn. Seine wesentlichste Aufgabe war es, die Akademie in Orthez aufzubauen. Die Fächer Theologie, Hebräisch, Griechisch, Philosophie und Mathematik wurden dort unterrichtet, während es keine Anzeigen für Professuren in Jura und Medizin gibt.
Vor ihrer akademischen Laufbahn absolvierten die Jungen eine fünfjährigen Ausbildung in einer Lateinschule (collège), während die Grundschule sowohl Jungen wie Mädchen unterrichtete, die Mädchen allerdings getrennt mit weiblichen Lehrkräften. Damit wurde das kleine Béarn das erste Land Europas, welches kostenlosen Unterricht für Mädchen zusicherte, und zwar mit der interessanten Begründung, dass sie so im Stande waren, ihr Brot zu verdienen und sich der Gesellschaft nützlich zu machen („Pareil rolle sera aussy faict des filles qui sont en bas aage et qui n´ont nul moyen de vivre et de s´entretenir, par toutes les églises, afin que de mesmes deniers et en écolle séparée elles soient enseignées, nourries et tenues par des femmes sages et pudiques, par leur industrie pouvoir aprés se nourrir et entretenir et servir au public“. Art. 32 der Verfassung der Akademie von 1566, zitiert nach Desplat 2004). Desplat unterstreicht die säkulare Ausrichtung der Ausbildung. Allgemein wird behauptet, der Zweck des Unterrichts in protestantischen Ländern sei, die Bevölkerung des Lesens der Bibel und des Katechismus zu befähigen. Hier werden nur die Vorteile eines Schulunterrichts für die Gesellschaft betont.
Die Akademie wurde 1566 geöffnet. Die ersten protestantischen Akademiegründungen in Frankreich fanden in Nîmes (1562) und Montpellier statt. Vorrangiges Ziel war es, die Kirchen mit Pastoren zu versorgen, da die Akademie in Genf die steigende Nachfrage der Gemeinden kaum nachkommen konnte. Da Papst Pius V. die katholischen Universitäten angewiesen hatte, Protestanten die Abschlüsse zu verweigern (Maag 2002, 140), brauchten junge Hugenotten ihre eigenen Universitäten, die dann auch gegründet wurden, vor allem in Leiden und Heidelberg, aber auch in Frankreich und benachbarten Gebieten wie Béarn, Orange und Sedan, die alle zu diesem Zeitpunkt unabhängig waren.
Jeanne hatte sehr gute Gründe, langsam und überlegt vorzugehen. Der Kardinal von Armagnac ließ sie wissen, dass sie die Bevölkerung Béarns in Ruhe lassen sollte, ihre Untertanen wollten ihren Katholizismus nicht aufgeben. Jeanne antwortete, dass sie in Béarn nur Gott über sich habe, dort könne sie ihrem Gewissen folgen, und in ihrem Land werde niemand wegen seines Glaubens verfolgt. Das letzte war ihr ein Anliegen, denn 1571 schrieb sie an ihren Statthalter, den Baron d´Arros, dass in ihrem Land niemand zum Glauben je gezwungen worden war und es auch nicht werden sollte („...intention n´a point esté et n´est encores qu´ilz soyent contraints par force et violence de se reanger à ladite Religion“, d´Aas 2002, 452).
Als sie sich bei der Einführung der Reformation in ihren Ländern unnachgiebig zeigte, zitierte der Papst sie nach Rom zwecks eines Ketzerprozesses. Da sie dieser Einladung nicht folgte, exkommunizierte er sie. Der Bann war eine ernste Bedrohung, da jeder katholische Herrscher jetzt das Recht hatte, ihre Länder an sich zu reißen und sie abzusetzen, eine Chance, die Philipp II. von Spanien sich nicht entgehen lassen würde. Katharina von Medici verteidigte deshalb Jeanne, weil sie keine spanische Präsenz auf der französischen Seite der Pyrenäen dulden wollte. Außerdem war sie eine Verfechterin der gallikanischen Freiheit der französischen Kirche und meinte deshalb, der Papst solle sich nicht in die Angelegenheiten der Kirche einmischen.
Königin der Hugenotten
Nach dem ersten Religionskrieg (1562-63) ließ Katharina von Medici den jungen Karl IX. mündig erklären und führte ihn mit dem Hof auf eine große Frankreichreise, die mehrere Jahre dauerte. Der Zweck dieser Reise war es, den König dem Volk zu zeigen, und damit die Loyalität der Bevölkerung zu erhalten. Jeanne wurde als Vasallin einberufen und stieß Ende Mai 1564 zum Zug in Macon.
Ihr Sohn Heinrich nahm auch Teil an diese Reise und seinetwegen stritten die zwei Königinnen sich, weil Jeanne ihn bei ihren protestantischen Gottesdiensten dabei haben wollte, und Katharina wünschte, dass er mit der königlichen Familie zur Messe gehe. Schließlich sandte Karl IX. Jeanne zu ihrem Besitz in Vendôme, während Heinrich als Gouverneur von Guyenne den Zug begleitete und in den Städten für den feierlichen Empfang des Königs sorgte.
Jeanne durfte nicht mit nach Bayonne, wo Katharina ihrer Tochter Elizabeth, Königin von Spanien, begegnen wollte. Philipp II. sandte als seinen Gesandten den Herzog von Alba, der auf dem Weg in die Niederlande war. Die Hugenotten waren später überzeugt, dass Alba und die Königinmutter in Bayonne ihre Ausrottung geplant hatten. Sicher ist, dass Alba in den Niederlanden mit aller Härte gegen die Protestanten vorging, und es ist durchaus möglich, dass er versuchte, Katharina auf seinen mörderischen Kurs einzustimmen. Schon 1568 – also vor der Bartholomäusnacht! – schrieb Jeanne, dass die Waffen, die gegen die Hugenotten verwendet werden sollten, in Bayonne geschmiedet worden seien (Ample déclaration).
Jeanne und Heinrich trafen sich später in Paris. 1566 ersuchte sie erneut um Erlaubnis, mit ihren beiden Kindern nach Béarn zu fahren, was ausgeschlagen wurde. Sie erhielt aber Erlaubnis, ihren Sohn in seinen französischen Ländereien herumzuführen, und Anfang 1567 reiste sie dann mit ihm nach Vendôme, und von dort setzte sie sich unerlaubt ab nach Béarn. Damit machte sie laut des Biographen Heinrichs, Pierre Babelon, aus einem französischen Prinzen einen Ausländer, und vor allem einen Hugenotten.
Von 1567 an arbeitete Jeanne für die Zukunft ihres Sohnes. Ihre Lebensaufgabe, schrieb sie selbst, sei: Gott, Königtum und ihr Blut. Mit Gott war die reformierte Religion, die wahre Kirche Gottes, gemeint. Mit dem König ihr Status als Vasallin und – trotz Béarn – als Französin, und mit dem „Blut“, die Familie, zuallererst ihr Sohn Heinrich. Er sollte von jetzt an kein Höfling mehr sein, sondern die Aufgaben eines Regenten lernen. Als ein Aufstand in Navarra niedergeschlagen worden war, wurde er dorthin geschickt, um die Basken zu befrieden. Als 14jähriger hielt er für seine Untertanen eine Rede, in welcher er ihr Fehlverhalten geißelte, ihnen die Gunst der Königin zusicherte, falls sie sich verbessern würden, und seinen berühmten Charme mit seinem Autoritätsanspruch verband.
Im Herbst 1567 versuchten die Hugenotten, die sich von der Aufrüstung des Königs bedroht fühlten, Karl IX. in ihre Gewalt zu bringen. Die Entführung missglückte, und die königliche Familie suchte, beschützt von den schweizerischen Söldnern, die die Ängste der Hugenotten verursacht hatten, Zuflucht in Paris. Die Hugenotten belagerten die Stadt. Im November wurden sie vor den Toren von St. Denis geschlagen und mussten sich in die Provinz zurückziehen, wo sie den Kampf bis zum Friedenschluss von Longjumeau im März 1568 fortsetzen.
Der Friedensvertrag war an sich nicht ungünstig für die Hugenotten, nur haperte es wie immer mit der Umsetzung. Katholische Behörden waren über die für die Hugenotten günstigen Bedingungen empört und setzten sie nicht um. Der Protestant La Noue schrieb in seinen Erinnerungen, dass der Krieg zwar viel Unheil bringe, aber dieser elende kleine Friedensvertrag sei viel schlimmer für die Reformierten, die in ihren Häuser umgebracht wurden, ohne dass sie sich zu wehren wagten („ …une guerre est misérable et qu´elle apporte avec soy beaucoup des maux…cette méchante petite paix est beaucoup pire pour ceux de la Réligion, qu´on assassinoit en leur maisons, et ne s´osoyent encores défendre“, d´Aas 2002, 382) Im Laufe des Sommers 1568 versuchten die Gruppierungen noch einmal miteinander zu reden, Karl IX. sandte einen Botschafter nach Béarn, und Jeanne verfasste ein Sendschreiben an den König mit dem Antrag, den Frieden in Guyenne wiederherzustellen.
In der Zwischenzeit fühlten sich der Prinz von Condé und der Admiral Coligny auf ihre Schlösser in Bourgogne zunehmend bedroht. Der Herzog von Alba wollte in den Niederlanden mit Feuer und Schwert den Protestantismus auszurotten, und Flüchtlinge berichteten ihnen von seinem Terror. Am 23. August 1568 flüchteten sie mit ihren Familien und Angehörigen über die Loire nach La Rochelle. Die Überquerung der Loire erinnerte fast an den biblischen Durchzug durchs Schilfmeer: so viele Hugenotten hatten sich angeschlossen, dass der Zug fast wie eine Völkerwanderung aussah, und die Loire hatte in der Augusthitze einen so niedrigen Wasserstand, dass Sandbanken in der Mitte auftauchten. Dementsprechend sangen alle Psalm 114 vom Auszug der Israeliten aus Ägypten, als sie hinüber waren. Die Parallele wurde noch einmal deutlich, als die königlichen Truppen, die sie verfolgten, wegen plötzlich einsetzenden Hochwassers den Fluss nicht überqueren konnten.
In dieser Situation war Jeanne zutiefst gespalten. Bislang hatte sie die Kriege moralisch unterstützt, aber nicht selbst teilgenommen. Falls es zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen sollte, konnte sie immer mit ihren Kindern in der uneinnehmbaren Festung Navarrenx Zuflucht suchen. Sie hatte jedoch ihren Sohn, der als zukünftiger Führer der Hugenotten das Kriegshandwerk lernen sollte, und so musste sie wählen, ob sie in Béarn unter ihrem Volk bleiben oder sich den Hugenotten anschließen sollte: „ich hatte den Krieg im Bauch“ schrieb sie danach („J´eu la guerre en mes entrailles“, Ample declaration). Sie setzte den Baron d´Arros als Statthalter ein, und Anfang September begab sie sich in Eilmarsch nach La Rochelle (Cocula 2004). Dort konnte sie ihren Sohn dem Prinzen von Condé überantworten. Sie schrieb unterwegs eine Reihe Briefe an Karl IX., an Katharina von Medici, an ihren Schwager, den Kardinal von Bourbon und an die Königin Elizabeth von England, um ihren Entschluss zu begründen. Angekommen in La Rochelle schrieb sie eine Erklärung („Ample declaration“) um der Öffentlichkeit zu erklären, warum sie sich der hugenottischen Armee zugesellte.
Die Hugenotten unter ihren Anführer aus der königlichen Familie wollten nicht als Aufrührer dastehen. Sie behaupteten, die erzkatholische Partei sei schuld daran, dass königliche Befehle nicht vollzogen wurden. Die Katholiken mit ihren Verbindungen nach Spanien und Rom seien Landesverräter. Die Politik des Kardinals von Lorraine verdient laut Sutherland (1974) keinen anderer Namen. Wenn Jeanne vom Frieden sprach, meinte sie eine Duldung der Hugenotten in Frankreich. Die Forderungen der Hugenotten waren immer dieselbe: Erlaubnis, Gottesdienste zu feiern, Gerichte mit zur Hälfte hugenottischen Richtern, sichere Zufluchtsstädte – deren Anzahl schwankte in den Verhandlungen – und Zugang zu Ausbildung und Beamtenstellen gleichrangig mit den Katholiken. Die Provinz Languedoc unter dem moderat katholischen Gouverneur Montmorency-Damville war ein friedlicher Ort in den Religionskriegen, weil Damville den Hugenotten solche Rechte einräumte, und die katholische Bevölkerung sich damit abfand.
Im März 1569 fand eine Schlacht bei Jarnac statt. Der Prinz von Condé kämpfte mit, wurde verwundet und nach der Schlacht ermordet. Es gelang Admiral Coligny, die hugenottischen Truppen zusammenzuhalten, aber der Verlust des Prinzen war ein herber Schlag. Heinrich von Navarra war jetzt der ranghöchste Prinz, und zusammen mit seinem Vetter, dem gleichaltrigen Heinrich von Condé, wurde er jetzt Oberbefehlshaber über die Armee der Prinzen. In Wirklichkeit lag die Verantwortung für die Kriegsführung bei dem erfahrenen Admiral, und die beiden Prinzen wurden seine Pagen genannt.
Jeanne blieb in La Rochelle, während Coligny mit den Prinzen im Krieg war, und sie konnte, unterstützt von einem Rat adliger Hugenotten, die „Regierungsgeschäfte“ regeln. Sie schrieb an England und nach Deutschland. Sie unterzeichnete Erlässe, versuchte Geld für das Heer aufzutreiben, pfändete ihren schönsten Schmuck für einen Kriegsdarlehen an Elizabeth von England und ließ ein Kriegsschiff namens „Die Hugenottin“ bauen.
So wie sie immer behauptete, nicht gegen den König, sondern gegen seine schlechten Ratgeber zu kämpfen, so behauptete Karl IX., dass sie in La Rochelle von den Hugenotten gefangen gehalten wurde, und er ließ den Baron Terride mit einer „Befreiungsarmee“ in Béarn einfallen. In kürzester Zeit waren ganz Béarn und Navarra erobert und zum Katholizismus zurückgeführt. Nur der Baron d`Arros hielt im Navarrenx stand. Um ihre Länder zurückzuerobern, sandte Jeanne den Graf von Montgommery mit einer „Hilfsarmee“ nach Navarrenx. In noch kürzerer Zeit als Terride gebraucht hatte, verjagte er ihn aus Béarn. Die Befreiung von Terride wurde in Pau mit einem Festgottesdienst gefeiert, wobei Pierre Viret über Psalm 124, 7: „Unsere Seele ist aus dem Netz des Vogelfängers entkommen“ predigte.
Vom Winter 1569 bis zum Frühjahr 1570 führte Coligny sein Heer mit den Prinzen Heinrich von Navarra und Heinrich von Condé durch ganz Südfrankreich und von Provence nach Norden, bis er Paris bedrohte. Der König hatte kein Geld mehr, um Krieg zu führen, und musste notgedrungen Friedensverhandlungen einleiten. Im August 1570 wurde dann der Frieden von St. Germain geschlossen. Wiederum war Jeanne d´Albret diejenige, die auf Augenhöhe mit dem König verhandeln konnte. Der Vertragstext erklärt immer wieder, dass der König die Bedingungen seiner Tante erfüllen wollte (Sutherland 1980, Potter 1997).
Jeanne blieb vorläufig in La Rochelle. Im April 1571 fand dort die Nationalsynode der reformierten Kirchen Frankreichs statt. Theodor Beza kam aus Genf angereist, um die Synode zu leiten. Pierre Viret wollte teilnehmen, starb aber vorher, vermutlich hatte seine Gesundheit in der Gefangenschaft unter Baron Terride gelitten. Auf der Synode wurde das französische Glaubensbekenntnis von 1559 neu verhandelt und die endgültige Fassung als „Bekenntnis von La Rochelle“ beschlossen. Darüber hinaus wurde eine Kirchenordnung für Béarn beschlossen, und die Synode diskutierte Fragen, die Jeanne d´Albret gestellt hatte. Als Ersatz für Pierre Viret bekam sie Nicolas des Gallars zur Seite gestellt. Er war Calvins Sekretär gewesen, danach hatte er die „Strangers´ Church“, die Kirche für Ausländer in London, als Nachfolger für Johannes à Lasco geleitet und dann an Bezas Seite im Colloquium von Poissy 1561 gestanden. Er war Pastor in Orléans gewesen und wurde jetzt Seelsorger für Jeanne d´Albret und ihr theologischer Ratgeber für die Kirche in ihrem Land.
Er war eine gute Wahl, denn während Beza sehr an dem Konzept von Genf hing und ein presbyteriales Kirchenverständnis (Kingdon 1967) hatte, war des Gallars in England gewesen, als Königin Elizabeth nach dem Tod ihrer katholischen Schwester die anglikanische Kirche einführte. Außerdem behauptet Bernard Roussel (2004), dass er das Buch Martin Bucers „De regno Christi“ von 1550 mitbrachte. Dieses Buch ist dem englischen König Edward VI. gewidmet und beschreibt, wie ein König eine reformierte Kirche leiten kann. Damit hatte des Gallars ein Konzept für eine von einer Fürstin geleitete Kirche, die dann in den Jahren als Heinrich und Katharina von Navarra das Erbe der Mutter verwalteten, Bestand hatte.
Während Jeanne in La Rochelle noch weilte, ereilte sie ein Angebot von Katharina von Medici, ob ihren Sohn Heinrich die Tochter Katharinas heiraten mochte. Hugenotten und Katholiken würden sich versöhnen und die Häuser Valois und Bourbon sich nahekommen. Dieses Angebot war zu verlockend, um es auszuschlagen, aber Jeanne traute Katharina nicht so recht, jedenfalls wollte sie nicht gleich nach Paris ziehen, um über die Ehe zu verhandeln.
Stattdessen fuhr sie nach Pau zurück, führte die neu beschlossene Kirchenordnung ein und kümmerte sich um ihre Länder. Die Tuberkulose machte sich bemerkbar und sie wollte zur Kur in die Bergen fahren. Währenddessen zogen sich die Eheverhandlungen hin, bis Jeanne endlich im Frühjahr 1572 nach Paris zog. In den Briefen an ihren Sohn hört man von den Verhandlungen, von ihrer Missbilligung des höfischen Lebens und von ihrem Ärger mit Katharina. Jeanne wollte so viele Rechte wie möglich für ihren Sohn und die Hugenotten aushandeln. Am Ende musste sie es aufgeben, Margareta von Valois, Margot genannt, zum reformierten Glauben zu bekehren. Dafür hoffte sie aber, dass das Brautpaar nach Béarn ziehen würde. Eine königliche Mischehe war etwas ganz Neues und musste in Detail besprochen und geplant werden. Jeanne handelte das Meistmögliche für ihren Sohn aus und im April 1572 wurde eine Einigung erzielt. Heinrich sollte allerdings noch eine Weile in Béarn bleiben und Jeanne bereitete in Paris die Hochzeit vor.
Die zähen Verhandlungen im Frühjahr hatten viel Kraft gekostet, Jeanne hielt sich aber tapfer. Im Juni brach sie zusammen und starb am 9. Juni an der Tuberkulose, die sie seit Jahren geplagt hatte. Später entstanden Gerüchte, sie sei von Katharina von Medici vergiftet worden. Diese sollte ihr ein Paar Handschuhe, die von ihrem privaten Giftmischer präpariert worden seien, geschenkt haben. Da Katharina nach den Massakern von St. Bartholomäus, die in der Periode von August bis November 1572 stattfanden, von den Hugenotten als der Inbegriff des Bösen dargestellt wurde, gehört der Giftmord an Jeanne d´Albret zu den Verleumdungen.
Heinrich traf erst etwas später in Paris ein. Im Testament Jeannes hatte sie sich gewünscht, in Béarn bei ihrem Vater beerdigt zu werden. Ihr Sohn setzte sich über ihren letzten Willen hinweg: sie wurde nach Vendôme geführt und neben ihrem Mann, Anton von Bourbon, bestattet.
Trotz ihre Fähigkeiten wurde sie eine Fußnote in der Geschichte Frankreichs: ihr Sohn wurde zwar als Heinrich IV. König von Frankreich, aber er wurde katholisch und aus den Hugenotten wurde, dank des Ediktes von Nantes 1598, eine geduldete Minderheit. Die Kirche, die Jeanne in Béarn aufgebaut hatte, wurde unter ihrem Enkelsohn, Ludwig XIII., verboten. 1685 wurde dann das Edikt von Nantes aufgehoben, und die Reformierten wurden grausam verfolgt. Viele flüchteten, viele konvertierten und viele wurden umgebracht. Die großen Hoffnungen, die die Hugenotten um Jahr 1560, als Jeanne konvertierte, hegten, erwiesen sich als trügerisch.
Wenn auch letztlich nicht erfolgreich, war sie dennoch bewundernswert. Mit dem Admiral Coligny zusammen hatte sie den Frieden von St. Germain errungen, dann eine Landeskirche aufgebaut und ihre Kinder gefördert. Sie war die reformierte Präsenz in der königlichen Familie und in ihren letzten Jahren wurde sie die Königin der Hugenotten.
Stammtafeln der Familie von Valois und der Familie von Bourbon (PDF)
Literatur
Quellen:
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Nielsen, Merete: Marie Dentière,
Gottes heiligendes Handeln in uns: Abbau und Kreuztragen - in Freude?
Von Gerard C. den Hertog, Apeldoorn
Mitte März jedes Jahres wird in den Niederlanden immer die sogenannte Bücherwoche veranstaltet. Wer während dieser Woche ein Buch kauft, bekommt ein Geschenkbuch dazu, das eigens dazu im Auftrag geschrieben wird. Fürs erste Jahr des neuen Millenniums hatte man den Niederländisch-österreichischen Autor Harry Mulisch dafür geworben, dieses Geschenkbuch zu schreiben. Ihm wurde also die Möglichkeit geboten, den Ton fürs neue Jahrtausend zu setzen. Wie bei einem Musikstück ist der Anfang eines Buches, der erste Satz gleich bestimmend fürs Ganze. Wie macht Mulisch das? Nun, das Buch eröffnet mit folgendem, von mir übersetzten Satz:
„Die Aula des Krematoriums in Amsterdam ist ausgestattet in einem kahlem Backstein, gleich kahl und grau wie die Luft oberhalb der Stadt und die calvinistische Seele.“[1]
Nun, das ist ja Klartext. Oder besser, was heißt Klartext? Hier wird nicht so sehr etwas behauptet, sondern es werden vielmehr Bilder aufgerufen, mit all ihrer suggestiven Kraft. Sie machen einen solchen Eröffnungssatz aber nur umso wirksamer. Kahl sei die calvinistische Seele, also ohne all das, was das Leben interessant, reizend, spannend und was auch immer macht. Grau ist sie auch: keine fröhliche Farben zeigt die calvinistische Seele, es heißt nicht, der Erde treu zu bleiben und das Leben zu genießen. Nein, die calvinistische Spiritualität lässt sich angeblich am besten vergleichen mit einer phantasielosen und traurigen Aula eines Krematoriums. Hatte Mulisch da etwa noch das Wort von Nietzsche in Gedanken, laut dessen die Kirchen – die Aula eines Krematoriums dient auch wohl für Gottesdienste – Grabmäler Gottes sind?
Das einzig positive, was man heutzutage vom Genfer Reformator zu sagen weiß, ist, dass er unser Arbeitsethos entscheidend geprägt hat, was – wie Dieter Schellong spottend bemerkt hat – so ungefähr alle Menschen als sicheres Befund bei Calvin wissen, mit der Ausnahme der ganz wenigen, die ihn gelesen haben.[2] Aber – man ist sich darin wohl einig, dass man bei Calvin nicht leben lernen kann, d.h. mit sorgloser Freude das Leben genießen und erleben. Der Calvinwein von Selderhuis ist ein schöner Versuch, dieses ungesunde Volksempfinden zu korrigieren, aber wohl zum Scheitern verurteilt. Wein ist okay, aber mit dem Namen Calvin drauf schmeckt es einfach nicht.
Würden Sie meinen, das Vorurteil der Trostlosigkeit des Calvinismus beschränke sich auf die Niederlande, so kann ich Ihnen eine kleine Geschichte erzählen. Vor etwa fünfzehn Jahren promovierte mein jüngster Bruder als Theologe an der Gießener Universität und abends hatte er Familie, Freunde und Kollegen eingeladen für ein festliches Essen. Wir als Familie und Freunde aus den Niederlanden hatten einiges Launiges vorbereitet. Es wurde unbändig gelacht. Am nächsten Tag sagte ein römisch-katholischer Kollege zu meinem Bruder: „Ich hatte immer gedacht, du wärst reformiert.“ Als mein Bruder antwortete, das stimme, er sei tatsächlich reformiert, staunte der Kollege: „Ich wusste nicht, dass Calvinisten soviel Spaß machen könnten!“
Freude
Dass in der Theologie Calvins die Körperlichkeit betont wird ist keine geläufige Sicht. Viel öfter hört man die Meinung, bei ihm sei das Christentum noch einmal Platonismus fürs Volk gewesen. Dagegen spricht aber Einiges. Calvin kann ja sagen, Gott habe diese Welt nicht von ungefähr so schön gemacht. Und Er hat auch nicht umsonst uns die Augen gegeben, um die Welt zu sehen und uns mit Geschmackspapillen versehen um die erschaffene Welt genießen zu können.[3] Die ganze Ordnung der Welt ist so geschaffen, dass sie dem Glück der Menschen dient. Van Eck weist darauf hin, dass Calvin in seiner Auslegung von Psalm 104 sogar bemerkt, das Feststehen der Welt sei gegründet in Gottes Freude.[4] Positiver kann man schwer von der Schöpfung sprechen. Und: In der zukünftigen Welt wird der Genuss der Sinne wieder ungestört stattfinden.[5]
Entgegen den Erwartungen vielleicht finden wir bei Calvin auch eine positive Sicht von Ehe und Sexualität. De Knijff behauptet in seinem großen Buch über das Verhältnis zwischen der erotischen Kultur Europas und einer christlichen sexuellen Ethik, bei Calvin werde die Ehe zum ersten Mal in der ganzen christlichen Theologie ganz und voll zu einer guten Gabe Gottes, einschließlich des sexuellen Genusses.[6] Als erster in der Geistesgeschichte Europas habe Calvin das Verhältnis von Mann und Frau beschrieben und verteidigt als eine ebenbürtige sexuelle Einheit, die die ganze Existenz, nach Leib und Seele, umfasst.[7]
Woher also das herrschende Calvin-Bild als ein Asket, bei dem alles Genießen ein Ende hat und haben soll?
Der Körper als Kerker
Calvin kann aber auch ganz andere Töne abgeben. So ist bei ihm die Rede von Verachtung des Lebens, vom Körper als Kerker. Da ist aber nicht die Rede von einer inneren Zwiespalt mit seiner positiven Sicht der geschaffenen Welt, die er etwa selber nicht gespürt hat oder jedenfalls nicht ausgeglichen. Nein, dass unser Körper ein Kerker ist, ist wegen der Sünde. Durch die Sünde haben wir uns eingesperrt in dieses kummervolle Dasein.
Es ist nämlich gerade dies der Unterschied zwischen Mensch und Tier, dass das Tier nicht auf Unsterblichkeit hofft.[8] Der Mensch aber ist nicht daraufhin geschaffen, sich dem direkten und ungebrochenen Genuss der Erde zu übergeben. Er/Sie ist bestimmt für ein höheres Bürgerrecht.
Wollen wir einen Eindruck haben, was da im Hintergrund steht, so reichen dazu die Eröffnungssätze des Genfer Katechismus und Glaubensbekenntnis von 1537:
„Da man nirgends einen Menschen, sei er auch noch so ungesittet und wild, ohne irgend ein Wissen um Religion antrifft, ist es klar, dass wir alle auf dieses Ziel hin erschaffen wurden, die Herrlichkeit unseres Schöpfer zu erkennen und aufgrund dieser Erkenntnis ihn über alles zu achten und in aller Furcht, Liebe und Ehrerbietung zu verehren.
Aber lassen wir die Ungläubigen beiseite, die nur danach trachten, das Wissen um Gott, das in ihre Herzen gepflanzt ist, aus dem Gedächtnis zu tilgen: Wir, die wir den Glauben bekennen, müssen daran denken, dass dieses hinfällige und bald beendete Leben nichts anderes sein darf als ein Trachten nach der Unsterblichkeit. Nun kann man aber nirgendwo sonst als allein in Gott das ewige und unsterbliche Leben finden. Deshalb muss es die wichtigste Sorge und Bemühung unseres Lebens sein, Gott zu suchen, mit der ganzen Zuneigung unseres Herzens, zu ihm zu streben und nirgends Ruhe zu finden als allein in ihm.“[9]
Es ist klar, dass hier eine Kluft klafft zwischen dem Genfer Reformator und uns heutigen Menschen, für die ja das ewige Leben im höchsten Maße fragwürdig geworden ist und für die meisten auch belanglos, obzwar - woher schon das Interesse für ,channelen‘ und derartiges?! Das sollen wir aber hier nicht durchdiskutieren, sondern im Hinterkopf behalten bei unserer Calvin-Lektüre. Würden wir es vergessen, so könnten wir aber Calvin eigentlich nur noch gründlichst missverstehen.
Also - wenn Calvin darauf besteht, der Mensch solle dieses Leben ,verachten‘, so geht das nicht – oder jedenfalls nicht nur - hervor aus einer Überbetonung der Sündigkeit, sondern hängt zusammen mit seiner Sicht des Ziels der Schöpfung.
Die Rede über das Ziel der Schöpfung abstrahiert Calvin aber nicht von unserer heutigen Lage, in der die Sünde uns nicht nur des ewigen Lebens beraubt hat, sondern uns auch blind und stumpf gemacht hat. Wir erkennen unser Elend nicht einmal. Darum sind wir geneigt, uns wie die Tiere dem Genuss der Dinge zu ergeben, ohne zu erkennen, dass wir das wahre Leben verpasst haben.
Ist darin impliziert, dass Gottes Gaben für uns trügerisch sind? Nein, trügerisch sind sie nicht in sich, sondern allein wenn wir sie nicht im rechten Licht wahrnehmen. Gott gibt uns seine Gaben in der gefallenen Welt, damit wir uns dadurch seiner Güte als Vater überzeugen lassen und suchen, was da oben ist. Wenn wir nämlich Gottes Vatergüte erkennen, ist uns damit auch klar, dass wir noch nicht ans Ziel gelangt sind. Die rechte Sicht der irdischen Güter führt uns daher nicht weg vom Weg des Glaubens, sondern ermuntert uns, diese irdische Existenz zu verlassen und bei Christus einzuziehen.
„Wenn also die Gläubigen das sterbliche Leben erwägen, dann soll dabei als Hauptgesichtspunkt folgendes dienen: wenn sie erkennen, dass dies Leben an und für sich nichts anderes als ein Elend ist, so sollen sie mit desto größerer Freudigkeit und Bereitschaft sich ganz dem Trachten nach jenem kommenden, ewigen Leben widmen. Ist es einmal zu diesem Vergleich gekommen, dann kann man das irdische Leben nicht nur ruhig geringschätzen, sondern soll es auch im Vergleich mit dem zukünftigen gänzlich verachten und verschmähen. Denn wenn der Himmel unsere Heimat ist, was ist dann die Erde anderes als Verbannung? Wenn das Auswandern aus dieser Welt der Eingang ins Leben ist, was ist die Welt dann anderes als ein Grab? Was bedeutet dann das Verweilen in der Welt anderes, als dass wir in den Tod versunken sind? Führt uns die Befreiung vom Leibe zu wahrer Freiheit - was ist dann dieser Leib anderes als ein Kerker? Wenn die höchste Seligkeit darin besteht, dass wir Gottes Gegenwart genießen, ist es dann nicht ein Elend, sie noch entbehren zu müssen?
Wir „wallen“ aber wirklich „ferne vom Herrn“, bis wir von dieser Welt den Abschied genommen haben (2Kor. 5,6). Vergleicht man also das irdische Leben mit dem himmlischen, so wird man es ohne Zweifel leichthin verachten und mit den Füßen treten. Jedoch sollen wir es nie und nimmer hassen, es sei denn, sofern es uns der Sünde unterworfen sein lässt; aber auch dieser Hass soll nicht eigentlich auf das Leben selber gerichtet werden. Wie dem aber auch sei, wir sollen jedenfalls diesem Leben gegenüber in der Weise Widerwillen und Hass empfinden, dass wir nach seinem Ende verlangen, zugleich aber auch bereit sind, nach dem Willen des Herrn in ihm zu verbleiben; unser Widerwille soll also fern von jeglichem Murren und aller Ungeduld sein.
Das Leben ist eben wie ein Wachtposten, auf den uns der Herr gestellt hat und den wir nicht verlassen dürfen, bis er uns abberuft. So beweint auch Paulus sein Los, weil er länger, als er es wünschen könnte, von den Fesseln des Leibes gebunden gehalten wird, und er seufzt in heißem Verlangen nach Erlösung (Röm. 7,24), und doch will er Gottes Befehl gehorchen und bekennt, dass er zu Leben und Sterben bereit ist (Phil. 1,23f.). Er weiß, dass er es Gott schuldig ist, seinen Namen durch Tod oder Leben zu verherrlichen (Röm. 14, 8), und da ist es Gottes Sache, festzustellen, was am meisten zu seiner Verherrlichung dient. Wenn wir also dem Herrn leben und sterben sollen (Röm. 14, 8), so wollen wir auch seinem Ermessen die Grenze von Tod und Leben überlassen. Aber doch so, dass wir im Sehnen nach dem Tode brennen und fleißig nach ihm trachten, das Leben aber gegenüber der kommenden Unsterblichkeit verachten und wünschen, es um der Sündenknechtschaft willen hinzugeben, wenn es dem Herrn gefällt.“[10]
Der Charakter der Bekehrung als Testfall
Calvins Sicht der Umkehr und der Heiligung ist ein Testfall dafür, wie seine Theologie ineinander steckt, grob gesagt: ob da Plato regiert oder die Bibel.
Es ist klar: Calvin betont in seiner Rede der Bekehrung des Menschen den negativen Aspekt, wenn er zum Beispiel vom „abnegatio nostri“ spricht. Wenn er über „abnegatio nostri“ spricht, sind wir heute wohl geneigt das im Sinne eines negativen Selbstbildes oder auch einer platonisch angehauchten Anthropologie zu deuten. Wir sollten aber in Gedanken behalten, dass Calvin nie über den Menschen an sich spricht, sondern immer im Rahmen des immer und überall aktiven Handelns Gottes.
Ich kann mich noch gut erinnern, wie erstaunt ich vor mehr als dreißig Jahren war, als ich im schönen Buch von Werner Krusche las, wie die „menschliche Sozietät“[11] nach Calvin ganz und gar durchatmet ist und getragen wird von der Präsenz des Geistes. Jede Aussage von Calvin unterstellt diese aktive Präsenz Gottes bei seiner Schöpfung. Und auch und vor allem in der Heiligung hat Calvin nicht unsere Aktivität an sich im Auge, sondern Gottes heiligendes Handeln in uns. In Institutio III,7,1 bemerkt Calvin:
„Der Hauptgrundsatz dieser Erziehungsweise ist der: die Gläubigen haben das Amt, ,ihre Leiber zu begeben zum Opfer, das da lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei - welches sei ihr vernünftiger Gottesdienst!‘ (nach Röm. 12,1). Aus diesem Satz entnimmt Paulus Ursache zu der Ermahnung: ,Und stellet euch nicht dieser Welt gleich, sondern verändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, auf dass ihr prüfen möget, welches da sei der Wille Gottes!‘ (Röm. 12,2). Das ist nun eine große Sache, dass wir dem Herrn geheiligt und geweiht sind - um nun in unserem Denken, Reden, Trachten und Handeln nichts anderes zu tun, als was zu seiner Ehre dient! Denn das, was Gott heilig ist, zu unheiligem Gebrauch zu bestimmen, das bedeutet entsetzliches Unrecht gegen ihn!“[12]
Es ist das ,Amt‘ der Gläubigen, ihre konkrete Existenz – wenn Calvin Römer
Es ist wichtig zu sehen, was hier bei Calvin vorgeht. Wenn aller Akzent auf Gottes heiligendes Handeln gelegt wird, so ist das eine ungeheure Befreiung – und als solche eine Freude! Rechtfertigung und Heiligung werden nicht ängstlich von einander getrennt, die poenitentia wird nicht isoliert zum Umgang mit dem Gesetz, der dem Glauben vorangeht, sondern es ist die eine messianische Bewegung in die Christus den Gläubigen mitnimmt. Bei Calvin – das ist eine Erneuerung innerhalb der reformatorischen Bewegung – ist poenitentia nicht der Weg über den wir zum Glauben kommen, sondern sie ist ganz und gar dem Glauben einverleibt.[13]
Dadurch wird die poenitentia aus dem Kreisen um sich herum befreit, was eine schreckliche Quelle der Ungewissheit war, die die Menschen des ausgehenden Mittelalters gequält hat und die Gestaltung des neuen Lebens im Wege gestanden hat. Wo Umkehr gesehen wird als Vorbereitung auf die Gnade, da kann es nur schwer zu ungestörter Freude, zur Glaubensgewißheit, zu einem befreiten und erleichterten Gewissen kommen. Da herrscht eine bleibende Dialektik von Gesetz und Evangelium, die den dritten usus des Gesetzes skeptisch gegenüber steht und die Heiligung nicht gerade inhaltlich fördert. Wo aber der Glaube regiert, da bin ich frei und kann ich wirklich ohne Nebengedanken meines Nächsten Bestes suchen. Der rechtmäßige Gebrauch von Gottes Gnadengaben besteht darin, dass wir sie freimütig und gerne mit den anderen teilen!
„Damit uns nun aber nicht vielleicht verborgen bleibt, dass dies das Gesetz ist, nach dem wir alle Gaben, die wir von Gott empfangen haben, recht verwalten sollen - so hat Gott eben diese Ordnung bereits in die geringsten Geschenke seiner Güte vorzeiten hineingelegt. Er hat nämlich geboten, ihm die Erstlinge der Früchte darzubringen (Ex. 22,28; 23,19). Dadurch sollte dem Volke bezeugt werden, es sei unrecht, wenn es für sich selber aus solchen Gütern Nutzen ziehen wollte, die nicht zuvor dem Herrn geweiht waren! Diese Gaben Gottes sind aber erst dann für uns geheiligt, wenn wir sie mit eigener Hand ihrem Geber selbst wieder dargebracht haben; es ist also alles das ein unreiner Mißbrauch der Gaben, was jene Darbringung nicht erkennen läßt. Es wäre nun aber ein vergebliches Bemühen, wolltest du Gott durch Hergabe deines Besitzes etwa reich machen! Da nun aber dein Wohltun nicht zu ihm zu dringen vermag, so sollst du es nach den Worten des Propheten gegen seine Heiligen üben, die auf Erden sind! (Ps. 16,2f.).“[14]
Wenn meine poenitentia, meine Werke, nicht mehr Vorbereitung und insofern Heilsbedingung sind, wenn alles anfängt mit dem Glauben an Jesus Christus, da kann es zu einer erleichterten Freude kommen.
Ist damit die Frage, ob Gottes heiligende Handeln in uns in Zeichen der Freude steht, beantwortet? Nein, wir hörten eben, für Calvin sei nicht der Dekalog ausschlaggebend fürs christliche Leben, sondern Römer 12,1f, wo unser Leben als Opfer dargestellt wird. Lässt sich Freude mit Opfer verbinden?
Tolerantia crucis
Im Zeichen des Opfers steht die christliche Existenz. Es geht darum, dass sie sich erneuern lassen, Calvin schreibt – anders als Otto Weber in seiner Übersetzung: „verändert euch“ - ,transformentur‘ (Konjunktiv von transformantur). Es handelt sich um ein passivum divinum, das heißt: ein Verb in Passivform, um damit auf Gottes Handeln zu verweisen. Es ist Gottes heiligendes Handeln in uns. Vergessen wir nicht – man kann die Metapher ,Opfer‘ nicht gedankenlos übernehmen.
In Römer 12 – sowohl für Paulus wie für die Adressanten seines Briefes – war dieses Wort unlöslich mit schrecklichen Konnotationen verknüpft. Was im Tempel in Jerusalem, aber auch in den Kulten außerhalb von Israel passierte, war ein abscheulicher Vorgang. Es ist nicht etwas Schönes und Erhabenes. In Israel handelt es sich unter anderem um eine blutige Bedeckung der Schuld. Da kann man nicht hingehen mit dem Gedanken, es sei ein schöner und erbaulicher Ritus. Da spürt man auch leiblich, dass die Sünden aus der Welt weggeschafft werden müssen, und dass Sünde und Schuld nicht nur – wie wir das in den Niederlanden sagen – „zwischen den Ohren“ stecken. Oder anders gesagt: Schuld ist etwas anderes als aus dem Weg zu Räumendes Schuldgefühl. Die Opfer im Tempel stellen das ins Licht.
Wenn Calvin in Anschluss an Römer 12 das christliche Leben im Zeichen des Opfers darstellt, kann es nicht anders sein, als ob da etwas passiert im Menschenleben. Der Weg des Kreuzes ist – wie bei Luther – nicht ein rein innerlicher Vorgang, obwohl des Menschen Innere da zentral steht, sondern vollzieht sich im Alltag. Da kann man denken an das Flüchtlingsein, an das Verjagt-Werden aus Genf und derartiges. Solches macht keinem Menschen Freude. Nun spüren alle Menschen in ihrem Leben und um sich herum die Folgen des Sündenfalls. Der Christ aber unterscheidet sich dadurch, dass er sein Kreuz freiwillig trägt. Für sie und ihn ist es nicht einfach Pech oder Schicksal, sondern für sie ist es eine Schule des Glaubens. Calvin spricht in diesem Zusammenhang von der „tolerantia crucis“. Nein, es hat mit ,Opfer‘ zu tun, man kann sagen: es ist die Übersetzung in nicht-kultische Sprache. Und diese Übertragung von dem Kontext des Kultus in die des Alltags hat – so ist auch die Spitze von Römer 12,1 – alles damit zu tun, dass das ganze Leben in Gottes heiligendes Handeln einbezogen und aufgenommen wird.
Der Christ trägt sein Kreuz willig, weil sie und er wissen, dass sein Fleisch der Kreuzigung bedarf. Die stellt im Wesentlich kein aktives Tun dar, sondern lässt sich eher kennzeichnen als passio.[15] Wie bei Luther – ich denke an seinen Ausdruck vita passiva – kann Gottes heiligendes Handeln nur erlitten werden. Da sollen wir nicht an die mittelalterliche Mystik denken, da geht es nicht um Anthropologie, sondern um die Kehrseite des Handelns vom Heiligen Geist. Sagt der Apostel nicht, dass wir so dran sind, dass wir keine blasse Ahnung dessen haben, was wir beten sollen, wie es geziemt (Röm 8,26), das heißt, welche konkrete Gestalt Gottes gutes und weises Regiment hat? Wir gehören darum in diesem Leben in die Schule des Geistes. Und der Geist wirkt nicht nur innerlich, sondern auch durch die Widerfahrnisse unseres Lebens. Wie gesagt, der Weg des Kreuzes ist nicht ein rein innerlicher Vorgang, sondern Gott handelt mit und an uns durch all dasjenige, das auf uns zukommt. Und Er hat ein Ziel damit:
„Welcherlei Trübsal uns aber auch drücken mag, so müssen wir immer ihren Zweck ins Auge fassen: wir sollen uns daran zu gewöhnen lernen, das gegenwärtige Leben zu verachten, und so zum Trachten nach dem zukünftigen gereizt werden. Gott weiß aber nun sehr wohl, wie sehr wir von Natur zu einer unsinnigen Liebe zu dieser Welt geneigt sind, und deshalb wendet er das beste Mittel an, um uns da herauszuziehen und uns die Schläfrigkeit auszutreiben, damit wir nicht allzu beharrlich in solcher Liebe festhängen bleiben! Wir möchten zwar alle gern den Anschein erwecken, als ob wir uns unser ganzes Leben hindurch nach der himmlischen Unsterblichkeit sehnten und ausstreckten. Denn wir schämen uns, die unvernünftigen Tiere in keiner Hinsicht zu übertreffen, und deren Zustand wäre tatsächlich keineswegs geringer als der unsere, - wenn wir nach dem Tode keinerlei Hoffnung auf das ewige Leben mehr hätten!“[16]
Dies sollen wir bedenken, wenn wir den Leitsatz von Institutio III.7.1 lesen: „Summa vitae Chritianae: ubi de abnegatione nostri.“ Wir werden Calvin nicht gerecht, wenn wir das als Ausdruck einer negativen Anthropologie, einer pessimistischen Sicht des Menschen, interpretieren. In diesem Leben geht es für uns darum, alles sich Festklammern an dieser Welt abzulegen, nicht weil die Welt trügerisch ist, sondern weil wir so dran sind, dass wir immer in Gefahr sind zu vergessen, dass wir zur wahren Erkenntnis Gottes gelangen sollen, das heißt Menschen zu werden und zu sein, die wissen, worauf es ankommt. Gott lehrt und übt uns, indem er uns ein Kreuz auferlegt, damit wir uns nicht durch den Wahn dieser Welt bezaubern lassen, sondern uns davon durchdringen lassen, dass die wahre Freude vor uns liegt (Hebr. 12,1).
Die abnegatio nostri ist kein Hass gegen dieses Leben als solches, denn trotz allem Elend ist es Gottes Schöpfung. Calvin hätte nie bei seiner Kennzeichnung der positiven Erfahrungen in Gottes Welt ansetzen können, hätte er so gedacht. In der spezifischen abnegatio nostri, für die er plädiert, geht es um die Wiedergewinnung der wahren eschatologischen Freude und um die Freilegung der Sicht für Gottes unverdiente Güte in diesem Leben. Die Asketen, die sich allen Genusses entsagen, tadelt er. Man darf und soll sogar Gottes Gaben benutzen zu dem Zweck, wofür Er sie uns gibt, nämlich, dass wir genährt werden und mit Geschmack, dass wir bekleidet werden – und mit Kleidern die uns zieren. Nur wenn wir hier die Mitte halten – nicht eine formelle und gesetzliche, sondern eine evangelische und inhaltliche Mitte – leben wir in wahrer Freiheit und Freude. Und dem Nächsten wird gedient.
„Dieses Ersterben (des alten Menschen) wird also in uns erst dann statthaben, wenn wir die Liebespflicht gegen unseren Nächsten erfüllen. Diese Erfüllung findet sich noch nicht da, wo ein Mensch bloß alle Werke der Liebe ableistet - selbst wenn er keines unterläßt! Sie ist erst da vorhanden, wo einer das aus aufrichtiger Liebesgesinnung heraus tut!“ [17]
Sodann führt Calvin aus, wir sollen darauf achten, dass mein Mitmensch nicht von mir abhängig wird und auch, dass ich ihn nicht schmähe. Und er folgert dann:
„Denn wir glauben doch nicht, dass die Dienstgemeinschaft unter den Gliedern für ein unverdientes Geschenk zu halten ist; sie ist doch vielmehr die Erfüllung einer Verpflichtung, die aus dem Gesetz der Natur stammt und deren Verleugnung ungeheuerlich wäre. Daraus ergibt sich nun aber auch, dass ein Mensch, der eine bestimmte Dienstleistung vollbracht hat, nun nicht denken soll, er sei frei - es kommt ja allgemein immer wieder vor, dass ein reicher Mann etwas von seinem Besitz hingibt und dann andere Lasten auf andere abschiebt, als ob sie ihn nichts angingen. Nein, es soll vielmehr jeder bei sich bedenken, dass er mit allem, was er ist und hat, seines Nächsten Schuldner ist - und dass sein Wohltun gegenüber dem Nächsten erst dann sein Ende findet, wenn sein Vermögen dazu aufhört; denn soweit sein Vermögen reicht, muß es auch nach der Regel der Liebe bestimmt sein!“[18]
Die meditatio futurae vitae
Wenn nun die abnegatio sui und die tolerantia crucis das heiligende Handeln Gottes unter negativem Vorzeichen darstellen, so ist nun die Frage, ob alles nur – von unserer Perspektive her – im Zeichen der Negativität steht. Wir sagten schon: die Lehre von der Heiligung sei die Testprobe, ob Calvin in einem Platonismus stecken bleibt und der Vorwurf, bei ihm fehle die Freude und jeden Genuss der Dingen dieser Erde, also berechtigt ist. Nun haben die abnegatio sui und die tolerantia crucis eine Kehrseite, und zwar die meditatio futurae vitae.[19]
Ein Bild des christlichen Lebens in der Heiligung, das Calvin in diesem Zusammenhang benutzt, ist das des Wachtpostens.[20] Was sieht er darin zum Ausdruck gebracht? Es ist eine Metapher aus der Sphäre des Militärischen. Es ist doch wohl etwas anderes, als die Welt anzusehen als Ort der Selbstentfaltung oder etwa auch des sorglosen Genusses, oder die Welt als Material meiner Pflicht. Nein, es besagt, mit dieser Welt sei etwas passiert, da ist nicht umsonst die Rede vom Kampf. Aber Kampf um diese Erde, und keine Weltflucht. „Brüder, bleibt der Erde treu“ ist in gewisser Weise darin enthalten. So ist diese Metapher eine Brille, die eine neue Sicht freilegt – die rechte Sicht. Wir bekommen eine Perspektive, die uns Grund unter den Füßen gibt.
1. Erstens gibt diese Metapher unserem Leben eine feste Struktur. Die Idee des Wachtpostens bringt zum Ausdruck, dass wir nicht in einer strukturlosen Welt hineingeworfen sind, in der wir selber Ordnung schaffen müssen. Gott hat uns geschaffen und umgibt uns mit Erweisen seiner Güte. Wir sollen uns aber nicht diesen ergeben. Der Metapher des Wachtpostens hindert uns daran, in den direkten Genuss aufzugehen, wie Tiere.
2. Wir werden beauftragt mit einer Verantwortung. Wir gehören nicht uns selbst, sondern Christus. „Nostri non sumus“.[21] Unser Leben steht nicht im Zeichen der Autonomie. Nein, „nostri non sumus“. Damit ist die Ethik entscheidend charakterisiert. Unser Leben gehört Gott, der will, dass wir unseren Nächsten lieben.
3. Unsere Verantwortung ist begrenzt. Wir sind nicht dazu berufen, den eigentlichen Kampf zu führen und den Sieg zu erringen. Wir leben auf dieser Erde, fern vom Herrn. Wir wollen aber Ihm gefallen.
4. Das Leben ist ein Kampf. Es gibt die Sünde, die Macht des Bösen, wir haben wachsam und nüchtern zu sein und sollen kämpfen in der geistigen Waffenrüstung.
5. Wir sehnen uns nach Ablösung von unserem Posten. Es bedarf keiner ausführlichen Begründung - diese Sicht Calvins steht dem heutigen Lebensgefühl quer entgegen. Der Ethiker Frits de Lange hat aber vor kurzem darauf hingewiesen, was für große Folgen der Verlust der Ewigkeit gezeitigt hat. Gerade in unserem Zeitalter zeigt sich, dass „von geschichtlicher Perspektive her die Menschen nicht länger, sondern - wegen des Verlustes der Ewigkeit - unendlich kürzer leben. (...) Der Wegfall des Jenseits aus dem kollektiven Glaubenserlebnis hat tiefgreifende Folgen für die Zeitempfindung der älteren Menschen. Die Zeit verliert ihre Perspektive.“[22]
Freude?
Ich setzte an mit der Frage, ob dieses Leben ein Leben in Freude ist, oder phantasie- und trostlos, wie Harry Mulisch – mit vielen Anderen – es sieht. Diese Frage lässt sich nicht im Allgemeinen beantworten. Das heißt: es liegt eine andere Frage davor. Es ist in unserer Erlebnis-Gesellschaft eine Sicht des Lebens und des Genusses dominant, die alles hier und jetzt haben will. Es gibt andererseits eine neue Suche nach Lebenskunst.
Kann Calvin in diese Debatte eingebracht werden? Schon, aber nicht als eine Stimme neben anderen, sondern nur, wenn wir in unserem Verhalten Zeugnis davon ablegen, dass poenitentia und abnegatio sui für uns selber im Zeichen der Freude stehen.
Zitierempfehlung:
Gerard C. den Hertog, Gottes heiligendes Handeln in uns: Abbau und Kreuztragen - in Freude?, auf: www.reformiert-info.de, URL: http://www.reformiert-info.de/2551-0-105-16.html (Abrufdatum)
[1] H. Mulisch, Het theater, de brief en de waarheid. Een tegenspraak, o.O.. 2000, 7.
[2] D. Schellong, Wie steht es um die „These“ vom Zusammenhang von Calvinismus und „Geist des Kapitalismus“?, Paderborner Universitätsreden 47, Paderborn 1995, 3: „Nun, dass Calvin die Auffassung vom wirtschaftlichen Erfolg als Maßstab des Erwähltseins gehabt habe, mag bekannt sein; es darf aber nicht verschwiegen werden, dass es zumindest einige Leute gibt, denen dies gänzlich unbekannt ist, und das sind die Calvin-Leser. Mir ist nicht bekannt, dass ein Calvin-Leser je bei Calvin auf diese Meinung gestoßen ist.“
[3] Vgl. J. van Eck, God mens, medemens. Humanitas in de theologie van Calvijn, Franeker 1992, 169v.
[4] Vgl. J. van Eck, God mens, medemens, 171.
[5] Vgl. J. van Eck, God mens, medemens, 174.
[6] H.W. de Knijff, Venus aan de leiband. Europa’s erotische cultuur en christelijke sexuele ethiek, Kampen 1987, 174.
[7] H.W. de Knijff, Venus aan de leiband, 176.
[8] Vgl. J. van Eck, God mens, medemens, 183.
[9] J. Calvin, Genfer Katechismus und Glaubensbekenntnis (1537), in: Eberhard Busch, Alasdair Heron, Christian Link, Peter Opitz, Ernst Saxer, Hans Scholl (Hg.), Calvin-Studienausgabe. Band I,1. Reformatorische Anfänge 1533-1541, Neukirchen-Vluyn 1994, 139.
[10] J. Calvin, Institutio Christianae religionis, III,9,4.
[11] W. Krusche, Das Wirken des Heiligen Geistes nach Calvin, Göttingen 1957, 95-125.
[12] J. Calvin, Institutio Christianae religionis, III,7,1.
[13] Vgl. M. den Dulk, ... Als twee die spreken. Een manier om de heiligingsleer van Karl Barth te lezen, ’s-Gravenhage 1987, 23-36.
[14]J. Calvin, Institutio Christianae religionis, III,7,5.
[15] Vgl. D. Schellong, Das evangelische Gesetz in der Auslegung Calvins, (Theologische Existenz heute NF 152), München 1968, 39.
[16] J. Calvin, Institutio Christianae religionis, III,9,1.
[17] J. Calvin, Institutio Christianae religionis, III,7,7.
[18] J. Calvin, Institutio Christianae religionis, III,7,7.
[19] Vgl. A. Baars, Meditatio futurae vitae bij Calvijn, Theologia Reformata 47 (2004) 233.
[20] J. Calvin, Institutio Christianae religionis, III,9,4.
[21]J. Calvin, Institutio Christianae religionis, III,7,1.
[22] F. de Lange, De armoede van het zwitserlevengevoel. Pleidooi voor een beter ouder worden, Zoetermeer 2008,
Prof. Dr. Gerard C. den Hertog, Apeldoorn
Als Reformator Genfs und "größter Schüler Luthers" erneuerte Calvin neben der Lehre auch die Praxis des Glaubens - eine Biografie.
Biografie und Theologie des Reformators