Wichtige Marksteine
Reformierte im Spiegel der Zeit
Geschichte des Reformierten Bunds
Geschichte der Gemeinden
Geschichte der Regionen
Geschichte der Kirchen
Biografien A bis Z
(1528–1572)
Jeanne d´Albret (1528–1572) war die bedeutendste Frau in der Geschichte der Hugenotten im 16. Jahrhundert. Besonders in ihrem Witwenstand, in den letzten zehn Jahren ihres Lebens, baute sie eine reformierte Kirche in Béarn auf und war das politische Oberhaupt der Hugenotten im dritten Religionskrieg (1568–1570). Nach 1570 versuchte sie, die Reformierten zu schützen und ihnen einen gesicherten Platz in der Gesellschaft zu verschaffen. Sie handelte für die Hugenotten den Friedensschluss von St. Germain 1570 aus, und durch die Heirat ihres Sohnes Heinrich (später Heinrich IV. von Frankreich) mit Margarete von Valois, Schwester des Königs Karl IX. von Frankreich, strebte sie eine enge Verbindung von Hugenotten und Katholiken an.
Keine andere Frau hatte eine solche Machtposition unter den Hugenotten in Frankreich inne. Sie war respektiert und gefürchtet in Rom und Madrid, alliiert mit Elizabeth von England und befreundet mit Katharina von Medici – keine unkomplizierte Freundschaft zwischen zwei starke Frauen.
Sie sorgte dafür, dass ihre Kinder – Heinrich und Katharina – im reformierten Glauben erzogen wurden. Jahrelang kämpfte Heinrich als Anführer der Hugenotten und von einer Machtbasis in Südfrankreich aus um die französische Krone, bis er 1589 König von Frankreich wurde und schließlich 1593 zum katholischen Glauben übertrat, um das Land zu befrieden.
Jeanne d´Albret war nicht nur Mutter ihres berühmten Sohnes, sie war auch selbst eine machtvolle Frau in Frankreich, da ihre Position als Anführerin der Hugenotten ihr einen Einfluss weit über die Grenzen ihres kleinen Königreiches zusicherte.
Jugend und Ehe (1528-1555)
Jeanne d´Albret wurde am 7. November 1528 auf dem Schloss Blois von Margarete und Heinrich II. von Navarra geboren. Ihre Mutter wusste angeblich, dass sie eine Tochter gebären würde, ihr sehnlichster Wunsch war freilich nach einem Sohn. Jeanne blieb das einzige Kind aus dieser Ehe, Margarete von Navarra gebar zwar kurz danach einen Sohn, der als Kleinkind starb, und alle übrigen Hoffnungen auf Schwangerschaften zerschlugen sich.
Die kleine Prinzessin konnte von ihrem Vater das Königreich Navarra erben, weil dort das salische Gesetz, das in Frankreich weibliche Thronerben verbot, nicht gültig war. Außerdem war das vicomté Béarn selbständig. Deswegen waren die zwei Großmächte Spanien und Frankreich zutiefst an diesen Grenzregionen interessiert. Frankreich wollte seine Südgrenze verteidigen, und Spanien beide Seiten der Pyrenäen besitzen, um in Frankreich einfallen zu können. Zudem war die väterliche Familie von Albret Großgrundbesitzer in Südwestfrankreich und damit Vasall des französischen Königs. Das frühere Aquitanien hatte mehrere hundert Jahre der englischen Krone gehört und war spät von England aufgegeben worden. Im 16. Jahrhundert wurde das Gebiet meistens als Guyenne bezeichnet.
In ihren jungen Jahren wuchs Jeanne in der Normandie auf. Ihre Mutter, Margarete von Navarra, hatte die Aufgabe, die königlichen Kinder ihres Bruders, Franz I., zu erziehen. Sie gab Jeanne in die Obhut ihrer Freundin Aymée de Lafayette, Vogtin von Caen. Man behauptet, sie sei die Vorlage für die Figur Longarine in Heptameron (vgl. Nielsen). Nach meiner Auffassung sind die Erzähler/innen im Heptameron, die sogenannten devisants, eher Typen als historische Persönlichkeiten, die Figur der Longarine ist allerdings eine sehr sympathische Frau mit Humor und Pfiff. Wenn Aymée de Lafayette die Vorlage zu Longarine abgegeben haben soll, deutet alles darauf hin, dass Margarete sie sehr schätzte und meinte, ihre Tochter sei bei ihr gut aufgehoben.
Jeanne wuchs in einem landadligen Milieu auf, umgeben von Wald, Wiesen und Tieren, mit den Mitgliedern der Familie von Aymée de Lafayette als Bezugspersonen, bis sie zehn Jahre alt war. Ihre Mutter sah sie selten, aber jedes Mal, wenn sie krank war, war Margarete sofort zur Stelle. 1538 ließ Franz I. sie nach Plessis-lez-Tours bei der Loire übersiedeln, da sie jetzt ein Alter erreicht hatte, wo sie auf dem Heiratsmarkt von Interesse war. Der König konnte über seine Verwandte entscheiden und Ehen arrangieren, wie es ihm passte.
1540 war es für Jeanne so weit. Herzog Wilhelm der Reiche von Kleve-Jülich-Berg hatte 1538 das Herzogtum Geldern geerbt. Sein Erbanspruch wurde von Kaiser Karl V. angefochten und auf dem Reichstag zu Regensburg wurde dem Kaiser Geldern zugeteilt. 1539 folgte Wilhelm seinem Vater auf dem Thron nach, und um sich vor den Ansprüchen des Kaisers zu schützen, arrangierte er eine Ehe mit Heinrich VIII. von England für seine Schwester Anna, und selbst verbündete er sich mit Franz I. Als Unterpfand für dieses Bündnis sollte er Jeanne d´Albret heiraten.
Was jetzt passierte, ist absolut ungewöhnlich: Jeanne weigerte sich. Die Zwölfjährige ließ ihrem Onkel wissen, dass sie den Herzog nicht heiraten möchte, und sie ließ zwei Schreiben aufsetzen, in welchen sie erklärte, dass sie gegen ihren Willen zu dieser Ehe gezwungen worden sei. Natürlich konnte sie sich nicht auf Dauer gegen den Willen des Königs auflehnen, aber bei der Hochzeitszeremonie am 14. Juni 1541 weigerte sie sich, zum Altar zu schreiten, stattdessen musste sie getragen werden. Ihr Jawort war nicht hörbar und wegen ihres Alters wurde die Ehe nicht vollzogen, der Herzog setzte nur symbolisch ein Bein in ihr Bett. Nach der Hochzeit kehrte er zurück nach Düsseldorf, während Jeanne vorläufig in Frankreich blieb.
1543 griff Kaiser Karl Kleve-Jülich-Berg an, der Herzog wurde geschlagen und musste Geldern Karl V. überlassen. Am Frieden von Venlo im September 1543 hob er das Bündnis mit Franz I. auf und verbündete sich stattdessen mit dem Kaiser. Damit war auch die französische Ehe hinfällig geworden, 1545 wurde sie vom Papst wegen Nichtvollzug annulliert, und der Herzog vermählte sich mit einer Nichte des Kaisers.
Nach kanonischem Recht durfte bei einer Eheschließung keine Zwang im Spiel sei. Die Eheleute mussten ihr Gelübde frei abgeben. Damals konnten junge Frauen aus adligen oder königlichen Familien sich ihre Ehepartner nicht selbst aussuchen, sondern wurden als politische Garanten vermählt, und die meisten fanden sich damit ab, weil das ihr Standesbild entsprach. Jeannes Ablehnung, so wie ihre Kenntnis des kanonischen Rechts, ist erklärungsbedürftig.
Eine mögliche Erklärung ist, dass ihre Eltern für sie eine Ehe mit dem Kronprinzen Philipp von Spanien anstrebten. Königin von Spanien war natürlich prestigeträchtiger als Herzogin von Kleve zu sein, aber vor allem erhoffte sich ihr Vater damit den spanischen Teil von Navarra zurückzugewinnen. 1512 hatten die Spanier Navarra, das Baskenland, bis zu den Pyrenäen erobert und den Albrets nur das winzige Gebiet auf der französischen Seite gelassen. Seitdem überlegten sich die Könige von Navarra, wie sie zu ihrem ganzen Erbe kommen konnten, und eine Ehe zwischen dem Infanten von Spanien und der zukünftigen Königin von Navarra würde genau dies herbeiführen.
Jeanne war möglicherweise auch beeinflusst von einer Erklärung der Ständeversammlung von Béarn, die eine auswärtige Ehe für ihre Kronprinzessin ablehnte.
Sah Jeanne d´Albret ihre Zukunft gefährdet durch eine Ehe mit dem Herzog von Kleve? Oder tat sie, was ihre Eltern wünschten, statt des Königs Willen zu erfüllen? Stammten ihre Kenntnisse des kanonischen Rechts von denen? Margareta von Navarra schrieb ihrem Bruder, sie habe keine Ahnung, was in das Mädchen gefahren sei, aber stimmt das? Hat sie Jeanne mit ihrer Ablehnung der Ehe geholfen aus Liebe (Cholakian & Cholakian), oder aus Ehrgeiz? Es besteht kein Zweifel, dass königliche Kinder damals frühreif waren und in jungen Jahren schon an ihre späteren Aufgaben geführt wurden, trotzdem ist die Zähigkeit und Sturheit des Mädchens erstaunlich.
1547 starb Franz I. und als Jeanne zwanzig Jahre alt war, bot der Nachfolger, Heinrich II. von Frankreich, ihr gleich zwei Heiratskandidaten an: den Herzog Franz von Aumale (der spätere erzkatholische Herzog Franz von Guise) und Anton von Bourbon, Herzog von Vendôme. Der letztere war Erbprinz und vielleicht deshalb für Jeanne die bessere Partie, obwohl er relativ arm war. Er war hochgewachsen – was für einen Bourbon eher selten war – und charmant, wie alle Männer in seiner Familie scheint er ein unverbesserlicher Schürzenjäger gewesen zu sein. Heinrich IV. von Frankreich, der vert galant, hatte seine ausgelebte Sexualität nicht von Fremden, ebenso wenig wie sein militärisches Können und seinen Mut.
Jeanne und Anton von Bourbon heirateten 1548 und sie war überglücklich. Heinrich II. schrieb in einem Brief, dass er selten eine Braut erlebt habe, die immer nur lachte. Diese Ehe war aus Liebe geschlossen, und Anton von Bourbon nahm seine Frau mit, als er in den Krieg zog. Der Kriegsschauplatz war Flandern, und da der Herzog Güter in Nordfrankreich besaß, zog Jeanne in den ersten Jahren ihrer Ehe von Schloss zu Schloss, immer in der Hoffnung, dass sie und Anton von Bourbon sich treffen könnten.
1551 gebar sie ihren ersten Sohn und gab ihn an Aymée de Lafayette, die sie selbst erzogen hatte. Ob nun Frau de Lafayette alt oder übervorsichtig geworden war, der kleine Herzog von Beaumont starb als Kleinkind, angeblich weil er von Wärme erstickt worden sei.
Bald wurde Jeanne wieder schwanger, und während ihr ältester Sohn in Nordfrankreich geboren war, sollte das zweite Kind in Béarn zu Welt kommen. Sie unternahm die lange Reise nach Süden und kam gerade rechtzeitig in Pau an, 14 Tage bevor sie von ihrem zweiten Sohn, Heinrich, auf dem Schloss in Pau entbunden wurde. Es wurde entschieden, dass dieser Junge in Pau bleiben sollte. Der Großvater, Heinrich d´Albret, wollte wahrscheinlich mit diesem kleinen Prinzen die Erbfolge in Béarn und Navarra sichern. Die Legenden von der rauen Erziehung Heinrichs seitens des Großvaters können jedoch nicht wahr sein, allein weil das Kind die ersten Jahre von Ammen betreut wurde, und der Großvater starb, als es zwei Jahre alt war. Es scheint in Béarn Sitte gewesen zu sein, die Lippen des Täuflings mit Rotwein und Knoblauch einzureiben, eine Taufe à la Gascogne, aber die Mär, dass Heinrich barfuß unter den Hirten in den Bergen aufgewachsen sein soll, ist reine Legende. Der spätere Hauslehrer Heinrichs, Palma Cayet, schrieb, als Heinrich schon König von Frankreich war, seine Biographie, und daher stammt der Bericht vom Opa und von seiner rauen Erziehung. Dieser Kindheitsbericht ist eher Propaganda des Königs, wie er gerne gesehen werden möchte.
Tatsächlich kam Heinrich in die Obhut der Familie de Miossens, die auf dem Schloss Coarraze wohnte. Die Frau, Suzanne de Bourbon-Miossens, war eine Cousine von Jeanne. Heinrich wurde demnach genau wie seine Mutter als Landadliger erzogen, und er wuchs in einer Familie mit anderen Söhnen auf, die als Erwachsene seine Gefolgsleute werden sollten. Als seine Mutter den Thron erbte, wurde er schon als Kleinkind als Kronprinz behandelt.
Die zwei Jahre zwischen Heinrichs Geburt 1553 und ihre Thronbesteigung 1555 verbrachte Jeanne wiederum in Nordfrankreich in der Nähe ihres Gatten. In dieser Zeit gebar sie einen dritten Jungen, der jedoch nicht lange lebte. Es muss hinzugefügt werden, dass Anton von Bourbon 1554 einen außerehelichen Sohn, Karl von Bourbon, mit einer Hofdame bekam. Jeanne hatte bereits mehrere Onkel, die illegitim waren, und sie scheint den kleinen Karl in ihrer Familie aufgenommen zu haben. Er wurde später Erzbischof von Rouen.
Erst als der Vater gestorben war, zog sie als Königin nach Pau und obwohl sie die Erbin war, ließ sich ihr Mann als König huldigen, was die Ständeversammlung eigentlich gar nicht wollte, dennoch ordneten sie sich dem Willen Jeannes unter.
Königin an der Seite von Anton von Bourbon (1555–1560)
Ihr Vater hatte Jeanne ein blühendes Land hinterlassen. Er hatte Industrien nach Béarn geholt, das Steuersystem effektiv gestaltet und für den religiösen Frieden gesorgt. Große Einkünfte entstanden auch durch seine Posten als Gouverneur und Admiral der französischen Krone in Guyenne. Anton von Bourbon bekam diese Posten nach seinem verstorbenen Schwiegervater, und später hat sein Sohn, Heinrich von Navarra, sie übernommen. Jeanne und Antoine standen als die größten Grundbesitzer Südwestfrankreichs finanziell sehr gut da.
1555 find Calvin seine missionarische Tätigkeit in Frankreich an. Reformierte gab es in Südwestfrankreich zu diesem Zeitpunkt längst, weil Margareta von Navarra sie mit Predigern unterstützt hatte und Gérard Roussel, einen Reformkatholiken, als Bischof in Orthez, eingesetzt hatte. Dieser Roussel war einmal Weggefährte Calvins gewesen, und dieser warf ihm vor, nicht konsequent genug zu sein, als er die Stelle als katholischer Bischof trotz seiner reformatorischen Sympathien annahm (CStA I,1).
Als Königin hatte Jeanne bei ihrer Krönung versprechen müssen, die katholische Religion zu verteidigen. Am selben Tag, nachdem sie diesen feierlichen Eid abgelegt hatte, schrieb sie an einen Vasallen, dem vicomte von Gourdon, und erzählte ihm, sie wolle über die Förderung des reformierten Glaubens im kleinem Kreis heimlich beraten. Dieser Brief ist Teil eines Briefwechsels mit zwei vicomtes de Gourdon, Vater und Sohn, die die gesamte Regierungszeit Jeannes überdauerte. Die Briefsammlung wurde im vorigen Jahrhundert entdeckt und gibt viele neue Einsichten in die Vorhaben und die Beweggründe Jeannes. Da die entdeckten Briefe uns nur als teilweise fehlerhafte Kopien vorliegen, haben viele Forscher die Briefe als Fälschungen abgetan (Text und Diskussion bei Bryson).
Der erste Brief vom August 1555 teilt uns mit, dass Jeanne schon zu diesem Zeitpunkt reformierte Sympathien deutlich aussprach. Sie schrieb dem vicomte, dass ihre Mutter sich zwischen den zwei Religionen nicht habe entscheiden können, und dass sie selbst aus Furcht vor ihrem Vater bislang nicht gewagt habe, sich offen zum Protestantismus zu bekennen. Das Edikt von Chateaubriant von 1551 verbot eindeutig jede „Ketzerei“ und deshalb schlug sie vor, die Reformierten sollten sich heimlich auf dem Schloss Odos treffen.
Es gibt sonst keine Quellen, die belegen könnten, dass Jeanne mit dem reformierten Glauben in Berührung kam. Es gab in ganz Frankreich zu der Zeit kleine zerstreute Gemeinden, sowie Prediger und Kolporteure, die reformatorische Bücher schmuggelten. Die wiederholten Verbote des Königs konnten das nicht unterbinden, sie führten nur dazu, dass Protestanten, wie Jeanne, sich heimlich treffen mussten.
In den Jahren nach 1555 verbreitete sich der reformierte Glaube mehr und mehr im Hochadel. Auch Anton von Bourbon wurde davon ergriffen, brachte reformierte Prediger nach Béarn und als er und Jeanne 1558 mit Heinrich nach Paris zogen, nahm er an großen psalmensingenden Demonstrationen außerhalb der Stadtmauern von Paris teil. Calvin war darüber hoch erfreut, denn er setzte in seiner Missionsarbeit gerne auf hochrangige Persönlichkeiten. Jeanne dagegen verhielt sich während dieser Zeit bedeckt.
In Paris kam sie mit ihrem vierten Kind, einer Tochter namens Katharina, nieder. Das kleine Mädchen war das einzige Kind, das bei Jeanne aufwachsen durfte, obwohl sie (natürlich) Erzieherinnen und Gouvernanten hatte.
Anton von Bourbon fiel nicht nur mit protestantischen Sympathien auf, sondern wie sein Schwiegervater versuchte er, den spanischen Teil von Navarra zurückzugewinnen. Heinrich d´Albret hatte seinen Besitz gut und gewinnbringend regiert, während Anton von Bourbon seiner Frau die Regierungsgeschäfte überließ, und selbst nur versuchte, ein größeres Königsreich für sich zu gewinnen. So konnte der spanische König Philipp ihm einen Tausch, erst mit dem Herzogtum Milano und später mit Sardinien, anbieten. Damit hätte Spanien den Sprung über die Pyrenäen geschafft und Südfrankreich bedrohen können. Wir würden solches Taktieren mit dem Feind Hochverrat nennen, damals räumte man freilich Adligen große Freiheiten ein, sich einen Herren auszusuchen, aber Anton von Bourbon wurde auch von den Zeitgenossen als unzuverlässig und unverantwortlich angesehen, und nicht zuletzt war er so politisch ungeschickt, dass es an Dummheit grenzte (Sutherland 1984).
Im Sommer 1559 starb Heinrich II. von Frankreich unerwartet. Sein Sohn Franz II. folgte ihm als nur fünfzehnjähriger Knabe auf dem Thron. In dieser Situation war die traditionelle Lösung, dass der erste erwachsene Erbprinz, Anton von Bourbon, ihn unterstützen sollte, und Calvin ermahnte ihn eindringlich, dieses Amt zu übernehmen und dabei den Hugenotten zu helfen. Anton von Bourbon verspielte diese Chance und überließ die Regierungsgeschäfte der Familie von Guise, besonders dem Herzog von Guise und dem Kardinal von Lorraine, die beide die antiketzerische Politik des verstorbenen Königs weiterführen wollten. Nach dem Tod Heinrichs II. bekannten sich mehrere hochrangige Adlige offen zum Protestantismus und es gab im März 1560 sogar einen hugenottischen Komplott, den König zu entführen und von seinen „schlechten Ratgebern“ zu trennen. Anton von Bourbon und sein jüngerer Bruder, der Prinz von Condé, beide notorische Reformierte, wurden wegen diesem Angriff auf den König angeklagt. Anton von Bourbon versprach Besserung, während sein Bruder, der Prinz Ludwig von Condé zum Tode verurteilt wurde. Nur der plötzliche Tod des jungen Königs rettete ihn vor der Hinrichtung. Da der neue König, Karl IX., ein zehnjähriges Kind war, brauchte Frankreich einen Regenten, nämlich den ranghöchsten Erbprinz Anton von Bourbon. Wiederum ergriff dieser nicht die Chance. Katharina von Medici ließ sich stattdessen als Regentin einsetzen und Anton von Bourbon wurde zum Generalstatthalter ernannt. Die Hugenotten mit Calvin an der Spitze waren zutiefst enttäuscht. In diesen Jahren hatte der reformierte Glaube großen Zulauf, es wurde von mehreren Tausend Gottesdienstbesuchern überall in Frankreich berichtet, von Abendmahlgottesdiensten, die zwei Tage dauerten und von Bekehrungen am Hof und im Hochadel.
1560 verließ Jeanne Paris, um zurück nach Pau zu fahren. Theodorus Beza, der engste Mitarbeiter Calvins, besuchte sie dort, und es entwickelte sich eine enge Zusammenarbeit, die bis Jeannes Tod dauerte. Beza versorgte sie mit Predigern und Beratern für ihr Land. Im Dezember 1560 unternahm Jeanne den entscheidenden Schritt und bekehrte sich öffentlich zum reformierten Glauben. Während ihr Gatte nicht in der Lage war, sich an die Spitze der Hugenotten zu setzen, wurde sie jetzt die leitende Hugenottin in Frankreich.
Reformierte Königin (1560–1568)
Jeanne d´Albret war zweifelsohne eine tief religiöse Frau. Lange Zeit hatte sie äußerste Diskretion walten lassen, zwar mit ihrem Gatten reformierte Prediger gehört, aber sich niemals offen zum reformierten Glauben bekannt. Erst nachdem Anton von Bourbon sich mit dem Posten als lieutenant générale abgefunden hatte, kam sie aus der Deckung.
Es war eine Zeit, wo alle große Hoffnungen bzw. Ängste für den Protestantismus in Frankreich hegten. Drei wichtige Katholiken – der Herzog von Guise, der Konstabel von Montmorency und der Marschall St. André – schlossen sich zusammen, um Frankreich gegen die Reformierten zu schützen. Sie planten den Sturz von Anton von Bourbon und einen Angriff auf Genf mit der Hilfe des Herzogs von Savoyen, zu dessen Besitz Genf bis 1534 gehört hatte. Dieses Triumvirat war der erste Vorbote der katholischen Liga, die später Heinrich IV. hartnäckig bekämpfte (Sutherland 1973).
1560 war noch zu erwarten, dass der Protestantismus nach Frankreich gekommen war, um zu bleiben. Jeanne war sich sehr bewusst, welche Gefahren ihr von Spanien, vom Papst und von der mächtigen Familie von Guise drohten. Sie hatte noch die Hoffnung, dass der junge König Karl IX., Katharina von Medici und ihr Kanzler, der tolerante Michel de l´Hôpital, die Reformierten unterstützen würden, zumal die Königinmutter sich selbst von denen von Guise bedrängt fühlte.
Diese letzte Hoffnung erwies sich als trügerisch, aber niemals wich Jeanne später vom einmal eingeschlagenen Kurs ab. Sie konnte weder geldwerte Vorteile noch politisches Kapital aus ihren Glauben schlagen, dafür hielt sie konsequent an ihrer Überzeugung fest.
In Béarn machte sie erste vorsichtige Schritte, um das Land zu reformieren. Es gab schon Reformierte dort, und Prediger hatten angefangen, den neuen Glauben zu verbreiten, Jeanne aber träumte von einem reformierten Land, und fing langsam und vorsichtig an, diesen Traum zu verwirklichen.
Der erste Schritt war, den reformierten Glauben dem Katholizismus rechtlich gleich zu stellen. Die Kirchen wurden für beide Religionen geöffnet (das sogenannte simultaneum) und aus den Kirchen in Lescar und Pau wurden Bilder und Statuen entfernt, allerdings nicht in Form eines Bildersturms, sondern von den Behörden. Jeanne beschlagnahmte das kirchliche Vermögen nicht für sich selbst, sondern investierte es in Sozialfürsorge und Bildung.
Es ist klar, dass sie den reformierten Glauben einführen wollte, aber zu keinem Zeitpunkt vefolgte sie Andersgläubige, geschweige denn verbrannte sie. Immer setzte sie auf Überredung.
Im August 1561 begab sie sich wieder zum Hof. Überall wurde sie stürmisch von Hugenotten begrüßt, als ob sie „der Messias sei“, bemerkte verärgert der spanische Gesandte. Katharina von Medici hatte zu einem Religionsgespräch eingeladen. Dieses Gespräch fand in Poissy außerhalb Paris statt. Seitens der Krone war gewiss an eine Versöhnung oder gar einen Ausgleich zwischen den Religionen gedacht, die reformierten Teilnehmer mit Beza an der Spitze mochten jedoch keine Kompromisse eingehen. Beza wurde unterstützt von Calvin in Genf, der selbst zu krank war, um mitzukommen. Calvin war mit den Auftritten und Reden Bezas zufrieden, während z.B. der Admiral Coligny Beza als reichlich provokant wahrnahm.
Im Herbst 1562 blieb Jeanne mit ihren Kindern beim Hofe. Katharina von Medici suchte auch nach den Religionsgesprächen eine Übereinkunft mit den Protestanten, was in dem Edikt vom 17. Januar 1562 – auch Edikt von St. Germain genannt – gipfelte. Dieses Edikt, an dem der Kanzler Michel de l´Hôpital und Beza beteiligt waren, erlaubte es den Hugenotten, außerhalb der Städte Gottesdienste zu halten. Es war das günstigste Edikt, das sie jemals erlangen sollten, das Edikt von Nantes 1598 war ihm sehr ähnlich, aber nicht ganz so großzügig. Der Unterschied war, dass Heinrich IV. dafür sorgte, dass das Edikt von Nantes durchgeführt wurde, während alle frühere Edikte, so wohlgemeint sie auf dem Papier auch waren, von katholischen Behörden unterlaufen wurden, und der König zu schwach war, um für ihre Durchführung zu sorgen.
Im März 1562 massakrierte der Herzog von Guise eine reformierte Gemeinde, die innerhalb des Städtchens Wassy Gottesdienst feierte. Damit war die Versöhnungspolitik Katharinas von Medici gescheitert. Die Hugenotten unter dem Prinzen von Condé griffen zu den Waffen und Anton von Bourbon bat Jeanne den Hof zu verlassen. Er behielt seinen Sohn Heinrich bei sich, entließ aber dessen hugenottischen Hauslehrer. Jeanne beschwor ihren Sohn, nicht zur Messe zu gehen, und der junge Prinz hielt sich wohl auch ein paar Wochen daran, musste sich aber schließlich fügen. Nach ihrem Fortgang vom Hofe trat Jeanne eine monatelange abenteuerliche Reise durch Frankreich an, so gefährlich, dass die ersten Briefen von der Hand Heinrichs seine Ängste um seine Mutter bezeugen. Ihre kleine Tochter Katharina durfte sie behalten.
Im ersten Religionskrieg führte Anton von Bourbon die königlichen katholischen Truppen gegen die Hugenotten. Bei der Belagerung von Rouen wurde er verwundet und starb am 17. November. Der junge Heinrich blieb am Hofe in der Obhut Katharinas von Medici, die allerdings Jeanne gestattete, ihm wieder reformierte Hauslehrer zu geben. Sie sollte ihn erst 1564 wiedersehen.
Die Kirche in Béarn und Navarra
Ihre große Aufgabe sah Jeanne darin, die Reformation in Béarn durchzuführen.
Calvin stellte ihr Jean Raymond Merlin zur Seite, den früheren Professor für Hebräisch in Lausanne, wo er Kollege von Beza, dem Professor für Griechisch, und von Pierre Viret, dem Rektor der Akademie, gewesen war. Pierre Viret arbeitete nach seiner Zeit in Lausanne und Genf vor allem in Frankreich, besonders in den Kirchen von Lyons und Nîmes. Später sollte er für Jeanne d´Albret ihre Akademie in Orthez aufbauen. Merlin war übrigens mit einer Tochter von Marie Dentière verheiratet, derjenigen, die vor Jahren Jeanne eine selbstgeschriebene hebräische Grammatik zugesandt hatte (vgl. Graesslé13f.; Nielsen).
Merlin ging voll Eifer an die Aufgabe, eine reformierte Kirche in Béarn aufzubauen. Es gab viele Reformierte in Südfrankreich, aber meistens unter städtischen Eliten und Handwerkern. Die Reformierten waren meistens des Lesens fähig, vor allem des Lesen französischer Texte. In Südwestfrankreich sprach die Bevölkerung die langue d´oc, die alte oczitanische Sprache, in irgendeiner Form. Die Gascogne hatte ihre Sprache, in der ein Neues Testament und fünfzig Psalmen übersetzt wurden, und Béarn hatte béarnais sogar als Amtssprache. Hinzu kam, dass die Bevölkerung in Navarra Baskisch sprach. Wenn Merlin das ganze Land reformieren sollte, musste er diese Sprachbarrieren überwinden, denn die Landbevölkerung musste erreicht und für die Reformation gewonnen werden.
Jeanne d´Albret beauftragte eine Übersetzung des Neuen Testaments ins Baskische, und eine Übertragung der Psalmen, der Zehn Gebote, der Liturgie und des Katechismus Calvins in die Sprache Béarns. Der Anwalt, später Pastor, Arnaud de la Salette, stellte 1571 diese Übersetzung fertig, und obwohl sie erst 1583 gedruckt wurde, darf man annehmen, dass in der Zwischenzeit Manuskriptkopien verwendet wurden. Pastoren, die die béarnesische oder die baskische Sprache beherrschten, wurde händeringend gesucht, und von den Anderen wurde ausdrücklich verlangt, dass sie es lernen sollten. Katecheten, die vermutlich Landeskinder waren, wurden in die Gemeinden geschickt.
Allmählich verbot Jeanne katholische Riten und Gebräuche, zuerst die Fronleichnamsprozessionen, danach Maibäume und Jahrmärkte. Dann wurde die Messe abgeschafft. Der Dom von Lescar und die Kirche St. Martin in Pau wurden leergeräumt, und die dort befindlichen Schätze verkauft.
Für Merlin konnte dies nicht schnell genug gehen. In seinen Briefen an Calvin klagte er seine Not: die Bevölkerung sei stur – diese Holzköpfe! - und die Königin zu langsam und vorsichtig (CO 20, Nr. 3988 & Nr. 4061). Merlin hatte übrigens auch früher in Montargis Probleme mit Renée de France gehabt, Herzogin von Ferrara, die in ihrem Gebiet so vorsichtig war wie Jeanne in Béarn (vgl. Lambin, 2). Jeanne bekam Klagen auf der jährlichen Ständeversammlung, wo die Katholiken über den Verlust alter Freiheiten und Rechte klagten. In den sechziger Jahren musste sie mehrmals Aufstände niederschlagen.
Der Nachfolger für Merlin war Pierre Viret, der enge Freund Calvins. Er war Pastor und Rektor für die Akademie in Lausanne – mit Beza und Merlin als Kollegen – gewesen. Wegen eines Streits mit dem Stadtrat in Bern, übersiedelten 1559 alle Professoren nach Genf, um dort in der neu errichteten Akademie zu unterrichten. Von Genf begab Viret sich nach Frankreich, wo er in Lyon als Pastor arbeitete, danach leitete er die Nationalsynode in Nîmes und schließlich folgte er dem Ruf nach Béarn. Seine wesentlichste Aufgabe war es, die Akademie in Orthez aufzubauen. Die Fächer Theologie, Hebräisch, Griechisch, Philosophie und Mathematik wurden dort unterrichtet, während es keine Anzeigen für Professuren in Jura und Medizin gibt.
Vor ihrer akademischen Laufbahn absolvierten die Jungen eine fünfjährigen Ausbildung in einer Lateinschule (collège), während die Grundschule sowohl Jungen wie Mädchen unterrichtete, die Mädchen allerdings getrennt mit weiblichen Lehrkräften. Damit wurde das kleine Béarn das erste Land Europas, welches kostenlosen Unterricht für Mädchen zusicherte, und zwar mit der interessanten Begründung, dass sie so im Stande waren, ihr Brot zu verdienen und sich der Gesellschaft nützlich zu machen („Pareil rolle sera aussy faict des filles qui sont en bas aage et qui n´ont nul moyen de vivre et de s´entretenir, par toutes les églises, afin que de mesmes deniers et en écolle séparée elles soient enseignées, nourries et tenues par des femmes sages et pudiques, par leur industrie pouvoir aprés se nourrir et entretenir et servir au public“. Art. 32 der Verfassung der Akademie von 1566, zitiert nach Desplat 2004). Desplat unterstreicht die säkulare Ausrichtung der Ausbildung. Allgemein wird behauptet, der Zweck des Unterrichts in protestantischen Ländern sei, die Bevölkerung des Lesens der Bibel und des Katechismus zu befähigen. Hier werden nur die Vorteile eines Schulunterrichts für die Gesellschaft betont.
Die Akademie wurde 1566 geöffnet. Die ersten protestantischen Akademiegründungen in Frankreich fanden in Nîmes (1562) und Montpellier statt. Vorrangiges Ziel war es, die Kirchen mit Pastoren zu versorgen, da die Akademie in Genf die steigende Nachfrage der Gemeinden kaum nachkommen konnte. Da Papst Pius V. die katholischen Universitäten angewiesen hatte, Protestanten die Abschlüsse zu verweigern (Maag 2002, 140), brauchten junge Hugenotten ihre eigenen Universitäten, die dann auch gegründet wurden, vor allem in Leiden und Heidelberg, aber auch in Frankreich und benachbarten Gebieten wie Béarn, Orange und Sedan, die alle zu diesem Zeitpunkt unabhängig waren.
Jeanne hatte sehr gute Gründe, langsam und überlegt vorzugehen. Der Kardinal von Armagnac ließ sie wissen, dass sie die Bevölkerung Béarns in Ruhe lassen sollte, ihre Untertanen wollten ihren Katholizismus nicht aufgeben. Jeanne antwortete, dass sie in Béarn nur Gott über sich habe, dort könne sie ihrem Gewissen folgen, und in ihrem Land werde niemand wegen seines Glaubens verfolgt. Das letzte war ihr ein Anliegen, denn 1571 schrieb sie an ihren Statthalter, den Baron d´Arros, dass in ihrem Land niemand zum Glauben je gezwungen worden war und es auch nicht werden sollte („...intention n´a point esté et n´est encores qu´ilz soyent contraints par force et violence de se reanger à ladite Religion“, d´Aas 2002, 452).
Als sie sich bei der Einführung der Reformation in ihren Ländern unnachgiebig zeigte, zitierte der Papst sie nach Rom zwecks eines Ketzerprozesses. Da sie dieser Einladung nicht folgte, exkommunizierte er sie. Der Bann war eine ernste Bedrohung, da jeder katholische Herrscher jetzt das Recht hatte, ihre Länder an sich zu reißen und sie abzusetzen, eine Chance, die Philipp II. von Spanien sich nicht entgehen lassen würde. Katharina von Medici verteidigte deshalb Jeanne, weil sie keine spanische Präsenz auf der französischen Seite der Pyrenäen dulden wollte. Außerdem war sie eine Verfechterin der gallikanischen Freiheit der französischen Kirche und meinte deshalb, der Papst solle sich nicht in die Angelegenheiten der Kirche einmischen.
Königin der Hugenotten
Nach dem ersten Religionskrieg (1562-63) ließ Katharina von Medici den jungen Karl IX. mündig erklären und führte ihn mit dem Hof auf eine große Frankreichreise, die mehrere Jahre dauerte. Der Zweck dieser Reise war es, den König dem Volk zu zeigen, und damit die Loyalität der Bevölkerung zu erhalten. Jeanne wurde als Vasallin einberufen und stieß Ende Mai 1564 zum Zug in Macon.
Ihr Sohn Heinrich nahm auch Teil an diese Reise und seinetwegen stritten die zwei Königinnen sich, weil Jeanne ihn bei ihren protestantischen Gottesdiensten dabei haben wollte, und Katharina wünschte, dass er mit der königlichen Familie zur Messe gehe. Schließlich sandte Karl IX. Jeanne zu ihrem Besitz in Vendôme, während Heinrich als Gouverneur von Guyenne den Zug begleitete und in den Städten für den feierlichen Empfang des Königs sorgte.
Jeanne durfte nicht mit nach Bayonne, wo Katharina ihrer Tochter Elizabeth, Königin von Spanien, begegnen wollte. Philipp II. sandte als seinen Gesandten den Herzog von Alba, der auf dem Weg in die Niederlande war. Die Hugenotten waren später überzeugt, dass Alba und die Königinmutter in Bayonne ihre Ausrottung geplant hatten. Sicher ist, dass Alba in den Niederlanden mit aller Härte gegen die Protestanten vorging, und es ist durchaus möglich, dass er versuchte, Katharina auf seinen mörderischen Kurs einzustimmen. Schon 1568 – also vor der Bartholomäusnacht! – schrieb Jeanne, dass die Waffen, die gegen die Hugenotten verwendet werden sollten, in Bayonne geschmiedet worden seien (Ample déclaration).
Jeanne und Heinrich trafen sich später in Paris. 1566 ersuchte sie erneut um Erlaubnis, mit ihren beiden Kindern nach Béarn zu fahren, was ausgeschlagen wurde. Sie erhielt aber Erlaubnis, ihren Sohn in seinen französischen Ländereien herumzuführen, und Anfang 1567 reiste sie dann mit ihm nach Vendôme, und von dort setzte sie sich unerlaubt ab nach Béarn. Damit machte sie laut des Biographen Heinrichs, Pierre Babelon, aus einem französischen Prinzen einen Ausländer, und vor allem einen Hugenotten.
Von 1567 an arbeitete Jeanne für die Zukunft ihres Sohnes. Ihre Lebensaufgabe, schrieb sie selbst, sei: Gott, Königtum und ihr Blut. Mit Gott war die reformierte Religion, die wahre Kirche Gottes, gemeint. Mit dem König ihr Status als Vasallin und – trotz Béarn – als Französin, und mit dem „Blut“, die Familie, zuallererst ihr Sohn Heinrich. Er sollte von jetzt an kein Höfling mehr sein, sondern die Aufgaben eines Regenten lernen. Als ein Aufstand in Navarra niedergeschlagen worden war, wurde er dorthin geschickt, um die Basken zu befrieden. Als 14jähriger hielt er für seine Untertanen eine Rede, in welcher er ihr Fehlverhalten geißelte, ihnen die Gunst der Königin zusicherte, falls sie sich verbessern würden, und seinen berühmten Charme mit seinem Autoritätsanspruch verband.
Im Herbst 1567 versuchten die Hugenotten, die sich von der Aufrüstung des Königs bedroht fühlten, Karl IX. in ihre Gewalt zu bringen. Die Entführung missglückte, und die königliche Familie suchte, beschützt von den schweizerischen Söldnern, die die Ängste der Hugenotten verursacht hatten, Zuflucht in Paris. Die Hugenotten belagerten die Stadt. Im November wurden sie vor den Toren von St. Denis geschlagen und mussten sich in die Provinz zurückziehen, wo sie den Kampf bis zum Friedenschluss von Longjumeau im März 1568 fortsetzen.
Der Friedensvertrag war an sich nicht ungünstig für die Hugenotten, nur haperte es wie immer mit der Umsetzung. Katholische Behörden waren über die für die Hugenotten günstigen Bedingungen empört und setzten sie nicht um. Der Protestant La Noue schrieb in seinen Erinnerungen, dass der Krieg zwar viel Unheil bringe, aber dieser elende kleine Friedensvertrag sei viel schlimmer für die Reformierten, die in ihren Häuser umgebracht wurden, ohne dass sie sich zu wehren wagten („ …une guerre est misérable et qu´elle apporte avec soy beaucoup des maux…cette méchante petite paix est beaucoup pire pour ceux de la Réligion, qu´on assassinoit en leur maisons, et ne s´osoyent encores défendre“, d´Aas 2002, 382) Im Laufe des Sommers 1568 versuchten die Gruppierungen noch einmal miteinander zu reden, Karl IX. sandte einen Botschafter nach Béarn, und Jeanne verfasste ein Sendschreiben an den König mit dem Antrag, den Frieden in Guyenne wiederherzustellen.
In der Zwischenzeit fühlten sich der Prinz von Condé und der Admiral Coligny auf ihre Schlösser in Bourgogne zunehmend bedroht. Der Herzog von Alba wollte in den Niederlanden mit Feuer und Schwert den Protestantismus auszurotten, und Flüchtlinge berichteten ihnen von seinem Terror. Am 23. August 1568 flüchteten sie mit ihren Familien und Angehörigen über die Loire nach La Rochelle. Die Überquerung der Loire erinnerte fast an den biblischen Durchzug durchs Schilfmeer: so viele Hugenotten hatten sich angeschlossen, dass der Zug fast wie eine Völkerwanderung aussah, und die Loire hatte in der Augusthitze einen so niedrigen Wasserstand, dass Sandbanken in der Mitte auftauchten. Dementsprechend sangen alle Psalm 114 vom Auszug der Israeliten aus Ägypten, als sie hinüber waren. Die Parallele wurde noch einmal deutlich, als die königlichen Truppen, die sie verfolgten, wegen plötzlich einsetzenden Hochwassers den Fluss nicht überqueren konnten.
In dieser Situation war Jeanne zutiefst gespalten. Bislang hatte sie die Kriege moralisch unterstützt, aber nicht selbst teilgenommen. Falls es zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen sollte, konnte sie immer mit ihren Kindern in der uneinnehmbaren Festung Navarrenx Zuflucht suchen. Sie hatte jedoch ihren Sohn, der als zukünftiger Führer der Hugenotten das Kriegshandwerk lernen sollte, und so musste sie wählen, ob sie in Béarn unter ihrem Volk bleiben oder sich den Hugenotten anschließen sollte: „ich hatte den Krieg im Bauch“ schrieb sie danach („J´eu la guerre en mes entrailles“, Ample declaration). Sie setzte den Baron d´Arros als Statthalter ein, und Anfang September begab sie sich in Eilmarsch nach La Rochelle (Cocula 2004). Dort konnte sie ihren Sohn dem Prinzen von Condé überantworten. Sie schrieb unterwegs eine Reihe Briefe an Karl IX., an Katharina von Medici, an ihren Schwager, den Kardinal von Bourbon und an die Königin Elizabeth von England, um ihren Entschluss zu begründen. Angekommen in La Rochelle schrieb sie eine Erklärung („Ample declaration“) um der Öffentlichkeit zu erklären, warum sie sich der hugenottischen Armee zugesellte.
Die Hugenotten unter ihren Anführer aus der königlichen Familie wollten nicht als Aufrührer dastehen. Sie behaupteten, die erzkatholische Partei sei schuld daran, dass königliche Befehle nicht vollzogen wurden. Die Katholiken mit ihren Verbindungen nach Spanien und Rom seien Landesverräter. Die Politik des Kardinals von Lorraine verdient laut Sutherland (1974) keinen anderer Namen. Wenn Jeanne vom Frieden sprach, meinte sie eine Duldung der Hugenotten in Frankreich. Die Forderungen der Hugenotten waren immer dieselbe: Erlaubnis, Gottesdienste zu feiern, Gerichte mit zur Hälfte hugenottischen Richtern, sichere Zufluchtsstädte – deren Anzahl schwankte in den Verhandlungen – und Zugang zu Ausbildung und Beamtenstellen gleichrangig mit den Katholiken. Die Provinz Languedoc unter dem moderat katholischen Gouverneur Montmorency-Damville war ein friedlicher Ort in den Religionskriegen, weil Damville den Hugenotten solche Rechte einräumte, und die katholische Bevölkerung sich damit abfand.
Im März 1569 fand eine Schlacht bei Jarnac statt. Der Prinz von Condé kämpfte mit, wurde verwundet und nach der Schlacht ermordet. Es gelang Admiral Coligny, die hugenottischen Truppen zusammenzuhalten, aber der Verlust des Prinzen war ein herber Schlag. Heinrich von Navarra war jetzt der ranghöchste Prinz, und zusammen mit seinem Vetter, dem gleichaltrigen Heinrich von Condé, wurde er jetzt Oberbefehlshaber über die Armee der Prinzen. In Wirklichkeit lag die Verantwortung für die Kriegsführung bei dem erfahrenen Admiral, und die beiden Prinzen wurden seine Pagen genannt.
Jeanne blieb in La Rochelle, während Coligny mit den Prinzen im Krieg war, und sie konnte, unterstützt von einem Rat adliger Hugenotten, die „Regierungsgeschäfte“ regeln. Sie schrieb an England und nach Deutschland. Sie unterzeichnete Erlässe, versuchte Geld für das Heer aufzutreiben, pfändete ihren schönsten Schmuck für einen Kriegsdarlehen an Elizabeth von England und ließ ein Kriegsschiff namens „Die Hugenottin“ bauen.
So wie sie immer behauptete, nicht gegen den König, sondern gegen seine schlechten Ratgeber zu kämpfen, so behauptete Karl IX., dass sie in La Rochelle von den Hugenotten gefangen gehalten wurde, und er ließ den Baron Terride mit einer „Befreiungsarmee“ in Béarn einfallen. In kürzester Zeit waren ganz Béarn und Navarra erobert und zum Katholizismus zurückgeführt. Nur der Baron d`Arros hielt im Navarrenx stand. Um ihre Länder zurückzuerobern, sandte Jeanne den Graf von Montgommery mit einer „Hilfsarmee“ nach Navarrenx. In noch kürzerer Zeit als Terride gebraucht hatte, verjagte er ihn aus Béarn. Die Befreiung von Terride wurde in Pau mit einem Festgottesdienst gefeiert, wobei Pierre Viret über Psalm 124, 7: „Unsere Seele ist aus dem Netz des Vogelfängers entkommen“ predigte.
Vom Winter 1569 bis zum Frühjahr 1570 führte Coligny sein Heer mit den Prinzen Heinrich von Navarra und Heinrich von Condé durch ganz Südfrankreich und von Provence nach Norden, bis er Paris bedrohte. Der König hatte kein Geld mehr, um Krieg zu führen, und musste notgedrungen Friedensverhandlungen einleiten. Im August 1570 wurde dann der Frieden von St. Germain geschlossen. Wiederum war Jeanne d´Albret diejenige, die auf Augenhöhe mit dem König verhandeln konnte. Der Vertragstext erklärt immer wieder, dass der König die Bedingungen seiner Tante erfüllen wollte (Sutherland 1980, Potter 1997).
Jeanne blieb vorläufig in La Rochelle. Im April 1571 fand dort die Nationalsynode der reformierten Kirchen Frankreichs statt. Theodor Beza kam aus Genf angereist, um die Synode zu leiten. Pierre Viret wollte teilnehmen, starb aber vorher, vermutlich hatte seine Gesundheit in der Gefangenschaft unter Baron Terride gelitten. Auf der Synode wurde das französische Glaubensbekenntnis von 1559 neu verhandelt und die endgültige Fassung als „Bekenntnis von La Rochelle“ beschlossen. Darüber hinaus wurde eine Kirchenordnung für Béarn beschlossen, und die Synode diskutierte Fragen, die Jeanne d´Albret gestellt hatte. Als Ersatz für Pierre Viret bekam sie Nicolas des Gallars zur Seite gestellt. Er war Calvins Sekretär gewesen, danach hatte er die „Strangers´ Church“, die Kirche für Ausländer in London, als Nachfolger für Johannes à Lasco geleitet und dann an Bezas Seite im Colloquium von Poissy 1561 gestanden. Er war Pastor in Orléans gewesen und wurde jetzt Seelsorger für Jeanne d´Albret und ihr theologischer Ratgeber für die Kirche in ihrem Land.
Er war eine gute Wahl, denn während Beza sehr an dem Konzept von Genf hing und ein presbyteriales Kirchenverständnis (Kingdon 1967) hatte, war des Gallars in England gewesen, als Königin Elizabeth nach dem Tod ihrer katholischen Schwester die anglikanische Kirche einführte. Außerdem behauptet Bernard Roussel (2004), dass er das Buch Martin Bucers „De regno Christi“ von 1550 mitbrachte. Dieses Buch ist dem englischen König Edward VI. gewidmet und beschreibt, wie ein König eine reformierte Kirche leiten kann. Damit hatte des Gallars ein Konzept für eine von einer Fürstin geleitete Kirche, die dann in den Jahren als Heinrich und Katharina von Navarra das Erbe der Mutter verwalteten, Bestand hatte.
Während Jeanne in La Rochelle noch weilte, ereilte sie ein Angebot von Katharina von Medici, ob ihren Sohn Heinrich die Tochter Katharinas heiraten mochte. Hugenotten und Katholiken würden sich versöhnen und die Häuser Valois und Bourbon sich nahekommen. Dieses Angebot war zu verlockend, um es auszuschlagen, aber Jeanne traute Katharina nicht so recht, jedenfalls wollte sie nicht gleich nach Paris ziehen, um über die Ehe zu verhandeln.
Stattdessen fuhr sie nach Pau zurück, führte die neu beschlossene Kirchenordnung ein und kümmerte sich um ihre Länder. Die Tuberkulose machte sich bemerkbar und sie wollte zur Kur in die Bergen fahren. Währenddessen zogen sich die Eheverhandlungen hin, bis Jeanne endlich im Frühjahr 1572 nach Paris zog. In den Briefen an ihren Sohn hört man von den Verhandlungen, von ihrer Missbilligung des höfischen Lebens und von ihrem Ärger mit Katharina. Jeanne wollte so viele Rechte wie möglich für ihren Sohn und die Hugenotten aushandeln. Am Ende musste sie es aufgeben, Margareta von Valois, Margot genannt, zum reformierten Glauben zu bekehren. Dafür hoffte sie aber, dass das Brautpaar nach Béarn ziehen würde. Eine königliche Mischehe war etwas ganz Neues und musste in Detail besprochen und geplant werden. Jeanne handelte das Meistmögliche für ihren Sohn aus und im April 1572 wurde eine Einigung erzielt. Heinrich sollte allerdings noch eine Weile in Béarn bleiben und Jeanne bereitete in Paris die Hochzeit vor.
Die zähen Verhandlungen im Frühjahr hatten viel Kraft gekostet, Jeanne hielt sich aber tapfer. Im Juni brach sie zusammen und starb am 9. Juni an der Tuberkulose, die sie seit Jahren geplagt hatte. Später entstanden Gerüchte, sie sei von Katharina von Medici vergiftet worden. Diese sollte ihr ein Paar Handschuhe, die von ihrem privaten Giftmischer präpariert worden seien, geschenkt haben. Da Katharina nach den Massakern von St. Bartholomäus, die in der Periode von August bis November 1572 stattfanden, von den Hugenotten als der Inbegriff des Bösen dargestellt wurde, gehört der Giftmord an Jeanne d´Albret zu den Verleumdungen.
Heinrich traf erst etwas später in Paris ein. Im Testament Jeannes hatte sie sich gewünscht, in Béarn bei ihrem Vater beerdigt zu werden. Ihr Sohn setzte sich über ihren letzten Willen hinweg: sie wurde nach Vendôme geführt und neben ihrem Mann, Anton von Bourbon, bestattet.
Trotz ihre Fähigkeiten wurde sie eine Fußnote in der Geschichte Frankreichs: ihr Sohn wurde zwar als Heinrich IV. König von Frankreich, aber er wurde katholisch und aus den Hugenotten wurde, dank des Ediktes von Nantes 1598, eine geduldete Minderheit. Die Kirche, die Jeanne in Béarn aufgebaut hatte, wurde unter ihrem Enkelsohn, Ludwig XIII., verboten. 1685 wurde dann das Edikt von Nantes aufgehoben, und die Reformierten wurden grausam verfolgt. Viele flüchteten, viele konvertierten und viele wurden umgebracht. Die großen Hoffnungen, die die Hugenotten um Jahr 1560, als Jeanne konvertierte, hegten, erwiesen sich als trügerisch.
Wenn auch letztlich nicht erfolgreich, war sie dennoch bewundernswert. Mit dem Admiral Coligny zusammen hatte sie den Frieden von St. Germain errungen, dann eine Landeskirche aufgebaut und ihre Kinder gefördert. Sie war die reformierte Präsenz in der königlichen Familie und in ihren letzten Jahren wurde sie die Königin der Hugenotten.
Stammtafeln der Familie von Valois und der Familie von Bourbon (PDF)
Literatur
Quellen:
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Sekundärliteratur:
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Nielsen, Merete: Marie Dentière,
Calvins Theologie des Heiligen Geistes
Von Michael Beintker, Münster
(Johannes Calvin)
Inhalt:
1. Die Geisterfahrungen des Glaubens
2. Calvins Geistlehre in trinitätstheologischer Perspektive
3. Das Schöpferwirken des Heiligen Geistes
4. Das Wirken des Geistes in Wort und Sakrament
5. Resümee
1. Die Geisterfahrungen des Glaubens
Unter dem Titel „De modo percipiendae Christi gratiae“ entfaltet Calvin im dritten Buch der Institutio[1] die eigentliche Soteriologie. Hier werden die Grundfragen des Christseins besprochen: Was ist überhaupt Glaube und wie entsteht er? Weshalb muss der Mensch durch Buße und Wiedergeburt erneuert werden und weshalb soll er die Sünde in sich bekämpfen? Welche Missverständnisse der Heilserfahrung sind in der römischen Kirche wirksam? Wie lebt man eigentlich als Christ? Was ist Gnade und was versteht man unter der Rechtfertigung durch den Glauben? Wie wird man ihrer gewiss und wie verhält sich die Rechtfertigung zur Bewährung der christlichen Existenz? Wie begegnet man den Zerreissproben des Leidens? Was ist Freiheit und wie frei ist eigentlich der Christenmensch? Das längste Kapitel der Soteriologie und auch der ganzen Institutio ist dem Gebet und dem Leben im und aus dem Gebet gewidmet (III,20). Erst dann entwickelt der Reformator die Lehre von der Erwählung (III,20-24), die manchen als das besondere Spezifikum Calvins und des Calvinismus gilt. Wie es sich gehört, gipfelt die Soteriologie in der Eschatologie – in der Klärung der Frage, was uns nach diesem Leben erwartet.
Alle diese Ausführungen werden mit einer Ouvertüre der besonderen Art eröffnet – mit einem Kapitel über den Heiligen Geist und seine Bedeutung für den christlichen Glauben: „Was uns von Christus gesagt ist, das kommt uns durch das verborgene Wirken des Geistes [arcana operatione Spiritus] zugute“ (so die Überschrift zu III,1). Ohne den Bezug auf den Heiligen Geist kann man nicht vom Heil und nicht vom christlichen Leben reden. Geisterfahrung ist die Voraussetzung aller Glaubenserfahrung, ja Glaubenserfahrung ist Geisterfahrung. Dem versucht Calvin Rechnung zu tragen, indem er seine Soteriologie ganz bewusst auf eine pneumatologische Basis stellt. Ja noch mehr: Schon an dieser Stelle erweist sich die Pneumatologie als ein ganz zentrales und profilbestimmendes Thema der Theologie des Reformators.
Die pneumatologische Dimension von Calvins Theologie und ihre Bedeutung für den heutigen pneumatologischen Diskurs wird immer wieder unterschätzt. Das kann man z.B. daran erkennen, dass sich bedeutende dogmatische Geistlehren der Gegenwart allenfalls beiläufig auf Calvin beziehen und die innovativen Potentiale seiner Geistlehre ungenutzt brach liegen lassen. Andererseits ist eine der bedeutendsten und gehaltvollsten Arbeiten zur Theologie Calvins gerade seiner Geistlehre gewidmet: die Untersuchung des Lutheraners Werner Krusche zum Wirken des Heiligen Geistes nach Calvin. Diese Arbeit hat Maßstäbe gesetzt und ist für die Beschäftigung mit Calvins Theologie im allgemeinen und mit seiner Pneumatologie im besonderen nach wie vor unverzichtbar. Die ältere Untersuchung des Niederländers S. van der Linde läuft auf eine Überprüfung der Barthschen Pneumatologie anhand der Auffassungen Calvins hinaus[3]. Hier in Apeldoorn wurde vor vier Jahren die Dissertation von Arie Baars über Calvins Trinitätslehre angenommen, die immer wieder auch auf Gottes Geist eingeht[4]. 2007 hat Myung-Sun Moon zum Wirken des Heiligen Geistes in der Christusgemeinschaft promoviert und dazu die erste und die letzte Ausgabe der Institutio verglichen[5].
Der Heilige Geist schafft Verbundenheit und Gemeinschaft. Das gilt auf verschiedenen Ebenen. Es gilt zuerst – wie wir noch sehen werden – auf der Ebene der trinitarischen Beziehungen im Geheimnis Gottes selbst. Es gilt sodann für die Gemeinschaft der Glaubenden untereinander – für die communio sanctorum. Und es gilt für die Art, in der Gott die Gemeinschaft zu uns Menschen selber sucht, herstellt und lebt, indem er in Jesus Christus zu uns kommt. In der Christusgemeinschaft des Glaubens ereignet sich die intensivste Begegnung zwischen Gott und Mensch. Ja, die Existenz im Glauben kann nach Calvin regelrecht als „unio cum Christo“, als Einung mit Christus verstanden werden (vgl. III,1,3). Calvin kann sich dafür etwa auf Eph 5,30 berufen, wo die Christen als Glieder am Leib Christi angesprochen und also „Fleisch von seinem Fleisch und Bein von seinem Bein […], ja, mit ihm gänzlich eins [unum cum ipso] werden“ (ebd.). Christsein ist nach Calvin intensiv verwirklichte und intensiv gelebte Christusgemeinschaft.
Dass dies sich aber überhaupt ereignen und unter uns Gestalt gewinnen kann, verdanken wir dem Wirken des Heiligen Geistes. Ohne ihn würde uns Christus ganz äußerlich – „extra nos“ – bleiben (III,1,1). Ohne ihn wären wir von Christus getrennt, wäre alles, was er für uns und unser Heil getan hat, ohne Nutzen und Bedeutung für uns (vgl. ebd.). Die ganze Christologie bliebe nichts anderes als eine fruchtlose Spekulation (vgl. III,1,3). Erst die verborgene Wirksamkeit des Geistes (arcana Spiritus efficacia) führt dazu, dass wir Christus und seine Güter genießen. So wird der Heilige Geist als das „Band“ definiert, „durch das uns Christus wirksam mit sich verbindet [Spiritum sanctum vinculum esse, quo nos sibi efficaciter devincit Christus]“ (III,1,1). Man beachte die für Calvins Geistlehre signifikante Betonung der „efficacia“ und des „efficaciter“. Durch den Geist kommt die Christusgemeinschaft überhaupt erst zur Wirkung. Dabei ist es wichtig, dass hier der Sohn das Subjekt des Handelns ist. Calvin beobachtet, dass in der Schrift sowohl vom Geist des Vaters als auch vom Geist des Sohnes die Rede sein kann (vgl. III,1,2). Im Horizont des christlichen Lebens wird der Geist primär als Geist Christi angesprochen. Christus vergegenwärtigt sich uns im Geist und durch den Geist – deshalb wird die Geistlehre von Calvin in dieser Hinsicht bewusst christologisch ausgerichtet.
Zwei weitere Konkretionen sind damit verknüpft: Heiligung und Glaube. Der so das Christusgeschehen zur Wirkung bringende Geist wird als „Geist der Heiligung“ (Spiritus sanctificationis) charakterisiert und von seinem allgemeinen Wirken im Bereich der Schöpfung unterschieden (vgl. ebd. sowie III,3,14). Der Geist der Heiligung – wobei hier an die Absonderung von der Welt der Sünde und die Bestimmung zur Hoffnung auf das ewige Leben gedacht ist – erweist sich „als die Wurzel und der Same des himmlischen Lebens in uns“ (III,1,2), mit 2 Kor 1,22 als „Unterpfand und Siegel unseres Erbes“ (III,1,3). Dies wiederum ist nur möglich, weil wir glauben können. Und so wird – und dies ist eine klassische Kennzeichnung – der Glaube als das „vornehmste Werk des Heiligen Geistes“ (III,1,4) hervorgehoben, muss auf die pneumatologische Ouvertüre folgerichtig das große Kapitel über den Glauben folgen (III,2).
Der Geist führt uns allein durch den Glauben an das Licht des Evangeliums heran; er ist unser innerer Lehrer (doctor internus), „durch dessen Wirken die Verheißung des Heils in unser Inneres eintritt“ (III,1,4). Ohne ihn würde man für die Erkenntnis Christi blind bleiben, seine erleuchtende Wirkung könne man durchaus als die Sehschärfe unseres Inneren (mentis nostrae acies) bezeichnen (ebd.). So fußt die Realität des ganzen christlichen Lebens auf dem Wirken des Heiligen Geistes.
2. Calvins Geistlehre in trinitätstheologischer Perspektive
Im Heiligen Geist begegnet uns authentisch Gott selbst. Und im Heiligen Geist begegnet uns authentisch Jesus Christus selbst. Beide begegnen uns, indem sie sich uns vergegenwärtigen und in einer spezifischen Weise von uns Besitz ergreifen. Dass sie dies tun, wirkt der Heilige Geist. Der Heilige Geist ist diejenige Seinsweise im Geheimnis des dreieinigen Gottes, die für Vergegenwärtigung, Gegenwart, Aktualität, dichteste Nähe und Gemeinschaft steht.
Solche Aussagen, mit denen ich bereits versucht habe, Calvins Denkansatz wiederzugeben, sind nur auf dem Boden trinitarischen Denkens möglich, eines Denkens also, das ganz bewusst von der Dreieinigkeit Gottes ausgeht und von daher die Realität und das Wirken des Heiligen Geistes zu verstehen versucht. Gott begegnet uns als Vater, Sohn und Heiliger Geist und bleibt doch in allen drei Seinsweisen immer ein- und derselbe Gott (vgl. I,13,16). Aber Einheit kann nicht undifferenzierte Identität bedeuten. Calvin bemerkt, dass ihm ein Wort des Gregor von Nazianz besonders gefallen habe: „Ich vermag nicht, einen zu denken, ohne sofort von den dreien umstrahlt zu werden; und ich kann die drei nicht scheiden, ohne auf den einen zurückzukommen.“ (I,13,17)[6] Hier hängt tatsächlich alles mit allem zusammen, so dass nur von der Unterscheidung in der Einheit und Einheit in der Unterscheidung gesprochen werden kann. So muss die „unica Dei essentia“[7] im Sinne des biblischen Zeugnisses differenziert werden: einerseits darf die Einheit Gottes nicht verletzt werden und andererseits dürfen die besonderen Spezifika der drei göttlichen Seinsweisen nicht nivelliert werden.[8] Das erreicht Calvin, indem er die Spezifika über die Verhältnisse – die relationes – zwischen Vater, Sohn und Geist bestimmt.
Vater, Sohn und Geist sind in der unitas essentiae[9] vereint und haben ohne die geringste Einschränkung an ihr Anteil. Der einfache Gottesname (simplex Dei nomen) lässt eine Relation nicht zu, deshalb kommt er dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist ununterscheidbar in gleicher Weise zu.[10] Sobald aber das Verhältnis zwischen Vater, Sohn und Geist beachtet wird, kann man über die jeweilige Relation zwischen ihnen ihre Unterscheidung in der Einheit erfassen. „Tritt neben den Vater der Sohn, dann kommt die Relation zum Vorschein: und so unterscheiden wir zwischen den Personen [der Trinität].“[11] Calvin steht damit in einer bewährten Tradition: Er kann sich für diese Rezeption des Ausdrucks relatio auf Augustinus berufen und erweist sich diesbezüglich als sein adäquater Schüler.
Schon in der Kontroverse mit Peter Caroli, die eine wichtige Etappe auf dem Weg Calvins zu einer ausreflektierten immanenten Trinitätslehre darstellt, bezog sich Calvin auf Augustinus und auch auf den Relationsbegriff[12]. In der Institutio zitierte er unter anderem seit der Ausgabe von 1543 aus Augustinus’ Auslegung des 68. Psalms[13]: „Christus wird an und für sich Gott genannt, in seinem Verhältnis zum Vater aber Sohn. Und andererseits: der Vater wird an und für sich Gott genannt, in seinem Verhältnis zum Sohn aber Vater. Wenn er also dem Sohn gegenüber Vater ist, so ist er eben nicht der Sohn, und wenn der Sohn gegenüber dem Vater Sohn heißt, so ist er eben nicht der Vater; der aber an und für sich Vater und der an und für sich Sohn genannt wird, der ist derselbe Gott!“ (I,13,19) Sie unterscheiden sich gerade in ihrem jeweiligen Gegenüber von Ich und Du und sind doch immer Eines. Calvin schlussfolgert: Ohne Bezug auf den Vater können wir den Sohn sogar den einzigen Ursprung (unicum principium) nennen, „wenn wir aber seine Relation zum Vater [relatio quae illi cum Patre est] beachten, so sagen wir mit Recht, daß der Vater der Ursprung des Sohnes [Filii principium] sei.“ (Ebd.)[14] Ausdrücklich beruft sich Calvin für diese – von ihm als unspekulativ bewertete[15] – Relationentheorie auf Augustinus’ Ausführungen im fünften Buch von „De trinitate“[16].
Die Unterscheidung von Vater, Sohn und Geist hängt mit der Pluriformität des Wirkens Gottes zusammen: Gott als Vater tut etwas anderes als Gott als Sohn, und nochmals etwas anderes tut Gott als Heiliger Geist (vgl. I,13,17). So wird das Werk der Schöpfung auf Gott den Vater und das Werk der Versöhnung und Erlösung auf Gott den Sohn zurückgeführt. Das scheint – auch angesichts der biblischen Befunde – so gut wie selbstverständlich zu sein. Weitaus schwieriger ist es dagegen, eine spezielle Tätigkeitszuschreibung (Appropriation) für den Heiligen Geist vorzunehmen, die auf einen göttlichen Wirkungsbereich verweist, das sich von den Werken der Schöpfung, Versöhnung und Erlösung material unterscheidet. Die Appropriation für den Geist kann nicht in einem neuen thematischen Inhalt gesucht werden, der als Eigenthema gegenüber Schöpfung, Versöhnung und Erlösung darstellbar wird. Das zeigt sich auch im Neuen Testament und wird in Joh 16,13-15 sogar ausdrücklich unterstrichen:
„Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, wird er euch in alle Wahrheit leiten. Denn er wird nicht aus sich selber reden[17]; sondern was er hören wird, das wird er reden, und was zukünftig ist, wird er euch verkündigen. Er wird mich verherrlichen; denn von dem Meinen wird er’s nehmen und euch verkündigen. Alles, was der Vater hat, das ist mein. Darum habe ich gesagt: Er wird’s von dem Meinen nehmen und euch verkündigen.“ – Er wird nicht aus sich selber reden: Die Initiative des Geistes besteht nicht darin, dass er das Wirken und Reden des Vaters und des Sohnes mit einem gleichsam eigenen Thema anreichert und ergänzt. Er tritt – so gesehen – immer hinter dem Wirken und Reden des Vaters und des Sohnes zurück. Seine „arcana operatio“ (vgl. Überschrift zu III,1) liegt in seinem Wesen begründet. Auf dem Hintergrund des Wirkens des Vaters und des Wirkens des Sohnes ist Gottes Geist mit einem Transparent zu vergleichen, durch das das Licht ihres Wirkens in unser Leben fällt. Aber ohne dieses Transparent käme das Licht gar nicht zu uns! Ohne Gott in der Zuwendung des Heiligen Geistes blieben Gott in der Zuwendung des Vaters und in derjenigen des Sohnes fremde, ferne Größen.
Genau das hat Calvin mit seiner Pneumatologie herauszuarbeiten versucht. Gerade das aktuelle Zur-Wirkung-Kommen des Werks des Vaters und des Werks des Sohnes müssen nochmals als ein eigenes Werk verstanden werden. Das Werk des Geistes ist zwar transparent, aber zugleich ein unverwechselbar, unvertretbar eigenes Werk der göttlichen Trinität. Der Vater ist der Schöpfer. Aber dass in der Realisierung des Schöpferwortes Dasein entsteht, ist Werk des Geistes. Der Sohn ist der Versöhner und Erlöser. Aber dass in der Realisierung von Versöhnung und Erlösung Menschen tatsächlich versöhnt und erlöst werden, ist wiederum Werk des Geistes. Der Geist bringt zur Wirkung, was Gott der Vater und Gott der Sohn tun. Und indem der Geist das tut, schafft er Leben, schenkt er Wahrheit, stiftet er Beziehung, eröffnet er Kommunikation, durchbricht er jegliche Abschirmung von Gott, reißt er uns aus der Anfechtung, tröstet er in der Verzweiflung. All das geschieht, damit wir mit Gott und mit Christus zusammengeschlossen werden. Genauer: In der Zuwendung des Heiligen Geistes schließt sich Gott als der Vater und der Sohn mit uns zusammen. Er vergegenwärtigt sich auf die dichteste und innigste Weise, in der er sich vergegenwärtigen kann. Die Seinsweise des Geistes steht also für die Dimension der Gegenwart und der Selbstvergegenwärtigung im Geheimnis Gottes. Geist ist der sich selbst gegenwärtige Gott. Und so ist Geist der uns gegenwärtige Gott. Ohne das verborgene und in der Verborgenheit zuhöchst wirksame Handeln des Geistes wäre die Rede von der Gegenwart Gottes und die Rede von der Gegenwart Jesu Christi inhaltsleer, wäre bestenfalls von einer virtuellen (aber nicht aktuellen) Präsenz die Rede.
So werden Gottes Aktualität, seine Präsenz, sein Wirken in allen Dingen trinitätstheologisch identifizierbar – sie tragen den Namen des Heiligen Geistes. Alles, was Gott wirkt, und alles, was mit diesem Wirken im Zusammenhang steht, ereignet sich in der Gegenwart des Heiligen Geistes. Wenn wir die trinitarischen Relationen so genau wie möglich theologisch verstehen wollen, müssen wir sie als pneumatologische Kategorien begreifen: Indem Gott in der Seinsweise des Geistes in uns zur Wirkung bringt, was Gott in der Seinsweise des Vaters und Gott in der Seinsweise des Sohnes für uns tun, durchbricht er jegliche Selbstverschlossenheit, um uns mit sich zusammenzuschließen. Es gibt keine genauere Appropriationsbeschreibung für das Walten und Wirken des Heiligen Geistes als den Versuch, das Aktionsmoment im Leben des dreieinigen Gottes der Seinsweise des Geistes zuzuordnen. Gott in der Seinsweise des Geistes bedeutet Gott in der kommunikativen Aktion der Liebe. Gottes Gegenwart verwirklicht sich als Geistesgegenwart: Geist ist der uns gegenwärtige Gott. Und Geist ist der sich selbst gegenwärtige Gott.
Geist bedeutet für Calvin: Gott in Aktion, in Wirkung, in dichtester, intensivster Nähe, aber ebenso auch in anonymer, verborgen bleibender Vitalität. Gott in Aktion: Das ist die treffendste Kurzbeschreibung für das Wirken des Heiligen Geistes. Demgemäß hat Calvin die Spezifika der drei Seinsweisen Gottes bestimmt: Dem Vater wird der Anfang des Handelns („principium agendi“) zugeschrieben; er ist aller Dinge Quelle und Brunnen („fons et scaturigo“) (I, 13,18)[18]. Dem ewigen Sohne eignen Weisheit, Rat und „dispensatio in rebus agendis“ (ebd.)[19]. Dem Geist aber werden Kraft und Wirksamkeit im Handeln zugeordnet: „ ... at Spiritui virtus et efficacia assignatur actionis“ (ebd.)[20]. Virtus und efficacia dessen, was der eine Gott als der Vater und als der Sohn tut, bezeichnen die Eigenart des Heiligen Geistes im Geheimnis der Trinität. Gottes Geist wird von Calvin also als diejenige Seinsweise des dreieinen Gottes charakterisiert, in welcher das göttliche Planen und Handeln zur aktuellen Wirkung gelangen. Nochmals: Der Geist tut gegenüber dem Tun des Vaters und dem Tun des Sohnes nichts Eigenes, er präsentiert kein neues Thema, das ergänzend zu den großen Themen von Schöpfung und Erlösung hinzuträte. Das Eigene des Geistes – so Werner Krusche – ist gerade das, „daß er nichts Eigenes tut, sondern das Tun des Vaters und des Sohnes verwirklicht“[21]. Im Geist kommen das Handeln des Vaters und des Sohnes zur Wirkung.
Krusche hat Calvins pneumatologische Präzisierung des göttlichen Wirkens kongenial erfasst und einprägsam so beschrieben: Gott sei für Calvin Heiliger Geist „als der wirksam Handelnde und der handelnd zur Wirkung Gelangende“[22]. Darin bringe Gott als Heiliger Geist „das Wirken des Vaters und des Sohnes zum Ziel“[23]. „Alles, was Gott wirkt – und er wirkt alles und wirkt immer! –, ist in seiner Wirkung Wirken des Heiligen Geistes. Es gibt schlechterdings kein Handeln des Vaters und des Sohnes, das wirksam würde ohne das Wirken des Geistes. Alles göttliche Wirken ist in seiner Spitze pneumatisch. Der Geist ist die Dei manus, qua suam potentiam exercet[[24]]. Und es gilt auch die Kehrseite: wo Gott seinen Geist entzieht oder vorenthält, beläßt er sein Wirken in der Negativität, benimmt er ihm seine Wirksamkeit. Im Kreaturbereich heißt das: Aufhören der Lebendigkeit – also: Tod; im Heilsbereich: das große ‚frustra’ über dem gesamten Heilsgeschehen – und also: Verwerfung.“[25]
Damit wird der heilsgeschichtliche Horizont der Geistlehre deutlich überschritten. Wenn alles göttliche Wirken in seiner Spitze pneumatisch ist, dann gibt es auch einen kreatürlichen Horizont der Geistlehre, denn es muss ja nun realisiert werden, dass auch das Wirken des Schöpfers im Wirken des Geistes an sein Ziel gelangt.
3. Das Schöpferwirken des Heiligen Geistes
Folgerichtig entfaltet sich Calvins Pneumatologie in zwei Richtungen – einmal in die Richtung der Neuschöpfung und Erlösung, die wir im ersten Teil angesprochen haben, und sodann in die Richtung der Schöpfung und Erhaltung des Kosmos und des kreatürlichen Lebens. Wenn alles göttliche Wirken in seiner Spitze pneumatisch ist, müssen creatio und gubernatio der Welt als immer pneumatisch gewirkt sein. Die Pneumatologie wird an dieser Stelle zur trinitarischen Brücke zur Providenzlehre, denn Gottes Geist ist selbstverständlich der effector providentiae[26]. Mit seiner allgemein wirkenden Kraft („virtus generalis“), „wie sie an der Menschheit und auch an der ganzen übrigen Kreatur in Erscheinung tritt, belebt und erhält er uns“.[27] Damit bekommt das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens eine bemerkenswerte pneumatische Grundierung.
In der Geistlehre der Kirche hat es auch vor Calvin ein Wissen um die verborgene Präsenz des Geistes im Werk der Schöpfung gegeben[28]. Die Fülle der alttestamentlichen Belege für das Wirken einer ruah Gottes waren schwerlich zu übersehen. So wie Gott dem erstgeschaffenen Menschen seinen Lebensodem vermittelt (vgl. Gen 2,7), kann auch von ihm gesagt werden, dass er die Schöpfung schlechthin mit seiner ruah erfüllt und dadurch lebendig macht. Ohne Gottes ruah kann man sich im Alten Testament Leben nicht vorstellen. Wenn Gott den Geschöpfen die ruah nimmt, „vergehen sie und werden wieder Staub“ (Ps 104,29). Wenn er aber seine ruah aussendet, werden sie geschaffen – „und du machst neu die Gestalt der Erde“ (Ps 103,30; vgl. Hi 33,4; 32,8). Das alttestamentliche Wissen um die lebensspendende Kraft des sich an die Schöpfung mitteilenden Atems Gottes erlaubt es, Schöpfung und Erhaltung mit einer schöpferischen Beatmung des Geschaffenen durch den göttlichen Hauch zu vergleichen. So Jes. 42,5: Gott der Schöpfer gibt „dem Volk auf der Erde den Odem (nesama) und den Geist (ruah) denen, die auf ihr gehen.“ Oder Ps 33,6: „Der Himmel ist durch das Wort des Herrn gemacht und all sein Heer durch den Hauch seines Mundes.“
So hat auch Luther von einem „duplex Spiritus“ sprechen können: „Duplex spiritus, quem Deus donat hominibus: animans et sanctificans“. Der „spiritus animans“ wirke belebend und inspirierend auf das Geschöpfsein des Menschen. In quasipfingstlicher Sprache konnte Luther sagen, dass alle klugen, geschickten, gebildeten, tapferen und großmütigen Menschen „afflati sunt spiritu Dei animante“, während die Christen und Frommen „habent spiritum sanctificantem“[29]. Es handelt sich freilich um eine singuläre Äußerung, außerdem fällt auf, dass Luther es vermeidet, den „spiritus animans“ als „Spiritus sanctus“ zu charakterisieren. Das wird mit der im Gegenzug gegen die sogenannten Schwärmer vorgenommenen Bindung des Wirkens des Geistes an Wort und Sakrament zu tun haben, nach der alles, „was ohn solch Wort und Sakrament vom Geist gerühmet wird, das ist der Teufel“[30].
Gleichwohl hat Luther in seinen verschiedenen Auslegungen zu Gen 1 auch die Präsenz des Heiligen Geistes im Werk der Schöpfung zur Geltung gebracht, ihn als „das leben und erhaltung aller dinge“ und als „das band“ beschreiben können, „das da alle Creaturen halte und allen yhre ubung und wirckung gebe“[31].
Natürlich hat auch Calvin bei seinen Auslegungen der Genesis das Geistzeugnis der Texte zu beachten gewusst und möchte das Schweben des Geistes über dem Wasser in Gen 1,2b am liebsten im Sinne einer alles tragenden und ordnenden Kraft (vigor) Gottes deuten, wobei er sich auch auf Ps 104,29f. berufen kann[32]. Aber anders als Luther baut er den Weltbezug der Pneumatologie konsequent aus. Damit hat er eine in der Geschichte der Pneumatologie einzigartige Geistlehre vorgelegt – eine Geistlehre nämlich, die nicht nur ihre trinitätstheologischen Implikationen folgerichtig explizit werden lässt, sondern die es versteht, das alttestamentliche Geistzeugnis in vollem Umfang aufzunehmen.
Es bedarf keines Kommentars, dass Christologie und Soteriologie im Zentrum aller pneumatologischen Erwägungen stehen. Der Erkenntnisgrund auch für das Wirken des Geistes im Werk der Schöpfung ist eindeutig mit dem Wirken des „Spiritus sanctificationis“ gesetzt. Aber darüber hinaus gibt es eben eine verborgene Präsenz des Geistes in der Schöpfung. Durch ihn werden alle Dinge getragen und erhalten, wird der Kosmos vor dem Absturz ins Nichts bewahrt, wird auch die außermenschliche Kreatur ins Leben gerufen und am Leben erhalten. Die immer wieder nur zu bewundernde Ordnung und Zweckmäßigkeit in der Schöpfung führt Calvin auf das kreatürliche Wirken des Heiligen Geistes zurück[33]. Gottes Treue zur Schöpfung, welche im Geist wirksam wird, kann Calvin auch als „generalis Dei gratia“ charakterisieren (II,2,17). In besonderer Weise manifestiert sie sich in den Gaben, die der Geist den Menschen für die Gestaltung ihres Lebens und Zusammenlebens verleiht.
So sah Calvin so etwas wie politische Charismen[34], die dem Menschen verliehen werden können, damit gegen die allgemeine Verwirrung des öffentlichen Lebens durch die Macht der Sünde jener Lebenswille zum Zuge kommen kann, dem die Welt ihr Dasein verdankt. Wo auch immer das Leben ermöglicht und gefördert wird und vor dem Sturz in das Chaos und die Katastrophe bewahrt bleibt, sah Calvin den Geist am Werk. Die Vorstellung vom Wirken des Geistes im Werk der Schöpfung führt hier zu einer pneumatologischen Konkretion der Lehre von der göttlichen Vorsehung und Erhaltung der Welt. Was sich auch immer an fördernder Wahrheit in der Profanität zeigt, wird vom Geist gewirkt. Die Welt ist zwar von Gott entfremdet. Aber sie ist nicht so entfremdet, dass nicht hier und dort und immer wieder das Licht der Wahrheit aufzuleuchten vermag und das Leben aller erfreulich und erträglich machen kann. Hier solle keiner fragen: „Was haben denn die Gottlosen [impii] mit dem Heiligen Geist zu schaffen, sie sind doch ganz und gar von Gott getrennt?“ (II,2,16) Es heiße zwar, der Geist Gottes wohne nur in den Gläubigen (vgl. Röm 8,9), aber das müsse auf den Geist der Heiligung bezogen werden, „durch den wir Gott selber zum Tempel geweiht werden“ (ebd.). „Aber darum erfüllt, bewegt und kräftigt Gott durch die Kraft desselben Geistes [eiusdem Spiritus virtute] nicht weniger alle Dinge, und zwar entsprechend der Eigenart jedes einzelnen Wesens, wie er sie ihm durch das Gesetz der Schöpfung [creationis lege] zugewiesen hat.“ (ebd.)
Calvin argumentiert hier faktisch auf der Linie einer Tradition, die man Ambrosius zugeschrieben hat und die im Mittelalter sehr geschätzt worden ist: „Omne verum, a quocumque dicitur, a Spirito Sancto est – Jede Wahrheit, von wem sie auch ausgesprochen werden mag, stammt vom Heiligen Geist.“[35] So heißt es im Kontext des Anthropologie-Kapitels Institutio II,2:
„Sooft wir heidnische [profanos] Schriftsteller lesen, leuchtet uns aus ihnen wunderbar das Licht der Wahrheit [lux veritatis] entgegen. Daran erkennen wir, daß der Menschengeist zwar aus seiner ursprünglichen Reinheit herausgefallen und verdorben, daß er aber doch auch jetzt noch mit hervorragenden Gottesgaben [donis Dei] ausgerüstet und geschmückt ist. Bedenken wir nun, daß der Geist Gottes die einzige Quelle der Wahrheit [unicum veritatis fontem] ist, so werden wir die Wahrheit, wo sie uns auch entgegentritt, weder verwerfen noch verachten – sonst wären wir Verächter des Geistes Gottes! Denn man kann die Gaben des Geistes [dona spiritus] nicht geringschätzen, ohne den Geist selber zu verachten und zu schmähen! Wieso auch? Wollen wir etwa leugnen, daß den alten Rechtsgelehrten die Wahrheit geleuchtet habe, wo sie doch mit solcher Gerechtigkeit die bürgerliche Ordnung und Zucht [civilem ordinem et disciplinam] beschrieben haben? Wollen wir sagen, die Philosophen seien in ihrer feinen Beobachtung und kunstvollen Beschreibung der Natur blind gewesen? Wollen wir behaupten, es hätte denen an Vernunft gefehlt, die die Kunst der Beweisführung dargestellt und uns vernünftig zu reden gelehrt haben?“ (II,2,14)
Calvin verweist weiter auf Mathematik und Medizin und führt die Erleuchtung unserer Vernunft im Kosmos der Wissenschaften auf Gottes Geist zurück (vgl. ebd.). Das Entsprechende gilt für Handwerk und Kunst (vgl. II,2,16). Die auf das Wirken des Geistes zurückzuführende Kunstfertigkeit der Architekten der Stiftshütte, Bezaleel und Oholiab, lässt an eine pneumatologisch begründete Kunsttheorie denken (vgl. ebd.). Und damit wir an dieser Stelle dem Schöpfer recht dankbar sein können, erschuf Gott auch die Toren, „um an ihnen zu zeigen, was für Fähigkeiten eigentlich die Menschenseele auszeichnen, wenn sie nicht von seinem Lichte durchflutet ist“ (II,2,14).
Man hat verschiedentlich gemeint, dass in solchen Textpassagen Calvins heimlicher Renaissancehumanismus zum Vorschein komme. Daran mag richtig sein, dass der Renaissancehumanismus einen Theologen wie Calvin zur Wertschätzung wissenschaftlicher Arbeit inspirierte. Aber schon Calvins rechtfertigungstheologisches Verständnis des Menschen widersprach diesem Renaissancehumanismus ebenso wie Luthers Kritik an Erasmus. Was hier einzig und allein positiv gewürdigt wird, ist die Erleuchtung der menschlichen Vernunft zur sachgemäßen Gestaltung des irdischen Daseins. Und die Würdigung war nur deshalb möglich, weil Calvin hier den Heiligen Geist am Werke sah. An diesem Punkt argumentierte er sehr klar und theologisch fundiert – und verfährt in seiner die Wertschätzung der Vernunft zum Ausdruck bringenden Argumentationsweise m.E. sogar präziser als Luther und die von Luther bestimmte Denktradition.
4. Das Wirken des Geistes in Wort und Sakrament
Wir wenden uns wieder dem Wirken des Heiligen Geistes im Raum des Glaubens und der christlichen Gemeinde zu. Hier verdienen zwei Konkretionen der Geistlehre Calvins unsere besondere Aufmerksamkeit. Die eine Konkretion betrifft Calvins Schriftverständnis und die von ihm entwickelte Lösung des zentralen hermeneutischen Problems. Die andere bezieht sich auf das Verhältnis von Geist und Sakrament und die Deutung der Präsenz des Gekreuzigten und Auferstandenen in der Feier des Abendmahls.
4.1 Geist und Schrift
Die reformatorische Theologie war aus einer neuen Hinwendung zur Heiligen Schrift erwachsen. Die Autorität der Schrift wurde nun nicht mehr aus der Autorität der Kirche abgeleitet; vielmehr hatte sich die Autorität der Kirche und ihrer Lehre an der Autorität der Heiligen Schrift auszurichten und zu messen (vgl. dazu I,7,1-2). So ist auch das Vertrauen, dass sich uns Gott authentisch in der heiligen Schrift mitteilt, nicht davon abhängig, dass die Kirche diese Authentizität feststellt und bekräftig – „die Wahrheit der Schrift erweist sich ganz von selbst“ (I,7,2).
Diese Wahrheit erweist die Schrift für ihre jeweiligen Leser und Hörer freilich nicht ohne das Wirken des Heiligen Geistes. Calvin spricht hier vom testimonium Spiritus sancti arcanum bzw. internum (I,7,4)[36] und hat damit die Lehre von der Schrift um einen bedeutsamen und seitdem immer wieder beachteten Topos erweitert[37]. Woher gewinnen wir eigentlich die Gewissheit, dass die Schrift von Gott zeugt und nicht nur bloßes Menschenwort ist? Wie kommt es dazu, dass die Worte der Schrift Glauben wecken? Das ist die immer wieder brennende Kardinalfrage im Umgang mit der Bibel. Darauf lassen sich durchaus bemerkenswerte gelehrte Antworten entwickeln. Aber letztlich gibt es keine noch so überzeugende Antwort, die sich nicht ihrerseits wieder in eine Frage verwandeln könnte. Trotz aller vernünftigen Gründe, die für den Zeugnischarakter der Heiligen Schrift angeführt werden können und die auch nicht unterschätzt werden dürfen, hält es Calvin für einen Irrtum, „wenn man meint, der Schrift auf dem Wege des Disputierens ihre Glaubwürdigkeit sichern zu können“ (ebd.). Die „Festigkeit der Überzeugung [muss] an höherer Stelle begründet sein als in menschlichen Vernunftgründen, Urteilen oder Mutmaßungen, nämlich im geheimen Zeugnis des Heiligen Geistes“ (ebd.).
Für die Entstehung und Vergewisserung des Glaubens in der Begegnung mit dem Schriftwort tritt Gott selber ein. Das Zeugnis des Geistes weckt Glauben; und erst mit diesem Zeugnis wird uns das Wort der Schrift zur Anrede des lebendigen Gottes. Das ist die Antwort Calvins auf das hermeneutische Problem. Hier entsteht eine innige Korrespondenz von Wort und Geist: „Denn der Herr hat die Gewißheit seines Wortes und seines Geistes wechselseitig fest verknüpft. So kommt es einerseits erst dann in unserem Herzen zu einer festen Bindung an das Wort, wenn der Geist uns entgegenstrahlt, der uns darin Gottes Antlitz schauen läßt. Und andererseits empfangen wir den Geist ohne alle Furcht vor Täuschung, wenn wir ihn an seinem Bilde, an dem Wort wiedererkennen.“ (I,9,3) Calvin verdeutlicht das an den Emmaus-Jüngern, denen Christus das Verständnis der Schrift geöffnet habe (vgl. Luk 24,27), „nicht damit sie ohne die Schrift aus sich selber klug würden, sondern damit sie die Schrift erkennten“ (ebd.).
4.2. Geist und Sakrament
Die enge Korrespondenz zwischen Wort und Geist ist nicht nur in hermeneutischer Hinsicht für die Begegnung mit dem Schriftwort bedeutsam, sie gilt ebenso für die Begegnung mit den verba visibilia, den Sakramenten. Calvin nimmt den Gedanken des testimonium Spiritus sancti bei der Klärung des Sakramentsbegriffs wieder auf. Die Wirkung von Taufe und Abendmahl ist unmittelbar von der Präsenz des Heiligen Geistes abhängig. Durch das Licht des Heiligen Geistes eröffnet Gott dem Wort und den Sakramenten den Zugang zu unserem Herzen; „anderenfalls […] würden sie bloß an unser Ohr klingen oder uns vor die Augen gestellt werden, aber das Innere [interiora] in keiner Weise berühren“ (IV,14,8). Sie würden also gänzlich „extra nos“ bleiben[38]. Allein die Kraft des Heiligen Geistes eröffnet den Sakramenten einen Zugang zu unserer Seele (vgl. IV,14,9). „Ist der Heilige Geist nicht dabei, so können die Sakramente unseren Herzen nicht mehr schenken, als wenn der Glanz der Sonne blinden Augen erstrahlt oder eine Stimme an taube Ohren klingt.“ (ebd.) Ausschließlich beim Geist liegt die virtus agendi, die Wirkkraft, aber den Sakramenten bleibt nur die dienende Funktion überlassen, ein Dienst (ministerium), der ohne die Wirkung des Geistes „leer“ und „wertlos“ bleibt, „aber von großer Kraft erfüllt ist, wenn der Geist im Innern am Werke ist und seine Kraft offenbart“ (ebd.).
Auf diese Weise erreicht Calvin zweierlei: Er kann die Sakramente von dem Verdacht eines magischen Missverständnisses freihalten, nach dem sie schon durch den bloßen Vollzug (ex opere operato) wirken würden. Und er kann andererseits eine nur zeichenhafte Interpretation vermeiden. Die Sakramente wirken etwas, weil der Heilige Geist durch sie wirkt. Sie sind signa efficacia, Wirkzeichen kraft des durch sie wirkenden Geistes. So lässt sich durchaus von einem testimonium Spiritus sancti internum auf sakramentaler Ebene reden. Wort und Sakramente bekräftigen unseren Glauben, indem sie uns den Heilswillen Gottes vor Augen stellen. Umgekehrt bekräftigt der Geist unseren Glauben, „indem er solche (durch Wort und Sakrament gewirkte Bekräftigung) in unsere Herzen eingräbt und sie dadurch wirksam macht“ (IV,14,10).
Die Wirksamkeit des Geistes spielt dann bei der Frage nach der Präsenz Christi im Abendmahl eine prominente Rolle. Bekanntlich präzisiert Calvin die Realpräsenz Christi in der Feier des Mahls als Spiritualpräsenz. Das Mahlgeschehen wird als komplexer Vorgang begriffen, in dem uns der gekreuzigte und auferstandene Christus mit Brot und Wein seine Gemeinschaft schenkt und sich als geistliche Speise darreichen lässt, damit wir ihn empfangen und in ihm an der ganzen Fülle seiner Gnadengaben Anteil erlangen.
Für Calvins Theologie gibt es keine dichtere Gemeinschaft als die, die durch den Heiligen Geist vermittelt und gewirkt wird. Das gilt auch für die Gemeinschaft mit dem zur Rechten Gottes sitzenden auferstandenen Christus, dessen Leib und Blut durch die Selbstvergegenwärtigung im Geist aus der Entfernung des Himmels zu uns dringt, um uns zur Speise zu werden (vgl. IV,17,10). Durch die Wirksamkeit des Heiligen Geistes wird auch hier in Wahrheit geeint, „was räumlich getrennt ist“ (ebd.). Seine verborgene, unbegreifliche Kraft sorgt dafür, „daß wir mit Christi Fleisch und Blut Gemeinschaft haben“ (IV,17,33). Kraft des Wirkens des Heiligen Geistes werden wir, „wenn wir gemäß der Einsetzung des Herrn im Glauben das Sakrament empfangen, wahrhaft der eigentlichen Wirklichkeit des Leibes und Blutes Jesu Christi teilhaftig“[39]. Der Gedanke der Realpräsenz ist für Calvins Auffassung unter der Voraussetzung nachvollziehbar, dass die Selbstvergegenwärtigung Christi durch den Heiligen Geist vermittelt wird, der die Glaubenden mit dem zur Rechten des Vaters sitzenden Menschensohn zusammenschließt. Realpräsenz wird als geistgewirkte Christuspräsenz präzisiert. Das ist folgerichtig: Wenn Gottes Geist die Momente der Präsenz, Gemeinschaft und Nähe im Geheimnis Gottes auf sich vereint, dann kann überhaupt nur pneumatologisch von der Gegenwart Jesu Christi gesprochen werden, auch im Abendmahl.
5. Resümee
Calvin hat uns eine Geistlehre hinterlassen, deren Potentiale weitaus größer sind als das, was man bisher aus ihnen geschöpft hat. Sein pneumatologisches Konzept zeichnet sich durch zweierlei aus:
Erstens durch die christo-soteriologische Konzentration. Das Herzstück seiner Geistlehre bildet die Klärung der Frage, wie Gott und Christus zu uns kommen und wie wir durch den Geist zur Erkenntnis des sich mit uns versöhnenden Gottes geführt werden und in der Gemeinde aus der schöpferischen Fülle des Geistes leben können.
Zweitens: Aber diese Konzentration führt nicht zur Verengung. Sie ermöglicht vielmehr den Blick in die Weite von Kosmos und Geschichte, um die lebensspendenden Manifestationen des Heiligen Geistes auch dort zu erkennen, wo die Welt ihre Schönheit zeigt und vor dem Absturz ins Chaos bewahrt bleibt und wo Menschen in Weisheit erleuchtet werden, um das Gute, Richtige und Menschengerechte zu tun.
Die Pneumatologie ist pfingstlich verankert. Aber von Pfingsten her darf nun auch die vom Elend des Bösen verwirrte Welt im Lichte des Pfingstgeschehens betrachtet werden. Gott ist ihr viel näher, als sie weiß und als wir ihr theologisch zugestehen möchten. Er ist ihr in dichtester Weise nahe – im Heiligen Geist.
[1] Wir zitieren den deutschen Text der Ausgabe von 1559 nach der Übersetzung von Otto Weber: Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion. Institutio Christianae religionis, Neukirchen-Vluyn 21963. Lateinische Zitate entstammen den Opera selecta (OS): Johannes Calvini opera selecta III-V, München 1928-1936.
Werner Krusche, Das Wirken des Heiligen Geistes nach Calvin, Berlin 1957, 11.
[3] S. van der Linde, De Leere van den Heiligen Geest bij Calvijn, Wageningen 1944.
[4] A. Baars, Om Gods verhevenheid en Zijn nabijheid. De Drie-eenheid bij Calvijn, Kampen 2004.
[5] Myung-Sun Moon, Das Wirken des Heiligen Geistes zur Stiftung der Gemeinschaft mit Jesus Christus. Eine Untersuchung zu Johannes Calvins Pneumatologie nach der Institutio von 1536 und der Institutio von 1559, Heidelberg 2007 (http://www.ub.uni-heidelberg.de/archiv/8154/).
[6] OS III, 131, Z. 3-4. Calvin zitiert aus Gregors Taufrede (In sanctum baptisma MSG 36, 418).
[7] Überschrift zu I,13 (OS III, 108, Z. 20 u.ö.).
[8] Vgl. dazu Hans Helmut Eßer, Hat Calvin eine „leise modalisierende Trinitätslehre?“, in: Wilhelm H. Neuser (Hg.), Calvinus Theologus. Die Referate des Europäischen Kongresses für Calvinforschung vom 16. bis 19. September 1974 in Amsterdam, Neukirchen-Vluyn 1976, 113-129.
[9] Vgl. OS III, 116, Z. 33.
[10] Vgl. OS III, 134f. passim.
[11] „ ... ubi autem adiungitur Filius Patri, tunc in medium venit relatio: atque ita distinguimus inter personas“ (OS III, 134, Z. 6f.; Institutio I,13,20).
[12] Vgl. Adversus Petri Caroli calumnias (1545), CO 7, (293-339) 323f.
[13] Vgl. CChr.SL 39, 905f. (Auslegung zu Ps 68,5).
[14] Vgl. OS III, 133, Z. 16ff.
[15] Vgl. OS III, 133, Z. 23.
[16] AaO, Z. 20-22; vgl. CChr.SL 50, 210ff.
[17] Hervorhebung vom Verf.
[18] OS III, 132, Z. 9.
[19] AaO, Z. 10f.
[20] AaO, Z. 11.
[21] Krusche (Anm. 2), 11.
[22] AaO, 11.
[23] Ebd.
[24] Zitat aus OS IV, 4, Z. 21 (Institutio III,1,3).
[25] Krusche (Anm. 2), 11f.
[26] Vgl. Krusche, aaO, 17, 122. – Zur kosmischen und geschichtlichen Entgrenzung der Pneumatologie durch Calvin siehe auch Christian Link, Schöpfung. Schöpfungstheologie in reformatorischer Tradition, Gütersloh 1991 (= HST 7), 125f., 131f., sowie Michael Beintker, Creator Spiritus. Zu einem unerledigten Problem der Pneumatologie, EvTh 46, 1986, 12-26, speziell zu Calvin 20ff.
[27] Institutio 1559, III, 1, 2 (deutsche Übersetzung nach O. Weber), vgl. OS IV, 2, Z. 12-14.
[28] Vgl. zu den Einzelheiten Beintker, Creator spiritus (Anm. 26), 14ff.
[29] Alle Zitate nach WA.TR 5, 367, Z. 12-16 (Nr. 5817).
[30] Die Schmalkaldischen Artikel, in: BSLK 456,3-5.
[31] WA 24,30, Z. 25ff. (Predigten 1527); vgl. auch WA 12, 450, Z. 5-8 (Predigten 1523).
[32] Vgl. CO 23, 16.
[33] Zu den Einzelnachweisen siehe Krusche (Anm. 2), 15ff.
[34] Vgl. aaO 95ff.
[35] Yves Congar, Der Heilige Geist, Freiburg/Br. 1982, 311f.
[36] Vgl. OS III,69, Z. 11 und 70, Z. 5
[37] Vgl. etwa Otto Weber, Grundlagen der Dogmatik I, Neukirchen-Vluyn 41964, 266-273.
[38] Vgl. das oben, S. 3 zum Extra nos Christi Gesagte.
[39] Kleiner Abendmahlstraktat (1541), in: Calvin-Studienausgabe 1.2, 493.
Zitationsweise:
Michael Beintker, Calvins Theologie des Heiligen Geistes, auf: www.reformiert-info.de, August 2008, URL: http://www.reformiert-info.de/2435-0-56-3.html (Abrufdatum)
Michael Beintker
Michael Beintker, Calvins Theologie des Heiligen Geistes.pdf
Vorlesung, gehalten auf der Reformierten Sommeruniveristät 2008 in Apeldoorn.