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Freiheit und Tradition - Predigt zu Galater 2,1-10
von Horst Leske
1 Danach, vierzehn Jahre später, zog ich abermals hinauf nach Jerusalem mit Barnabas und nahm auch Titus mit mir. 2 Ich zog aber hinauf aufgrund einer Offenbarung und besprach mich mit ihnen über das Evangelium, das ich predige unter den Heiden, besonders aber mit denen, die das Ansehen hatten, damit ich nicht etwa vergeblich liefe oder gelaufen wäre. 3 Aber selbst Titus, der bei mir war, ein Grieche, wurde nicht gezwungen, sich beschneiden zu lassen. 4 Denn es hatten sich einige falsche Brüder mit eingedrängt und neben eingeschlichen, um unsere Freiheit auszukundschaften, die wir in Christus Jesus haben, und uns zu knechten. 5 Denen wichen wir auch nicht eine Stunde und unterwarfen uns ihnen nicht, damit die Wahrheit des Evangeliums bei euch bestehen bliebe.
6 Von denen aber, die das Ansehen hatten – was sie früher gewesen sind, daran liegt mir nichts; denn Gott achtet das Ansehen der Menschen nicht –, mir haben die, die das Ansehen hatten, nichts weiter auferlegt. 7 Im Gegenteil, da sie sahen, dass mir anvertraut war das Evangelium an die Heiden so wie Petrus das Evangelium an die Juden 8 – denn der in Petrus wirksam gewesen ist zum Apostelamt unter den Juden, der ist auch in mir wirksam gewesen unter den Heiden –, 9 und da sie die Gnade erkannten, die mir gegeben war, gaben Jakobus und Kephas und Johannes, die als Säulen angesehen werden, mir und Barnabas die rechte Hand und wurden mit uns eins, dass wir unter den Heiden, sie aber unter den Juden predigen sollten, 10 nur dass wir an die Armen dächten, was ich mich auch eifrig bemüht habe zu tun. (Galater 2,1-10)
Liebe Gemeinde,
Kein Mensch hat die Wahrheit gepachtet. Das ist eine Art Glaubenssatz in der demokratischen Gesellschaft. Oder vorsichtiger gesagt: eine Grundregel. Sie ermöglicht es zusammenzuleben - mit unterschiedlichsten Überzeugungen. Kein Mensch hat die Wahrheit gepachtet - dieser Satz ist auch tief verankert im Miteinander der Christen, Konfessionen und Kirchen. Zugleich reibt er sich und reimt sich nicht zusammen mit der Frage und Suche nach der Wahrheit des Evangeliums. Kein Mensch hat die Wahrheit gepachtet. Das erlaubt - wenn’s gut geht - ein respektvolles, friedliches Miteinander. Das erfordert im praktischen Zusammenleben Kompromisse. Ein tägliches, manchmal mühsames Geschäft, in der Familie, im Beruf und in der Politik.
Kritisch wird es, wenn tiefste Überzeugungen berührt und in Frage gestellt werden. Gegenseitige Akzeptanz oder gar Verständigung rücken in weite Ferne, ja bekommen schnell den Geruch des Verrats. Wenn es um die Wahrheit geht, gibt es keine Kompromisse - zumal wenn es um die Wahrheit des Evangeliums geht. Im ersten Kapitel des Galaterbriefes, unmittelbar vor unserem heutigen Predigttext, führt Paulus mit Leidenschaft, ja mit Schärfe alles ins Feld, was er aufbieten kann: Im Streit mit den Gegnern in Galatien geht es um die Wahrheit des Evangeliums.
Was war da strittig?
Paulus sieht bei seinen Gegnern in Galatien den Kern des Evangeliums verfälscht. Die Gegner fordern: Wer an Jesus Christus glaubt und zur christlichen Gemeinde gehören will, der muss sich beschneiden lassen. Dagegen setzt Paulus sein apodiktisches ‘Nein’. Der Ritus der Beschneidung kann und darf nicht zur Bedingung gemacht werden. Sonst ist die „Freiheit, die wir in Jesus Christus haben”, zerstört. Gebunden ist ein Christ allein an Jesus Christus, allein an den Glauben, allein an die Gnade Gottes. Das reicht vollkommen aus, um vor Gott bestehen zu können. Alle Bedingungen, die andere einfordern oder die ich mir selbst auferlege, gelten da nicht und führen zu nichts. Frei ist deshalb ein Christ. Mit Luthers Formulierung in einer seiner Programmschriften der Reformation: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan”.
Mit dieser Bindung und dieser Freiheit ist Paulus zum Apostel geworden, hat er fast zwei Jahrzehnte Gemeinden gegründet und begleitet. Der ihm vertraute Ritus der Beschneidung wurde dabei zweitrangig. Ihm war mit Sicherheit bewußt, dass die ersten Christen ja aus der jüdischen Gemeinde gekommen waren und sich nicht grundsätzlich von den vertrauten Riten und Traditionen verabschiedet hatten. Paulus war auch bewußt, dass die Jerusalemer Gemeinde als älteste christliche Gemeinde höchste Autorität genoss. Erst als die Gegner des Paulus für ihr Verständnis des Evangeliums auf Jerusalem verwiesen und damit ihre Forderung nach Beschneidung untermauerten, führt Paulus seine eigene Autorität ins Feld und sagt als erstes: Ich brauche für meine Arbeit nicht die Autorisierung der Jerusalemer Gemeinde. Ich habe das Evangelium „nicht von einem Menschen empfangen oder gelernt, sondern durch eine Offenbarung Jesu Christi”.
Wenn es nötig ist, kann Paulus sein Selbstbewußtsein als Apostel sehr kräftig zur Geltung bringen - und sich dabei auf einem schmalen Grat bewegen. Das klingt so, als ob Autoritäten, Traditionen und Riten nichts mehr zählen.Das könnte man so verstehen, als ob Paulus nicht bereit wäre, Rechenschaft abzulegen für seine Verkündigung. Dabei gehört es zur Leidenschaft des Paulus, zu argumentieren. Dabei gebraucht er immer wieder überlieferte Texte, um sich in die Kontinuität der Tradition zu stellen. Das Christusbekenntnis im 1. Korintherbrief ist dafür ein Beispiel: „Denn als erstes habe ich euch weitergegeben, was ich auch empfangen habe: Dass Christus für uns gestorben ist nach der Schrift...” Dabei ist Paulus sich nicht zu schade, nach Petrus und den Zwölfen der letzte der Auferstehungszeugen zu sein, der geringste unter den Zeugen.
Und dann ist Paulus nach 14 Jahren doch nach Jerusalem gegangen. Warum? Um einen Kompromiss zu schließen? Um der Wahrheit des Evangeliums willen? Es gilt beides. Je nachdem, wen Paulus im Blick hat und anspricht, setzt er unterschiedliche Akzente. Gegenüber den sich aufplusternden Gegnern in Galatien setzt er mit aller Kraft seine unabhängige, nur von der Offenbarung abhängige Autorität ein. Gegenüber den Gemeinden in Galatien schadet es seiner Autorität überhaupt nicht, wenn er nach Jerusalem geht. Er will nicht umsonst gelaufen sein, sagt er. Um der Gemeinden willen will er den Gegnern ein Argument aus der Hand nehmen: Die Gegner sollen sich nicht mehr auf die Jerusalemer Autoritäten berufen können.
In der Frage der Beschneidung will Paulus eine Übereinkunft mit den Jerusalemern erreichen. Er hat auch schon vor Augen, wie die Übereinkunft aussehen soll. Die gewünschte Übereinkunft wird personifiziert an seinen beiden Begleitern deutlich. Er nimmt Barnabas und Titus mit nach Jerusalem; der eine von der Herkunft her Jude und beschnitten - der andere von der Herkunft her Grieche und unbeschnitten. Die paulinische Regel, die an seinen Begleitern deutlich wird, lautet: Um Jesu Christi ist die Beschneidung keine Vorbedingung für Christen. Zugleich gilt: In der christlichen Gemeinde leben Menschen mit und ohne diese Tradition zusammen. Die Freiheit, die wir in Jesus Christus haben, befreit vom Zwang zur Befolgung einer Tradition. Die Freiheit in Jesus Christus befreit aber auch von dem Zwang, Riten und Traditionen zu verbieten.
Wir verdanken Luther in seinem Kommentar zum Galaterbrief eine präzise Erklärung der paulinischen Argumentation: Darum stehen Traditionen, Riten und „die Werke des Gesetzes, seitdem Christus da ist, auf der gleichen Stufe wie Reichtum, Ehre, Macht, bürgerliche Gerechtigkeit oder sonst irgendein zeitliches Gut. Wenn du diese hast, bist du darum nicht besser vor Gott; wenn sie dir fehlen, bist du darum nicht verwerflicher. Aber als der Verwerflichste stündest du da, wenn du behaupten wolltest, derlei sei notwendig, um Gottes Wohlgefallen zu erlangen.”
Beides: Das Beachten und das Brechen von Traditionen und Riten, das Haben und der Verlust von Macht - das alles sind keine letzten Fragen, sondern vorletzte. Aber auch Einigung in vorletzten Fragen kann schmerzlich sein. Wir erfahren nicht, wie schmerzlich es für die Jerusalemer war, den Verzicht auf Beschneidung bei den Christen griechischer Herkunft zu akzeptieren. Wir erfahren nicht, wie schmerzlich es für Paulus war, dass Jerusalemer Christen von der Freiheit in Christus, auf Beschneidung zu verzichten, keinen Gebrauch machten. Die Jerusalemer Apostel, die man die Säulen nennt, anerkennen das dem Paulus anvertraute Evangelium unter den Heiden und reichen ihm zum Zeichen dessen die rechte Hand.
Es ist keine bloße Nachbemerkung, wenn zum Schluss des Textes an die Armen erinnert wird und damit an die Kollekte aller christlichen Gemeinden für die Gemeinde in Jerusalem. Darf man im Sinne des Textes formulieren: Wer nicht an die Armen denkt, hat kein Recht, für das Evangelium zu streiten.
Amen.
Predigt, gehalten in der Antoniterkirche, Köln am 14. März 2010 im Rahmen der reformierten Predigtreihe im "einfachen Gottesdienst".
Pfr. Horst Leske
Im Jahr 2010 zum Brief des Paulus an die Galater