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04 – Eine reformierte Kunsttheorie avant la lettre
Der reformierte Blick auf die Bilder. Gedanken zu einer theologischen Ästhetik. Teil IV
Der reformierte Blick auf die Bilder, so hatten wir in der letzten Folge gesehen, erfährt seine radikale „Säkularisierung“ mit dem Kommen Jesu Christi. Religiöse Bilder sind von nun an nicht mehr notwendig, die Kunst ist aus ihrer sakralen Bindung für die Profanität freigegeben. Aber geschichtlich hat sich das christliche Verhältnis zu den Bildern anders entwickelt.
Gab es in der Frühzeit, also bis in die Mitte des 3. Jahrhunderts, noch Diskussionen um die Legitimität von Bildern im Christentum, setzten sich zunehmend jene durch, die Bilder im religiösen Vollzug nicht nur für erlaubt, sondern auch für zwingend geboten hielten. Parallel dazu entwickelte sich eine Form der Bildmagie, der wirklich erstaunlich ist (und dennoch bis in die Gegenwart Nachfolger findet).
So wurde damals von Bildverehrern erzählt, dass, als einer Ikone Löcher analog einer Seitenwunde zugefügt wurden, angeblich Blut und Wasser herausflossen und zahlreiche Kranke dadurch geheilt worden seien. Wegen dieser in den Bildern vermuteten magischen Kraft wurden Ikonen auch zur Abwehr von Feinden verwendet und auf die Stadtmauern gestellt. Unwidersprochen blieb der Bilderkult jedoch nicht.
Nach 726 kommt es zu einem über 100 Jahre währenden, zum Teil bewaffnet ausgetragenen Bilderstreit in der byzantinischen Kirche. In der Debatte, an der sich alle großen intellektuellen Strömungen Europas beteiligten, wurden nach und nach die vier voneinander abgrenzbaren Argumente versammelt, die bis heute für oder gegen die Bilder im Christentum vorgebracht werden.
1. Bilder sind für den Glauben heilsnotwendig sagen die Bilderverehrer in Byzanz, denn wenn der Mensch gewordene Gott nicht dargestellt werden kann, leugnet man seine Menschwerdung. Das wäre das Inkarnationsargument.
2.Bilder sind für den Glauben nützlich sagt die Kirche in Rom, denn viele Menschen können nicht lesen und diesen Menschen helfen die Bilder, sich an die biblischen Geschichten zu erinnern. Das wäre das didaktische Argument.
3. Bilder sind für den Glauben überflüssig sagen die Bildkritiker in Byzanz, denn das zentrale Symbol, das uns Christus zur Vergegenwärtigung gegeben hat, ist das Abendmahl. Das wäre das eucharistische Argument.
4. Bilder sind für den Glauben grundsätzlich neutral sagen die um Rat gefragten fränkischen Theologen Karls des Großen, denn sie sind nur profane Gegenstände, die allein nach ihrer künstlerischen Qualität beurteilt werden sollten. Das wäre das kulturelle Argument.
Inkarnation – Didaktik – Eucharistie – Kultur, das sind die vier bis heute vorgebrachten zentralen Argumente zum Verhältnis von Christentum und Bild. Den letzten Standpunkt, also die Kultur, vertrat Karl der Große im byzantinischen Bilderstreit mit den so genannten Libri Carolini, die nach der Synode von Nicäa 787 vermutlich von seinem Hoftheologen Theodulf von Orléans formuliert wurden, um die theologische Kompetenz der Franken gegenüber Rom und Byzanz aufzuweisen. Die Franken plädieren ganz im Geiste einer aufgeklärten Bildung.
Umberto Eco schrieb einmal über diese Schrift: „Die Ästhetik der Libri Carolini ist eine Ästhetik des unmittelbar Sichtbaren, und sie ist zugleich eine Ästhetik der Autonomie des Werkes der bildenden Kunst.“ Es ist deshalb kein Zufall, dass sich Jahrhunderte später Johannes Calvin in der Institutio Christianae religionis (I, 11, 14) positiv auf die Intervention Karl des Großen in der Bilderfrage berufen hat. Das Argument der Libri Carolini lautete, dass es im Umgang mit der Kunst nicht auf das religiöse Verhalten (Anbetung, Verehrung oder didaktische Ingebrauchnahme) ankomme, sondern dass sich das Urteil an dem zu orientieren habe, ob man ein gutes oder ein schlechtes Werk vor sich habe.
Und da sei es egal, ob Maria oder Venus oder sonst wer dargestellt sei. Ein Kunsturteil sei eben ein Kunsturteil. Man wird dem Kunsthistoriker Bazon Brock zustimmen können, wenn er über die Wirkungsgeschichte der Libri Carolini schreibt: „Es ist sicherlich nicht unrichtig zu behaupten, dass diese Wesensbestimmung der Kunst als ars mundana einen entscheidenden Einfluss auf die Überwindung der sakralen Bindung der Kunst hatte.“
In den Libri Carolini finden wir somit zum ersten Mal die Bestimmung, dass die Diskussion über Kunst sich ausschließlich nach Kunstverstand und nach der Kunstfertigkeit richten müsse: „Für die Beurteilung des Bildes komme allein in Betracht, ob das Bild besser oder schlechter gemalt sei, denn das Bild verdanke sich nicht irgendeinem Mysterium, sondern allein dem magisterium und ingenium des Künstlers.“ (Bazon Brock)
Diese Überlegungen Karls des Großen können durchaus als reformierte Kunsttheorie avant la lettre gelesen werden. Der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden sie mit mehr als 750-jähriger Verspätung erst 1549(!) durch den mit Calvin befreundeten Jean du Tillet, der die wesentlichen Punkte offensichtlich vorab mitteilte, so dass Calvin sie in seiner Argumentation verwenden konnte. Für die reformierte Theorie der Bilder wurden sie so wichtig, dass die römische Kurie die Libri Carolini 1564 als Fälschung auf den Index verbotener Bücher setzte um ihren Einfluss zu begrenzen. Und dennoch gehören sie wie die sich entwickelnde reformierte Position zu den Bildern in die Entwicklungsgeschichte der autonomen Kunst der Gegenwart.
Andreas Mertin
Von Ulrich Zwingli, Johannes Calvin und Karl Barth geschult wirft Andreas Mertin einen reformierten Blick auf die Kunst von ihrem Anfang in steinzeitlichen Höhlen bis zur Gegenwart. Der Medienpädagoge und Ausstellungskurator nimmt das Bilderverbot als Kultbilderverbot ernst. Das zweite Gebot sei jedoch kein Kunstverbot.