Komm und schöpfe vom Wasser des Lebens umsonst!

Andacht zur Jahreslosung 2018


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Manche Menschen lesen zuerst die letzte Seite eines Romans, ehe sie sich auf ein Buch einlassen; denn sie können die Spannung nicht ertragen, ob die Geschichte für ihre Helden gut ausgehen wird.

Unser Leben mag eine große Erzählung sein; aber wir haben keine Möglichkeit, die letzten Zeilen zu erfahren, ehe sich ereignet, was dort zu beschreiben ist.

Die Bibel ist beileibe kein Roman -  auch wenn darin sehr spannende Geschichten erzählt werden. Wir können aber die letzte oder vorletzte Seite dieses dicken Buches aufschlagen und werden dann hinein genommen in dramatische Geschehnisse, die sich erst noch ereignen werden - wir sollten uns allerdings bewusst sein, dass wir es auch in der Offenbarung an Johannes mit einem Stück Literatur zu tun haben.

Darin wird denen, die am Ausgang des ersten Jahrhunderts in der heutigen Türkei unter Christenverfolgungen seitens des Römischen Kaiserreiches zu leiden haben, sehr farbenprächtig eine Vision weitergesagt.

Dabei wird nicht etwa “die Apokaypse” angekündigt im Sinne eines allumfassenden Weltunterganges, der bald bevorsteht. Im Gegenteil wird als eine Art “ausgleichende Gerechtigkeit” enthüllt - eben offenbart -, was es mit dieser Welt der Gewalt und Ungerechtigkeit in Gottes Augen in Wahrheit auf sich hat:

In düsteren Bildern wird der Untergang der “Hure Babylon”, der auf sieben Hügeln erbauten Hauptstadt des Reiches des Bösen, ausgemalt. Was uns daran heute Rätsel aufgibt, waren für die damaligen Leserinnen und Leser klar verständliche Anspielungen auf die Machthaber ihrer Zeit, die mit Willkür herrschten. Das baldige (und grausame)  Ende der blutrünstigen Gottesgegner wird in Aussicht gestellt, und jene, die eben noch unter deren Tyrannei zu leiden hatten und weiterhin zu leiden haben, werden nicht nur dereinst mit dem Auferstandenen über das Böse siegen.

Sie dürfen auch - und zwar schon jetzt -  den Anbruch des Gottesreiches schauen und staunend feststellen,  dass sozusagen der Himmel auf Erden anbricht, wenn im Neuen Jerusalem auf einmal der Baum des Lebens wächst, der monatlich reiche Ernte erlaubt. Und sie, die bis zum bitteren Ende durchgehalten haben, mittendrin!

Nun haben Sie, liebe Leser*innen, sich sozusagen auf das Vorwort eingelassen zu jenem Vers, den ich jetzt zitieren möchte, weil er uns als Jahreslosung durch das Jahr 2018 begleiten wird: Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst. Wie gesagt: Das ist im Zusammenhang mit dem zuvor Beschriebenen zu sehen:

Die im Augenblick Durst leiden, lechzen mehr nach Gerechtigkeit und Frieden als nach einem Getränk. Die jetzt zu leiden haben, werden nämlich als Staatsfeinde beschuldigt, als Aufrührer verdächtigt, obwohl sie nichts weiter tun, als zu bekennen, dass Jesus Christus - er allein - ihr Herr ist, im Himmel und auf Erden. (Das allerdings war ein Verstoß gegen die Staaträson, die eine Verehrung des Kaisers als Gott verlangte.)

Das Stichwort “lebendiges Wasser” steht allerdings auch im Zusammenhang mit einer Begebenheit, die uns im Johannesevangelium (Kapitel 4) berichtet wird. Hier geht es nur vordergründig um einen Brunnen, aus dem die Frau Wasser schöpfen wollte.

Im Gespräch mit Jesus zeigt sich allerdings, was für eine ungestillte Sehnsucht nach Leben diese Frau hat und wie sehr sie sich wünscht, nicht das immer gleiche zu tun -  mit stets demselben unbefriedigenden Ergebnis, dass nach einer kurzen Phase der Ruhe dieser Durst zurückkehrt, dieses Unbehagen an einem Leben, dem es an Orientierung mangelt, an Vertrauen, an Liebe.

Einen weiteren Bezug sehe ich zu einer Verheißung im Buch des Propheten Jesaja. Im 55. Kapitel heißt es da: Auf, geht zum Wasser, all ihr Dürstenden, und die ihr kein Silber habt, geht, kauft Getreide, und esst, und geht, kauft Getreide, nicht für Silber, und Wein und Milch, nicht für Geld! Mit anderen Worten: Die menschlichen Grundbedürfnisse essen und trinken werden dem “Markt” entzogen; was Mensch braucht, wird kostenlos gegeben.

Das ist doch schon mal schön zu hören! Gott gibt den Durstigen umsonst, wonach sie dürstet. Die Durstigen bekommen aber nicht einfach Wasser, sondern “lebendiges” Wasser, dürfen aus der Quelle trinken, heißt es in unserer Jahreslosung.

Ich verstehe das als Einladung, sich ohne Scheu an den zu wenden, der sich selbst als die Quelle lebendigen Wassers bezeichnet, und zu Jesus Christus zu kommen mit aller Lebenssehnsucht und in aller Bedrängnis, die uns quälen mag.

Man bekommt dort freilich nicht - wie im Märchen - einen Trunk, der alle Wünsche verstummen lässt, sondern schlicht das, was Gott uns zugesagt hat. Und das ist nicht weniger als eben das, was Mensch zum Leben braucht; und ist doch nicht dasselbe wie all die vielen Dinge, von denen wir mitunter überzeugt sind, dass wir ohne sie nicht auskommen im Leben.

Was hält uns noch davon ab, der Einladung zu folgen und uns von diesem Quell lebendigen Wassers erfrischen zu lassen?

Wir haben - so wir durstig sind im Sinne der Bibel - das ganze vor uns liegende Jahr über Zeit, aus dieser Quelle zu schöpfen.


Pfarrer Stephan Schaar, Berlin