„Zeus sei unser Beginn, und niemals bleib‘ er uns Männern Ungelobt. Voll wahrlich des Zeus sind alle des Wandels Weg, und alle Versammlung der Welt, voll jegliche Meerflut, Jeglicher Port. Ringsum ja des Zeus bedürfen wir alle seines Geschlechts auch sind wir.“
(Aratos, Phaenomena, Übersetzung von J. H. Voss)
Paulus aber stand mitten auf dem Areopag und sprach: Ihr Männer von Athen, ich sehe, dass ihr die Götter in allen Stücken sehr verehrt. Ich bin umhergegangen und habe eure Heiligtümer angesehen und fand einen Altar, auf dem stand geschrieben: Dem unbekannten Gott. Nun verkündige ich euch, was ihr unwissend verehrt.
Gott, der die Welt gemacht hat und alles, was darin ist, er, der Herr des Himmels und der Erde, wohnt nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind. Auch lässt er sich nicht von Menschenhänden dienen wie einer, der etwas nötig hätte, da er doch selber jedermann Leben und Odem und alles gibt. Und er hat aus einem Menschen das ganze Menschengeschlecht gemacht, damit sie auf dem ganzen Erdboden wohnen, und er hat festgesetzt, wie lange sie bestehen und in welchen Grenzen sie wohnen sollen, damit sie Gott suchen sollen, ob sie ihn wohl fühlen und finden könnten; und fürwahr, er ist nicht ferne von einem jeden unter uns. Denn in ihm leben, weben und sind wir; wie auch einige Dichter bei euch gesagt haben:
Wir sind seines Geschlechts. Da wir nun göttlichen Geschlechts sind, sollen wir nicht meinen, die Gottheit sei gleich den goldenen, silbernen und steinernen Bildern, durch menschliche Kunst und Gedanken gemacht. Zwar hat Gott über die Zeit der Unwissenheit hinweggesehen; nun aber gebietet er den Menschen, dass alle an allen Enden Buße tun. Denn er hat einen Tag festgesetzt, an dem er den Erdkreis richten will mit Gerechtigkeit durch einen Mann, den er dazu bestimmt hat, und hat jedermann den Glauben angeboten, indem er ihn von den Toten auferweckt hat.Als sie von der Auferstehung der Toten hörten, begannen die einen zu spotten; die andern aber sprachen: Wir wollen dich darüber ein andermal weiterhören. So ging Paulus von ihnen. Einige Männer schlossen sich ihm an und wurden gläubig; unter ihnen war auch Dionysius, einer aus dem Rat, und eine Frau mit Namen Damaris und andere mit ihnen.
Es ist Frühling in Athen. Paulus geht spazieren. Er ist nicht als Tourist hier, sondern eigentlich auf der Flucht. Im Gefängnis war er schon, ist wundersamerweise wieder freigekommen. Seine Freunde musste er zurücklassen. Es war zu gefährlich, weiter zusammen zu reisen. Sie haben ihn hergebracht, hier nach Athen, in eine Stadt, die ein bisschen abseits liegt, deren Blütezeit vorbei ist, in der nur noch die Sonne zuverlässig jeden Mittag ihren Zenit erreicht. Blendend weiß liegt das Licht auf den Säulen der vielen Tempel und auf den Statuen. Eine warme Frühlingssonne scheint. In den Steinritzen wächst Gras. An manchen Stellen blühen sogar kleine Blumen. Hier und da bröckelt es allerdings schon ein bisschen.
Paulus muss hier warten. Er ist auf der Durchreise, ein Fremder in einer fremden Stadt voller fremder Götter. Ein unfreiwilliger Aufenthalt, eine Zwischenzeit, die er nur mit Spaziergängen füllen kann. Hätte es in Athen schon Kirchen gegeben zu Paulus‘ Zeit, hätte er sie bestimmt besucht, aus Neugier, so, wie es heute noch alle Touristinnen und Touristen in allen Städten machen, mit einem mehr oder weniger starken religiösen Interesse. Jede Kirche und jedes aus religiösen Gründen errichtete Gebäude eine kleine Gelegenheit: Doch mal schauen, ob da was ist. Ob da wirklich Gott drin ist?
Aber von Kirchengebäuden ist man hier noch weit entfernt. Noch ist es wie bei Jesus. Denn das ist ja alles noch nicht lange her. Christen wie Paulus sind zu Fuß unterwegs, frei und leicht wie die Vögel. Die Gemeinden wachsen wie kleine Blumen an den Straßenrändern des großen römischen Reichs. Sie treffen sich zum Gebet und zum Gottesdienst in Innenhöfen und Wohnzimmern, zur Not auch draußen am Fluss. So war es bei Lydia in Philippi gewesen, als die Botschaft von Jesus zum ersten Mal nach Europa geschwappt war.
Auf dem religiösen Markt hier in Athen scheint das Angebot groß zu sein. Schwer ist da vielleicht nur die Auswahl. Aber sogar für die, die sich nicht recht festlegen mögen, findet sich etwas im Angebot: Einen Altar für den unbekannten Gott.
Paulus geht und sieht und hört und liest. Und je länger er das tut, desto fremder fühlt er sich in dieser Stadt, in dieser Welt. Viele und unbekannte Götter, was soll das sein? Für ihn, den schriftgelehrten Juden, gab es noch nie viele oder unbekannte Götter. Immer nur den einen, den einzigen. Von dem man sich übrigens auf gar keinen Fall ein Bildnis machen darf. Ein Gott, der sich dafür Moses in der Wüste persönlich vorgestellt hat, mit einem Namen: Ich werde sein, der ich sein werde.
Ein Name, der Versprechen und Rätsel zugleich ist und mehr als genug Stoff zum Nachdenken gibt, auf langen, einsamen Spaziergängen durch fremde Städte mit vielen Götterbildern ganz besonders. Es ist heiß, die Sonne sticht plötzlich und Paulus ist genervt von der ausgestellten Beliebigkeit in religiösen Fragen hier in Athen, von all den religiösen Gebäuden ohne einen bekannten Gott drin. Aber mit Konfrontation wird er nicht weiterkommen, das ist ihm schon klar.
Und so versucht er es anders. Stellt sich mitten auf den Areopag, auf die blendend hellen Steine mit den bröckelnden Rändern, zwischen denen das Gras grün herauswächst und fängt erst einmal ganz anders an. Er will sie ja kriegen, die Athener und da kann man gar nicht dick genug auftragen am Anfang: Ich sehe, dass ihr die Götter in allen Stücken sehr verehrt, sagt er. Und denkt dabei, dass sie es hier dringend nötig hätten, diese Stücke auch mal zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen. Paulus will, wenn überhaupt ein Bild, dann ein Mosaik, nicht bloß bunte Steinchen. Aber das denkt er nur und sagt es nicht.
Und bleibt vorsichtig und höflich, wie ein Fremder, ein Tourist natürlich sein sollte: Gott hat die Welt gemacht, von oben bis unten, Himmel und Erde und wohnt nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind. Das sagt Paulus da auf dem Areopag, umgeben von Tempeln und denkt dabei an diese ganze ewige Geschichte mit dem Tempel in Jerusalem. Bei der man sich schon fragen kann, ob es wirklich so eine gute Idee war, dem wanderlustigen Gott Israels ein festes Haus zu bauen. Und ob ein Zelt in der Wüste nicht doch die passendere Unterkunft für diesen Gott ist. Er könnte jetzt auch noch auf den teilweise bedenklichen Zustand der religiösen Gebäude hier hinweisen, auf das Bröckeln und die Einsturzgefahr, die Kosten für ihre Unterhaltung. Aber er will ja niemandem an diesem sonnigen Frühlingstag die Laune verderben.
Bevor sich die Athener angegriffen fühlen könnten, lenkt Paulus schon wieder ein. Wir sind uns doch einig: Gott hat uns Menschen nicht nötig und lässt sich nicht von Menschenhänden dienen. Damit können sie hier etwas anfangen. Vor allem die Stoiker, die das Nichts-nötig-haben zu einer Lebenshaltung machen und deren Gottesbild auch danach ist. Und dann trickst Paulus auch noch ein bisschen. Zitiert einen griechischen Dichter, aber setzt an die Stelle des griechischen Gottes Zeus einfach seinen Gott: Denn in ihm leben, weben und sind wir, wie auch einige Dichter bei euch gesagt haben: Wir sind seines Geschlechts.
Da nicken die Athener, bevor sie merken, dass sie eigentlich den Kopf schütteln müssen. Wer wäre nicht gerne göttlichen Geschlechts. Solange Paulus an seinen und die andern an ihren Gott denken dabei, solange man in diesem religiösen Mosaik einfach ein Gottesteilchen gegen ein anderes austauschen kann, gibt es natürlich keinen Streit.
Die Athener lassen Paulus erst stehen, als er von Jesus anfängt. Das ist ihnen dann plötzlich doch zu konkret und zu persönlich. Der Gott, von dem Paulus spricht, hat seine Menschen nötig, sucht eine Beziehung zu ihnen, will ihnen nahe sein, ist nicht ferne einem jeden von uns. Dieser Gott wird selbst ein Mensch mit Namen und Gesicht: Jesus von Nazareth, der Wanderprediger, der es mit Tempeln überhaupt nicht so hatte, aber dafür mit Vögeln und Blumen. Ein seltsamer Spaziergänger, immer ein bisschen fremd in der Welt und doch ganz und gar in ihr drin. Dem man beim Leiden zugucken konnte und beim Sterben. Und den sie drei Tage später suchten in einem Grab, in dem er nicht mehr zu finden war.
Gut, denken die Athener, sowieso ein bisschen zu heiß hier in der Mittagssonne. Dem armen Kerl da scheint sie auch nicht gut bekommen zu sein. Und sie verabschieden sich, höflich bis zum Schluss. Wie man es nur kann, wenn es einen wirklich nicht interessiert: Wir wollen dich darüber ein andernmal weiterhören. Heißt: nie. Telefonieren ging ja zum Glück sowieso noch nicht.
Es ist Frühling in Berlin und ich denke an Paulus an diesem sonnigen Tag auf dem Areopag. Da steht er auf den weißen Steinen mit den bröckelnden Rändern, durch die es schon grün und neu hindurchwächst. Es ist der Frühling der Kirche. Sie fängt erst an, zu wachsen. Noch besteht sie vor allem aus Menschen und nicht aus Gebäuden und Verwaltung. Noch wachsen die Gemeinden wie kleine Blumen. Und auch Paulus‘ Worte fallen wie Blumensamen in Steinritzen in einige Menschenherzen. Ein Mann und eine Frau und noch ein paar andere gehen mit ihm, als er vom Areopag weggeht. In ihnen hat etwas angefangen. Es wird wachsen und blühen.
So geht Gemeinde. So geht Kirche. Die bröckelnden Tempel getrost stehen lassen. Rausgehen auf die Straßen und die Marktplätze, sich die Sonne ins Gesicht scheinen lassen. Ins Gespräch kommen, anschlussfähig sein für andere Überzeugungen, das Gemeinsame suchen, aber auch klar sein mit den Unterschieden, wie Paulus.
Wir tun es jetzt auch, nicht freiwillig, sondern weil wir es müssen in dieser Zeit der Pandemie, in der es draußen einfach besser ist als drinnen, für unsere Gesundheit und unser Leben. Aber auch für die Gesundheit und das Leben unserer Gemeinden, unserer Kirche. Es ist ja nicht überall Gott drin, wo Gott draufsteht. Gott wohnt ja immer noch nicht gerne in Tempeln. Es ist Frühling in Athen, in Berlin. Und in der Kirche.
Amen