Almosen genügen nicht

Predigt vom 10. November 2019, Ev. Paulus-Kirchengemeinde Berlin-Tempelhof

Die Friedfertigen - wie können sie "besser" handeln? Impulse aus der Bergpredigt (Symbolbild) © Pixabay

von Stephan Schaar

Es sieht nicht gut aus für die Schöpfung, liebe Gemeinde!

Das wissen wir schon lange, und ebenso lange haben wir es ignoriert. Aber jetzt gibt es Fridays for Future - und plötzlich hören Politiker der jungen Generation zu, die schlichtweg um das Überleben der Menschheit und aller Kreatur bangt. Zornige Weltverbesserer hat es allerdings auch schon immer gegeben - wie in jüngster Zeit die Aktivisten von Extinction Rebellion mit ihrer Parole “Aufstand oder Aussterben”, mit ihren Verkehrsblockaden und zumindest verbalen Aggression. Aber was ist mit den Friedfertigen - ich unterstelle: Mit uns?

Wenn der Mensch - der fehlbare, sündhafte Mensch - in seiner gottvergessenen Selbstsucht ganz und gar nicht imstande wäre, das Richtige zu tun, das Gute zu wollen, weil er ja von Grund auf verdorben ist: Wozu dann irgendwelche moralischen Appelle in der Bibel, die uns auf die Sprünge helfen wollen, den inneren Schweinehund zu besiegen und zur Tat zu schreiten?! Wenn aber ganz im Gegenteil die Gebote und Aufrufe in der Heiligen Schrift doch an uns gerichtet sind, obwohl wir so sind, wie wir sind: Warum sind dann nicht längst viel mehr Menschen dabei, die Schöpfung zu bewahren, den nachfolgenden Generationen eine lebenswerte Umwelt zu hinterlassen?

Entweder sind die anderen das Problem; denn wir wollen ja das Gute, aber andere Leute verhindern offenbar, dass es geschieht. Oder aber es bleibt keine andere Erklärung, als dass wir selbst diejenigen sind, die einer Änderung zum Besseren im Wege stehen. Das wäre eine bittere Erkenntnis. Aber es wäre zugleich ein Ansatzpunkt zum Handeln für alle, die Luthers erster These zustimmen, wonach das ganze Leben eines Christenmenschen eine Buße, also eine Umkehr, ein permanentes Umdenken, ein ständiges Sein-Leben-Ändern ist.

In der sogenannten “Feldrede” fasst der Evangelist Lukas vieles von dem zusammen, was wir aus dem Matthäusevangelium als die Bergpredigt Jesu kennen - und hier lesen wir nun, nicht direkt an uns gerichtet, sondern an seine damaligen Zuhörer, folgendes:

27 “Euch, die ihr mir zuhört, sage ich: Liebt eure Feinde; tut denen Gutes, die euch hassen; 28 segnet die, die euch verfluchen; betet für die, die euch Böses tun.

29 Schlägt dich jemand auf die eine Backe, dann halt ihm auch die andere hin, und nimmt dir jemand den Mantel, dann lass ihm auch das Hemd.

30 Gib jedem, der dich bittet, und wenn dir jemand etwas nimmt, dann fordere es nicht zurück.

31 Handelt allen Menschen gegenüber so, wie ihr es von ihnen euch gegenüber erwartet.

32 Wenn ihr die liebt, die euch Liebe erweisen, verdient ihr dafür etwa besondere Anerkennung? Auch die Menschen, die nicht nach Gott fragen, lieben die, von denen sie Liebe erfahren.

33 Und wenn ihr denen Gutes tut, die euch Gutes tun, verdient ihr dafür besondere Anerkennung? So handeln doch auch die, die nicht nach Gott fragen.

34 Und wenn ihr denen leiht, von denen ihr ebenfalls etwas erwarten könnt, verdient ihr dafür besondere Anerkennung? Auch bei denen, die nicht nach Gott fragen, leiht einer dem anderen in der Hoffnung auf eine entsprechende Gegenleistung.

35 Nein, gerade eure Feinde sollt ihr lieben! Tut Gutes und leiht, ohne etwas zurückzuerwarten. Dann wartet eine große Belohnung auf euch, und ihr werdet Söhne des Höchsten sein; denn auch er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen.

36 Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist.”

37 “Richtet nicht, und ihr werdet nicht gerichtet werden. Verurteilt nicht, und ihr werdet nicht verurteilt werden. Sprecht frei, und ihr werdet freigesprochen werden.

38 Gebt, und es wird euch gegeben werden. Ein volles Maß wird man euch in den Schoß schütten, ein reichliches Maß, bis an den Rand gefüllt und überfließend. Denn das Maß, das ihr verwendet, wird auch bei euch verwendet werden.”

Radikal ist das, nicht wahr? Die Katholische Theologie hat jene Aufforderungen zu einem Leben in vollständiger Übereinstimmung mit Gottes Willen “evangelische Ratschläge” genannt. Und schon bald hatte die Kirche eine Lösung gefunden, wie mit diesen uns im Normalfall überfordernden Ansprüchen umzugehen sei: Es ist etwas für die - und nur für die -, die sich aus dieser Welt zurückziehen, im Kloster leben, ihr Leben unter (ich nenne das:)  “Laborbedingungen” verbringen, nach ethischer Vollkommenheit streben.

Im Katholizismus würde man auch von Heiligen sprechen - aber nicht im Sinne von Vorbildern, von denen man sich, auf Deutsch gesagt, “eine Scheibe abschneiden” soll, sondern im Sinne von Idealen, an die ein Normalsterblicher nie und nimmer heranreicht. Wenn wir erst einmal gedanklich an diesen Punkt gelangt sind, liebe Gemeinde, dann können wir uns wieder in aller Ruhe der Resignation hingeben und kopfschüttelnd beklagen, dass die Welt nun mal schlecht und vermutlich nicht mehr zu retten sei. Zumindest haben wir jetzt eine Erklärung: Wir sind zwar nicht wirklich böse. Aber eben auch nicht gut genug, nicht stark genug, nicht entschlossen, nicht konsequent genug.

Es gibt zahlreiche Pfarrerinnen und Pfarrer, die es in Anbetracht unserer Verunsicherung für ihre Aufgabe halten, die Menschen zu trösten. Sie sagen deshalb Dinge wie: “Gott verlangt nicht mehr, als wir leisten können.” Oder: “Es ist Gottes, nicht unsere Aufgabe, die Welt zu retten.” Damit könnte man sich einigermaßen zufrieden geben und in sein Schicksal fügen. Das allerdings wäre - um es ganz deutlich zu sagen - eine Abkehr von Gott. Eine Hinkehr zu Gott wäre es, sich tatsächlich an Jesu Worten und Taten zu orientieren.

Freilich birgt dies das Risiko, dass wir wie Jesus trotz - oder gerade wegen - all unserer freundlichen Bestimmtheit auf erbitterten Widerspruch und Widerstand stoßen, der in seinem Fall mit Festnahme, Verurteilung und Hinrichtung vorläufig endete. Schauen wir es uns mal Vers für Vers an, was dann zu tun wäre:

Liebt eure Feinde; tut denen Gutes, die euch hassen.

Das hat nichts mit euphorischen Gefühlen zu tun, sondern mit Anständigkeit, mit einem menschlichen Auftreten gegenüber unseren Mitmenschen. In diesem Zusammenhang ist mir auch schon der Begriff “Entfeindung” begegnet - ein Ausbrechen aus vorgegebenen Denk-Schemata.

Segnet die, die euch verfluchen; betet für die, die euch Böses tun.

Das klingt schon sehr viel schwieriger. Aber segnen heißt nicht automatisch “für Erfolg sorgen”, sondern dass man jemanden Gottes Geleit anbefiehlt. Und so ist auch das Beten für Menschen, die uns Böses tun, zunächst ein Bitten darum, selbst als Mensch gesehen und behandelt zu werden.

Schlägt dich jemand auf die eine Backe, dann halt ihm auch die andere hin, und nimmt dir jemand den Mantel, dann lass ihm auch das Hemd.

Nach jüdischer Auslegung, die mir sehr einleuchtend klingt, war damit eine Art passiver Widerstand gegen die römischen Soldaten gemeint: Wer den Weg gezeigt bekommen muss, darf ruhig einen Umweg geführt werden, der doppelt so lange dauert. Wenn jemand geschlagen wird, der nicht zur Gegenwehr fähig ist, kann er zumindest seine Würde verteidigen, indem er seinem Angreifer zeigt: Du kannst mich zwar töten, nicht aber brechen. Und wenn jemand keinen Respekt vor den Grundrechten - etwa eine warme Decke in der Nacht - aufbringt, dann sollte man es ihm in aller Deutlichkeit vor Augen führen, wie asozial er sich verhält.

Gib jedem, der dich bittet, und wenn dir jemand etwas nimmt, dann fordere es nicht zurück.

Hier stoßen wir tatsächlich auf eine Grenze, die uns jeden Tag bewusst wird: Allzu viele sind es, die aus echter oder vorgetäuschter Not heraus die Hand aufhalten und uns um Almosen anbetteln. Wenn sie sich denn mit etwas zu essen zufrieden gäben! Wir geben ja in organisierter Weise denen, die Hunger haben, gern Lebensmittel für einen symbolischen Euro zu kaufen ... Dann erscheint es eher wieder machbar, dieser Aufforderung nachzukommen. Das mit dem Nichtzurückfordern wird hier und da unter Freunden und in Familien praktiziert; aber auch das staatliche Recht kennt den Offenbarungseid und die Möglichkeit einer Entschuldung eines Zahlungsunfähigen nach soundsovielen Jahren.

Handelt allen Menschen gegenüber so, wie ihr es von ihnen euch gegenüber erwartet.

Die “Goldene Regel” existiert in allen Religionen und Kulturen. In die Tat umgesetzt wird sie aber immer nur in groben Zügen.

Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist.

Sind wir womöglich deshalb oftmals so unbarmherzig, weil uns zu selten mit Barmherzigkeit begegnet wird? Wie ernst nehmen wir, was wir im Vaterunser beten, wo es heißt: “Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern”? Mir scheint, diese Forderung gehört zu den größten Hürden, an denen immer wieder scheitert, dass gute Vorsätze gelebte Praxis werden. Denn wer  - ob nun berechtigterweise oder nicht - mit dem Gefühl lebt, anderen gegenüber zu kurz kommen, der wird sich überaus schwer tun, anderen Gutes zu gönnen, den Vortritt zu lassen, es nicht so genau zu nehmen. Wo uns aber im Gegenteil solches widerfährt, erleben wir einen kostbaren Glücksmoment, fühlen wir uns einmal wirklich ernstgenommen, sind wir aus tiefstem Herzen erleichtert.

Richtet nicht, und ihr werdet nicht gerichtet werden. Verurteilt nicht, und ihr werdet nicht verurteilt werden. Sprecht frei, und ihr werdet freigesprochen werden.

Das Evangelium predigen heißt hier, nicht zu sagen: “Du darfst niemanden richten!”, sondern zu unterstreichen: “Du bist längst freigesprochen - du kannst es dir leisten, anderen gegenüber großzügig zu sein.” Das gilt auch für die letzte Aufforderung unserer Perikope:

Gebt, und es wird euch gegeben werden. Ein volles Maß wird man euch in den Schoß schütten, ein reichliches Maß, bis an den Rand gefüllt und überfließend. Denn das Maß, das ihr verwendet, wird auch bei euch verwendet werden.

Es geht hierbei nicht allein um geistliche Gaben, sondern durchaus auch um materielle Güter - und die sind, das ist uns bewusst, sehr ungleich verteilt, weshalb eben nicht alle erleben, dass ihnen ein reichliches und sogar überfließendes Maß in den Schoß gelegt ist. Abgeben allein reicht daher aus meiner Sicht nicht aus. Nicht darum geht es, von unserem Überfluss ein wenig herabtropfen zu lassen auf jene, die gar nichts haben, sondern dass wir das, was da ist, gerecht teilen. Hier spätestens werden wir erkennen müssen, daß wir noch ganz andere Entscheidungen zu treffen haben als solche, die in den Bereich individueller Ethik gehören.

Man kann nicht zwei Herren dienen: Gott und dem Mammon.

Man kann also nicht gut Christ sein wollen und zugleich den Kapitalismus bejahen, dessen Credo “Haste was biste was” lautet und der behauptet, Neid auf die Bessergestellten sei die beste Triebfeder wirtschaftlichen Handelns. Um Jesus selbst das Schlusswort zu geben, liebe Geschwister, zitiere ich noch einmal Vers 35:

Tut Gutes und leiht, ohne etwas zurückzuerwarten. Dann wartet eine große Belohnung auf euch, und ihr werdet Söhne des Höchsten sein; denn auch er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen.

Amen.


Stephan Schaar