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'Viele Menschen wissen nicht, was es jenseits von Kreuz und Maria gibt'
Interview mit Jürgen Kaiser und Senta Reisenbüchler
Herr Kaiser, Frau Reisenbüchler, was beschäftigt Sie gerade in Ihrer Gemeinde?
Kaiser: Gerade befinden wir uns in einem Fusionsprozess mit Potsdam. Die Gemeinde dort ist inzwischen leider so klein, dass sie keine volle Pfarrstelle mehr bekommt. Auch die französischsprachige Gemeinde, die wir vor 30 Jahren bei uns aufgenommen haben, wollen wir voll integrieren. Das möchten wir bis voraussichtlich 2025 formalisieren. Dieser Prozess ist heikel. Aber wir erleben die Zusammenarbeit als sehr kooperativ.
Reisenbüchler: Als neue Pfarrerin beschäftigen mich neben der Fusion auch das neue Team das bei uns gerade entsteht. Mit neuen Menschen. Reformprozesse sind zwar schwierig. Aber es hilft, sich umzusehen und die Erfahrungen anderer Gemeinden zu betrachten.
Wie sind die reformierten Gemeinden in Berlin und Brandenburg miteinander vernetzt?
Kaiser: Die Zusammenarbeit ist vielfältig. Da ist zum Beispiel der Austausch über regelmäßige Pfarrkonvente. Die Reformierten bilden einen reformierten Kirchenkreis. Diese Treffen finden oft in einem eher kleinen Rahmen statt. An der Kreissynode nehmen kaum mehr als 20 Leute Teil. Die Gesichter wechseln oft. In unserer Gemeinde erleben wir momentan zum Beispiel eine sehr hohe personelle Fluktuation.
Wie kommt das?
Kaiser: Einige Mitarbeitende gehen in den Ruhestand, andere merken, dass es doch nicht die richtige Stelle für sie ist. Der Arbeitsmarkt ist zur Zeit sehr fluide.
Reisenbüchler: Nach der Ausbildung wollen viele lieber Funktionspfarrstellen als den klassischen Pfarrdienst. Das hängt teilweise zusammen mit den schwierigen Bedingungen in der Gemeindearbeit. Bei uns Reformierten kommt erschwerend hinzu dass wir den erforderlichen Reformen und Strukturen hinterherhinken.
Die Hauptversammlung des Reformierten Bundes beschäftigt sich in diesem Jahr mit dem Thema „Reformierte Identität“. Was macht für Sie „Reformiertsein“ persönlich aus?
Reisenbüchler: Das kann ich leider nur in Abgrenzung erklären. Ich persönlich komme aus keinem christlichen Haushalt. Verschiedene Freikirchen haben mich in den Zwanzigern geprägt, erst vor ein paar Jahren habe ich das Reformierte für mich entdeckt. Für mich war das also eine bewusste Entscheidung. Die Gottesdienstordnung hat mich damals angesprochen. Sie hat mir zum Glauben am ehesten Zugang gewährt. Theologisch gefiel an den Reformierten mir die Bedeutung der Bekenntnisschriften. Diese Fülle und die immer wieder neuen Texte: das ist für mich Reformiertsein.
Kaiser: Auch mir gelingt eine Definition von „Reformiertsein“ nur in der Abgrenzung. Gerade das aber sehe ich auch als ein großes Problem. Damit scheint es so, als habe der reformierte Glaube nichts eigenes Substantielles. Das Besondere beschränkt sich für mich zunächst auf den Gottesdienst. Der ist anders als bei den Lutheranern. Hier erleben wir nicht so sehr das Hochkirchliche. Gottesdienste finden auch einmal ohne Talar statt. Laien haben mehr Möglichkeiten, den Gottesdienst zu gestalten. Meiner Meinung nach ist reformierte Identität weniger eine Frage der Bekenntnisse als mehr eine Frage gottesdienstlicher Gestaltung und liturgischer Beheimatung. Dass die Reformierten in ihren Kirchen flachere Hierarchien haben, das sehe ich aber als Mythos. Denn das finden wir auch in den lutherischen Kirchen. Auch die Bekenntnisgeschichte ist für mich nicht wichtig. Ich selbst komme aus der Pfalz. Dort wird reformierte Identität selbstverständlich gelebt, also ohne permanente Abgrenzungsbemühungen, allerdings auch ziemlich unbewusst, d.h. in der Pfalz sind sie selbstverständlich reformiert, ohne es jedoch zu wissen.
Lässt sich reformierte Identität gerade in den unierten Kirchen überhaupt ausreichend sichtbar machen?
Reisenbüchler: Bis vor kurzem war ich Pfarrerin in einer unierten Gemeinde. Ich erinnere mich noch gut, wie nach einem Gottesdienst ein älterer Herr auf mich zukam und mir einen Tipp geben wollte: Sie haben am Anfang und Schluss das Kreuz vergessen, sagt er mir. Da antwortete ich ihm: Ich mach das bewusst nicht. Weil es so reformierte Tradition ist. Die Leute finden das spannend. Sie sehen: Aha, es gibt noch andere evangelische Formen.
Kaiser: Die EKBO erlebe ich da als unkompliziert: Hier sind die Gemeinden entweder lutherisch oder reformiert. Weil die Reformierten hier eine kleine Minderheit sind, die sich überwiegend in Personalgemeinden organisiert, wissen die Mitglieder, dass sie reformiert sind. In unserer Gemeinde kommen allerdings zu „reformiert“ noch weitere identitätsbildende Begriffe hinzu: französisch und hugenottisch. Das verwirrt viele Besucher. Sie denken, unsere Gemeindemitglieder seien französisch. Das müssen wir dann erst einmal erklären.
Was unterscheidet die Französisch-Reformierten von anderen Reformierten?
Reisenbüchler: Da nehme ich keinen großen Unterschied wahr.
Kaiser: Ich spreche meistens lieber von „hugenottisch“ als „französisch-reformiert“. Mit „hugenottisch“ können die meisten mehr anfangen, als mit „reformiert“. Die Hugenotten gelten als historische Vorzeigeeinwanderer. Das ist für manche wie ein Adelstitel. Denen, die sich vor allem durch das Hugenottische angesprochen fühlen, müssen wir klar machen, dass wir kein Hugenottenverein sind. Manche Mitglieder haben hugenottische Vorfahren. Viele sind aber auch ohne hugenottischen Hintergrund Mitglied.
Stichwort Kirchenaustritte: Wie macht sich das bemerkbar? Wie gehen Sie damit um?
Kaiser: Bei uns gibt es nicht so viele Austritte. Mehr Wegzüge oder Umgemeindungen in die Ortsgemeinden.
Reisenbüchler: Wir haben tolle und engagierte Menschen im Ehrenamt. Viele werden uns auch die kommenden Jahre erhalten bleiben. Wir müssen aber auch perspektivisch denken: Wer kommt nach?
Wie können Menschen wieder mehr Zugang zu den reformierten Kirchen finden?
Reisenbüchler: Der Erstzugang ist etwas, womit wir uns schwer tun. Viele Menschen wissen nicht, was es jenseits von Kreuz und Maria gibt. Wir müssen deshalb Begegnungen aufbauen – und zwar solche, bei denen keinen Exklusionskriterien greifen. Auf Menschen, die nicht christlich sind, sind wir nicht wirklich vorbereitet. Als ich zum Beispiel anfing, Theologie zu studieren, musste ich mich erst einmal in die Bekenntnisschriften einfinden, die Konfession erst kennenlernen. Damit stand ich oft alleine da. Was macht denn die hier? So fühlte sich das oft an. Für mich war das Studium in den ersten Semestern deshalb eine Fremdheitserfahrung.
Kaiser: Die parochiale Organisation der Kirche setzt volkskirchliche Gegebenheiten voraus: Man lässt sein Kind taufen. Dann kommt es in den evangelischen Religionsunterricht, später dann der Konfirmationsunterricht. In unserer heutigen Gesellschaft sind die Bedingungen und Bedürfnisse der Menschen aber anders. Im großstädtischen Umfeld können wir mit einem alternativen und profilierten Angebot attraktiv sein.
Die veröffentlichten Ergebnisse der ForuM-Studie sorgten in den evangelischen Kirchen für Aufruhr: Kamen Gemeindemitglieder danach auf Sie zu?
Kaiser: Bei uns erlebte ich überraschendes Schweigen.
Reisenbüchler: Aber das ist beispielhaft dafür, wir wir nur mit uns beschäftigt sind. Da ist diese stille Hoffnung, dass hoffentlich niemand auf uns zukommt. In den Gemeinden weht noch ein anderer Geist. Viele in meiner Generation wollen das ändern: sensibler sein, zuhören, Umgangsformen ändern. Aber vor uns liegt immer noch ein hoher Berg.
Das Programm steht: Die Hauptversammlung widmet sich in diesem Jahr Fragen zur Reformierten Identität. Für das Moderamen stehen Wahlen an.