THEOLOGIE VON A BIS Z
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NEIN OHNE JEDES JA
Zur Erinnerung an die Reformierte Friedenserklärung (vor 40 Jahren 1982) und ihre Fortschreibung im Horizont des Russland-Ukraine-Kriegs (2022/2023)
Erster Teil: Zur Erinnerung an die Reformierte Friedenserklärung (1982)
Vorbemerkung:
Mein Vortragstext bezieht sich auch auf zwei für mich erstaunliche, wichtige, philosophische Bücher, die ich anzeigen möchte:
(I) Judith Butler, Die Macht der Gewaltlosigkeit / The Force of Nonviolenz. An Ethico-Political, bei Verso 2022. Zu ihrer Arbeit schreibt der Verlag zu Recht:
"Gewaltlosigkeit wird häufig als eine Praxis der Passivität verstanden, welche die ethische Einstellung sanftmütiger Einzelpersonen gegenüber existierenden Formen von Macht reflektiert. Dieses Verständnis ist falsch, wie Judith Butler in ihrem neuen Buch darlegt. Denn Gewaltlosigkeit kann durchaus eine aktive, ja aggressive Form annehmen, zudem ist sie ebenso wenig wie die Gewalt eine Angelegenheit einzelner Individuen, sondern stets eingebettet in soziale und politische Zusammenhänge. Auch deshalb gibt es erhebliche Meinungsverschiedenheiten darüber, wo die Grenze zwischen Gewalt und Gewaltlosigkeit verläuft sowie durch wen und wann Akte der Gewalt gerechtfertigt sind. Mit Foucault und Fanon arbeitet Butler die Widersprüche und exkludierenden Phantasmen heraus, die häufig am Werk sind, wenn Akte der Gewalt legitimiert oder verdammt werden. Und mit Freud und Benjamin macht sie deutlich, dass wir noch grundsätzlicher fragen müssen: Wer sind wir und in welcher Welt wollen wir leben? Butlers kraftvolle Antwort lautet: in einer Welt radikaler sozialer Gleichheit, die getragen ist von der Einsicht in die Abhängigkeiten und Verletzlichkeiten menschlicher Existenz. Diese Welt gilt es, gemeinsam im politischen Feld zu erkämpfen – gewaltlos und mit aller Macht."
Zur Person: Judith Butler (* 1956 in Cleveland) ist eine US-amerikanische Philosophin. Sie ist Lehrstuhlinhaberin für Rhetorik und Komparatistik an der University of California, Berkeley.
(II) Das andere Buch stammt von Olaf Müller: Pazifismus - Eine Verteidigung, Reclam 14354, Ditzingen 2023.
Von Müller übernehme ich den Ausdruck „pragmatischer Pazifismus“, der mich überzeugt. Müller schreibt: "Pazifisten haben es nicht leicht: Man wirft ihnen Blauäugigkeit oder blinden Dogmatismus vor. Mein Essay verteidigt demgegenüber einen Pazifismus ohne Prinzipienreiterei, einen ‚pragmatischen Pazifismus‘. So gut wie alle kriegerischen Handlungen sind unmoralisch. Pazifismus darf deshalb nicht darauf hinauslaufen, mit geschlossenen Augen starre moralische Regeln zu predigen, sondern er muss auf friedliebende Art und Weise die politische Wirklichkeit betrachten und nach den Wegen suchen, die am ehesten pazifistisch in Richtung ‚Frieden‘ weisen.“ Olaf Müller gibt dabei in aller Offenheit zu: „Ein so verstandener Pazifismus ist anstrengend und bietet keine Garantie dafür, am Ende schuldlos zu bleiben.“
Zur Person: Olaf L. Müller, geb. 1966, Professor für Philosophie (mit Schwerpunkt Wissenschaftsphilosophie) an der Humboldt-Universität zu Berlin
I Was war los?
Der Streit fängt an im Jahr 1982. Auslöser ist die sog. „Nachrüstungsdebatte“. In ihr geht es um die Pläne, neue atomare Mittelstreckenraketen aus den USA in Deutschland-West zu stationieren. Gemeint sind die amerikanischen Mittelstreckenraketen Pershing II und Cruise Misseles, die als Gegenwehr zu den russischen SS 20 Raketen aufgestellt werden sollen. Über diese Fragen politischer und militärischer Zusammenhänge gibt es mannigfache Diskussionen und Konfrontationen.
Die Diskussion der Friedensbewegung sammelt sich im "Krefelder Appell" vom 16. November 1980, zu dessen Trägerkreis Martin Niemöller gehört. Dieser Aufruf kann als eines der wirkungsvollsten Manifeste der westdeutschen „pragmatischen Pazifisten“ (Olaf Müller, Humboldt-Universität Berlin) betrachtet werden. Er artikuliert die Ängste und wird von ca. drei Millionen Menschen unterzeichnet. Der Appell wendet sich an die Bundesregierung mit der Forderung, auf eine Nachrüstung gemäß dem NATO-Doppelbeschluss vom Dezember 1979 zu verzichten und vielmehr eine allgemeine Abrüstung zur Maxime ihrer Sicherheitspolitik zu machen.
Der 22. Oktober 1983 ist der Höhepunkt der Proteste gegen die Stationierung von atomar bestückten Mittelstreckenraketen in Europa: Etwa 400.000 Menschen demonstrieren in Hamburg. Rund 500.000 umzingeln symbolisch das Regierungsviertel in Bonn. Hunderttausend formieren sich zwischen Stuttgart und Neu-Ulm zu einer mehr als 100 Kilometer langen Menschenkette.
Schon im Jahr vorher, im Sommer `82, kommt eine theologische Thesenreihe in die Öffentlichkeit, die das „Reformierte Moderamen“ - d.h. die Leitung des Reformierten Bundes - verfasst und einstimmig angenommen hat. Sie trägt den Titel Das Bekenntnis zu Jesus Christus und die Friedensverantwortung der Kirche. Dass das Moderamen darin die Friedensfrage zu einer „Bekenntnisfrage“ macht, löst erhebliche innerkirchliche Diskussion aus: „Wir sagen ein Nein ohne jedes Ja zu den atomaren Waffen“ (in der Erklärung auch oft „Massenvernichtungswaffen“ genannt).
Diese Formulierung wird zu einer Äußerung der kirchlichen Friedensbewegung. 1983 bestimmt das „Nein ohne jedes Ja“ den Kirchentag in Hannover. Sie ist auf einem Meer der hellblauen Halstücher zu lesen – verbunden mit einer Karikatur, auf der eine A-Bombe aus der Kirche getreten wird. Das Reformierte Votum wird enorm beachtet. Sie findet Zustimmung, aber eben auch Kritik. Die Beteiligten von damals wissen, welche Auseinandersetzungen es gab und wieviel Schmerzen in harten Meinungskämpfen und ungeschwisterlichen Trennungen die Erklärung auslöste.
II Der Härtefall
Die beiden wichtigsten Abschnitte der Erklärung stehen in der These I und V (von sieben Thesen), wo es heißt:
„Die Friedensfrage ist eine Bekenntnisfrage. Durch sie ist der ‚status confessionis‘ gegeben, weil es in der Stellung zu den Massenvernichtungsmitteln um das Bekennen oder Verleugnen des Evangeliums geht.“ (These 1)
Und:
„Im Glaubensgehorsam gegen Jesus Christus sagen wir: Auch für staatliche Machtmittel gibt es eine durch das Gebot des Herrn gesetzte Grenze, die nicht überschritten werden darf. Massenvernichtungsmittel sind keine angemessenen und notwendigen Machtmittel, mit denen ein Staat potentielle militärische Gegner abschrecken und im Kriegsfall bekämpfen darf. Es ist zwar Aufgabe des Staates, für Recht und Frieden zu sorgen und das Leben seiner Bürger zu schützen. Aber Massenvernichtungsmittel zerstören, was sie zu verteidigen vorgeben. Ihnen gilt vonseiten der Christen ein aus dem Bekenntnis zu Gott dem Schöpfer, Versöhner und Erlöser gesprochenes bedingungsloses ‚Nein!‘, ein ‘Nein ohne jedes Ja‘" (These 5).
Die Benennung des „status confessionis“ ist der Härtefall. „Status confessionis“ ist ein Bekenntnisnotstand, durch den die kirchliche Gemeinschaft in Frage steht. Er ist ein Zustand Fall, der das Bekennen zur Pflicht macht. Dadurch kommt eine Herausforderung zur Sprache. Man kann den „status confessionis“ auch als eine aus der biblischen Botschaft heraus entwickelte Antwort auf einer Grundfrage, die alternativlos vorgetragen wird – zum Beispiel „die Feindesliebe“. Diese Position dringt darauf, dass sich in einem Prozess der Verständigung – Wolfgang Huber und Hans-Richard Reuter sprechen von einem „processus confessionis“1 - möglichst viele „Kirchengremien“ einvernehmlich verständigen mögen.
Von daher kommt es zu einem Handgemenge über das Bekenntnis zu Jesus Christes. Ein hitziger, bislang in der EKD nicht gekannter Streit über das „Bekenntnis zu Jesus Christus“ ist ausgelöst. Der führende Lutheraner, der damalige Ratsvorsitzende der EKD, der hannoversche Bischof Eduard Lohse schreibt in seinen Memoiren über diesen Konflikt, wie er sich in der „Kirchenkonferenz“ als der Versammlung aller Kirche-Leitenden (Bischöfe, Präsides, Kirchenpräsidenten, Landessuperintendenten und Juristen) am 16. September 1982 in der EKD-Kanzlei zu Hannnover:
„In der gesamten Zeit meiner Zughörigkeit zu den Organen der EKD habe ich keine andere Beratung der Kirchenkonferenz erlebt, in der mit solcher Schärfe der Kritik diskutiert wurde.“
In der Kirchenkonferenz sind es besonders die Mitglieder des Moderamens und Landessuperintendenten Ako Haarbeck (Lippische Kirche) und Gerhard Nordholt (Evangelisch-reformierte Kirche in Nordwestdeutschland), die sich auf die Seite ihrer Friedenserklärung stellen und Rede und Antwort geben. Der ehemalige, hoch geachtete Moderator Hans Helmut Esser (Uni Münster) distanziert sich ohne Aufhebens, um das Moderamen nicht öffentlich zu schelten. Der neue Moderator Hans-Joachim Kraus (Uni Göttingen) geht in die Gemeinden und schreibt verschiedene Stellungnahmen in der kirchlichen und weltlichen Presse. Auch die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung öffnet ihm ihre Seiten.
III Gegenwind
In Sommer vor vierzig Jahren gibt dann die Vereinigte Evangelisch Lutherische Kirche (VELKD) bekannt: «Wir können dem Aufruf des reformierten Moderamens nicht zustimmen, politische Entscheidungen – selbst solche auf Leben und Tod – zu Bekenntnisfragen der Kirche zu erklären. Die Kirche steht und fällt mit ihrem Bekenntnis zu Jesus Christus [...]. Allein im Glauben an ihn entscheiden sich Heil oder Unheil der Menschen.“ Und der Rat der EKD sagt: „Das Bekenntnis zu Jesus Christus wird missbraucht, wenn es zur Entscheidung über offene politische Wege verwendet wird.“
Viele Christinnen und Christen – besonders jüngere - reagieren irritiert und ablehnend auf solche Sätze angesichts einer Situation, in der sie sich so sehr durch die „Nachrüstung“ bedroht sehen.
Bischof Lohse jedoch sieht sich in anderer Hinsicht bedroht:
„Eine Flut von Briefen mit Äußerungen unterschiedlichster Art gingen bei mir ein, am Telefon wurden Beschimpfungen laut, und es kam sogar zu persönlichen Drohungen. Demgegenüber ruhige Geduld zu bewahren, war nicht immer ganz einfach.“
Der Konflikt jedoch kommt auch an der „Basis“ an: Mit erheblicher Öffentlichkeitswirkung tritt die große Reformierte Gemeinde Bielefeld aus dem Reformierten Bund aus. Nicht wenige Einzelmitglieder verabschieden sich. Andere Gemeinden verweigern ihre Mitgliedsbeiträge oder ignorieren das Moderamen.
Die theologische Speerspitze gegen die Friedenserklärung bildet der aus dem reformierten Wittgensteiner Land kommende Berliner Neutestamentler Walter Schmithals (KiHo Berlin). Er zeigt in der Konsequenz seiner bultmannschen Theologie auf, wie wenig nach seinem Verständnis man vom Neuen Testament aus zu einem „Nein ohne jedes Ja“ oder zum status confessionis in einer politischen Frage kommen könne. Schmithals und seine Anhänger formulieren dabei eine rigorose Zwei-Reiche-Lehre, wie sie sonst allenfalls im konservativen Luthertum zu hören ist.
Die Darstellung der Kritik mag den Eindruck erwecken, dass das Moderamen eine Minderheitenposition zu Papier bringt. Das Gegenteil ist der Fall: Die Zahl der zustimmenden Gemeinden und ihrer „Einzelmitglieder“ wächst immer mehr. Und der status confessionis in der Nuklearwaffen-Frage findet auch über den konfessionellen Rahmen hinaus Gehör und Akzeptanz.
IV Hatten wir Recht?
Aus dem vierzigjährigen Abstand heraus ist schwer zu verstehen, wie derart aufgebracht und zugespitzt in der Kirche gestritten wird. Man muss sich dazu vergegenwärtigen, wie aufgeheizt die politische Diskussion in West und Ost um die Raketenrüstung insgesamt ist. Sie ist schon längst in eine ideologische, grauenvolle Auseinandersetzung abgeglitten. Der Präsident der USA, Ronald Reagan, bezeichnet Moskau als das „Zentrum des Bösen“ und meint vor einer großen Versammlung Evangelikaler, wir würden die große apokalyptische „Schlacht bei Armageddon“.
Das ist-nach Offenbarung 16, 16 der mythische Ort der letzten Entscheidungsschlacht, die als ein katastrophales, politisches, kriegerisches Ereignis über die ganze Welt kommen solle. Viele Menschen im Inland und in Europa, auch in den USA, stehen in der Furcht, dass der sog. Ost-West-Konflikt, der kalte Krieg aus der Zone politischen Machtauseinandersetzung heraustreten und zu einem militärischen Konflikt eskalieren würde, in dem der Einsatz von atomaren Waffen auch auf deutschem Boden nicht nur denkbar, sondern auch höchst wahrscheinlich werde.
Heute lässt sich wissen: Es wird alles in Ost und West mit den neuen Raketen auch genauso geplant und kalkuliert, wie es die Friedensbewegung [und in ihr das Moderamen] befürchten und analysieren. Erst mit dem unvorhergesehenen Michail Sergejewitsch Gorbatschow (1985), der durchaus als eine providentia DEI specialissima (eine besondere Vorsehung Gottes) angesehen werden kann, wird die atomare Bedrohung im Kalten Krieg aus dem Feuer genommen.
V Mangelhaft
Nun enthält jedoch die Moderamenserklärung einen theologischen Mangel, der uns heute einsehen lässt im grellen Licht erscheint. Sie findet sich in den Erläuterungen zur These I. Dort heißt es:
„Wie im Kirchenkampf die ‚Judenfrage‘ zu Bekenntnisfrage wurde, so stellt uns heute das Gebot des Bekennens in der Frage des Friedens und seiner Bedrohung durch die atomaren Massenvernichtungsmittel in den status confessionis …“
Ich halte inzwischen unsere damalige Parallelisierung von Holocaust und Atomwaffenbedrohung für unzulässig und schlimm. Sie wirft einen Schatten auf die Erklärung. Die Judenvernichtung in der Nazizeit ist ein einzigartiges Verbrechen, das nicht als didaktisches, belehrendes Beispiel in der Atomwaffenfrage instrumentalisiert werden durfte. Wir hätten das so nicht parallelisieren dürfen. Schlecht.
VI Kirchen in der DDR (1987) und Vollversammlung des Ökumenischen Rates (1983)
Das „Bekennen in der Friedensfrage“ aber wird nun damals nicht im Westen Deutschlands angegangen, sondern im Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR. Die Protestanten im Westen, die das „Nein ohne jedes Ja“ als Bestandteil ihres Glaubensbekenntnisses in Kopf und Herz trugen, schauten erstaunt – und wohl auch neidisch – in die DDR. Dort machen die Gemeinden, Synoden und Kirchenleitungen die Grabenkämpfe um die rechte Auslegung eines „status confessionis“ nicht mit. Sie sprechen vielmehr nach Beratungen aus, was beispielgebend die Bundessynode zu Görlitz 1987 wahrnimmt.
„Wir bekennen: Gott befreit uns durch Jesus Christus aus der Knechtschaft der Angst, die eine Folge der Sünde ist. Er befreit von Abhängigkeit und Unterdrückung. Daraus folgt: kein Mensch und keinStaat darf durch Drohung mit Massenvernichtungsmitteln Angst und Abhängigkeitsverhältnisse schaffen, um sich so seinen Frieden zu erkaufen und Macht auszuüben.“
Heute ist der Bund der Evangelischen Kirche in der DDR Teil der EKD. Und die EKD insgesamt steht in der Pflicht der Bundessynode zu Görlitz ’87. Entziehen sich der Rat der EKD und die Synode nicht dieses Erbes?
Schon 1983 allerdings spricht die Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Vancouver auch das Unvermeidbare aus:
„Wir glauben, dass für die Kirchen die Zeit gekommen ist, klar und eindeutig zu erklären, dass sowohl die Herstellung und Stationierung als auch der Einsatz von Atomwaffen ein Verbrechen gegen die Menschheit darstellen.“
Zweiter Teil: Gibt es eine Fortschreibung der Reformierten Friedenserklärung im Horizont des Russland-Ukraine-Kriegs (2023)?
VII auf einmal …
Auf einmal ist durch den Russland-Ukraine-Krieg der Einsatz von Atombomben wieder eine reale und nahe Zerstörungs- und Todesgefahr. Putin, Labrow, Medwedew und hohe russische Militärs drohen permanent mit dem Einsatz der Atomwaffen. Der amerikanische Präsident Biden droht zurück. Russland ist hinsichtlich der nuklearen Ausrüstung das weltweit stärkste und – mit Nordkorea – auch das rücksichtsloseste Land. Und darin hat Putin aller Wahrscheinlichkeit nach recht: Die Drohung mit der nuklearen Bewaffnung ist kein “Bluff“.
Inzwischen rückt der Zeiger der Uhr der internationalen Nuklearwissenschaftler, die Doomsday Clock, auf 44 Sekunden vor Mitternacht. In der 73-jährigen Geschichte dieser symbolischen Weltuntergangsuhr waren wir nach Meinung der Atomwaffen-Gelehrten nie näher an der atomaren Katastrophe dran wie gegenwärtig. Die Doomsday Clock tickt und schreitet voran, noch näher ans Desaster. Selbst Präsident Biden spricht vom drohenden „Armageddon“. Das ist die endzeitliche militärische Katastrophe, die zum Weltuntergang führt (Offenbarung des Johannes 16, 16). Das müssen wir zur Kenntnis nehmen und uns nicht vertrösten mit einem „So schlimm wird’s doch nicht werden.“
VIII Ein Nero-Befehl?
Meine größte Sorge ist, dass Putin im Angesicht einer großen militärischen Niederlage, die die Ukraine allein durch immer mehr westliche und stärkere Waffenlieferungen erstreiten könnte, den „Nero-Befehl“ ausgibt. Er führte uns letztlich alle in den nuklearen Abgrund - vor allem die Ukraine und Russland selber.
Der Name “Nero-Befehl” bezieht sich auf den “Großen-Brand” Roms im Juli 64 nach Christi Geburt. Es war in der Regierungszeit des als unbarmherzig und schrecklich geltenden Kaisers des Römischen Reiches Nero. Es heißt, Nero habe den römischen Stadtbrand selber gelegt und befeuert. Im Nero-Befehl habe er sogar Löschungen des Feuers verboten. Und seine Gnadenlosigkeit und Verwerflichkeit sei dadurch zu einem besonderen zynischen Ausdruck gebracht worden, dass er über den brennenden Dächern Roms die Leier gespielt habe. Wahrscheinlich ist das eine Legende. Aber der „Nero-Befehl“ ist zum Narrativ geworden.
Einen Nero-Befehl erlässt Hitler am 19.März 1945, also kurz vor seinem Selbstmord. Sein Befehl lautet, dass die letzten deutschen Soldaten ihre Heimat, ihre Dörfer und Städte, Weiden und Wälder und das ganze Deutschland selbst, auf eigene Faust vernichten und zerstören sollten. Was hätte Hitler wohl gemacht, wenn er den Nero-Befehl mit nuklearen Waffen selber hätte ausüben können?
Heute droht der Nero-Befehl in beiden Fällen: (A) Putin ist konzentriert und waghalsig. Er nimmt eine militärische Niederlage wahr – dann wäre der Nerobefehl konsequent. (B) Oder er ist nicht mehr bei Sinnen – dann wäre der Nero-Befehl noch wahrscheinlicher. -
IX Pazifistische Folgerungen
Die Folgerungen, die ich von daher hier vortrage, werden kirchlich und politisch ohne jede Beachtung und Wirksamkeit sein. Sie sind ohnmächtig, möglicherweise überflüssig. Sie sind radikal „daneben“. Viele werden sie auch in der Kirche eher für verrückt halten.
„Russland muss besiegt werden / die Ukraine muss immer stärkere Waffen“ bekommen, fordern auch Berliner Spitzenpolitiker. Wer den Krieg gegen den angeblichen Hitler-Wiedergänger Putin nicht alternativlos findet, ist – nur ein Beispiel - für den ehemaligen Kriegsdienstverweigerer und Mitglied des „Kommunistischen Bundes Westdeutschland“, des heutigen Grünen-Vordenkers Ralf Fücks ein „Unterwerfungspazifist“ [SPIEGEL 13. 7. 2022].
Allerdings ist die Diffamierung schon so vielen theologischen und kirchenpolitischen und politischen Texten passiert, dass es einen nicht wundern darf. Pazifisten dürfen nicht empfindlich und wehleidig sein. Und mit dem Vater des Programms eines gewaltlosen Widerstandes Theodor Ebert – langjähriges Mitglied der Kirchenleitung der Ev. Kirche in Berlin-Brandenburg – ist zu sagen:
„Wir Pazifisten können nicht einfach behaupten, wir hätten für alle Probleme die gewaltfreie Lösung, aber es gibt hinlängliche Gründe, sie zu suchen, ihnen nachzugehen und auf dem Wege der gewaltfreien Aktion die passenden Lösungen zu finden“.
Meines Erachtens sind es einige verwegene Annahmen und pragmatisch-pazifistische – im Unterschied zu gesinnungsethischen Totalinduktionen - Folgerungen, die sich 2023 ergeben aus der theologischen Verwerfung der Atomwaffen, wie sie etwa das Reformierte Moderamen 1982 und die Görlitzer Synode 1987 vorgenommen und bestimmt haben:
Die Atomwaffen sind in der Anwendung und schon in ihrer Bereitstellung ein unentschuldbares Verbrechen. Diejenigen, die sie lagern und ihre Anwendung üben und diejenigen, die sie gutheißen und einzusetzen bereit sind, begehen ein Verbrechen. Dieses Verbrechen exkommuniziert sie.
Ein „Nein ohne Ja“ und die Einordnung der Atomwaffen in ihrer Entwicklung, Bereitstellung und Anwendung als Verbrechen sind der Ausgangspunkt „Unsere Stellung zum Frieden reflektiert unsere Stellung zum Versöhner. Ich mache Gott zu einem Nichts, wenn ich die Sicherung des Friedens durch Atomwaffen befürworte“ (Rudolf Bohren 1983).
Die abschreckende Wirksamkeit von Atomwaffen wird oft mit dem Satz begründet: „Wer als erster schießt, stirbt als Zweiter.“ Heute muss der Satz lauten: „Auch wenn Einer als Erster schießt, darf der Zweite nicht mit Atomwaffen zurückschießen.“ Denn spätestens der atomare Rückschuss würde den ohnehin schon so versehrten Globus kollabieren lassen.
[Vom Ernst der Abschreckung durch Atomwaffen 1982 sagt vor vierzig Jahren – es stimmt immer noch - der Generalinspekteur der Bundeswehr Ulrich de Maiziere etwas Anderes: „Manche versuchen mit der Formel ‚Abschreckung ja – Verteidigung nein‘ das Dilemma zu überspielen. Dies aber ist in meinen Augen keine Lösung. Abschreckung kann doch nicht glaubhaft sein, wenn man zugleich zu erkennen gibt, dass man zur Verteidigung selbst nicht mehr bereit ist. Der Politiker und der militärische Führer können doch nicht zur Abschreckung die Waffen androhen, deren tatsächlicher Einsatz zugleich als ethisch nicht verantwortbar bezeichnet wird. Ich jedenfalls hätte mein Amt mit einer solchen Lüge (!) gegenüber den mir anvertrauten Soldaten und gegenüber der auf Sicherheit hoffenden Öffentlichkeit nicht führen können.“]
X Wie teuer?
Zu fragen ist: Wie hoch und wie teuer darf der Preis denn sein? Mit welcher Endabsicht wird im Ukraine-Krieg mit Hilfe westlicher Waffenlieferungen gekämpft? Was ist das Ziel? Heute sind es schon 120.000 Soldaten-Opfer auf beiden Seiten des Krieges. (So der US-Generalstabschef Mark Milley.) Und unzählbare Zivilisten sind dahingerafft. Bis zu welchen Zahlen und Mitteln dürfen schwere Waffen geliefert und mit ihnen Krieg geführt werden? Auch hinsichtlich der Mitteldinge der „taktischen Atomwaffen“ kann es keine Beruhigung geben. Jede einzelne von ihnen hat eine Zerstörungskraft, die die Zerstörung von Hiroshima übertrifft.
Das heißt nun konkret: Auch wenn Putin mit Atomwaffen droht, darf „der Westen“ nicht zurückdrohen und den atomaren Gegenschlag ausführen. Spätestens ein Gegenschlag wird ein solches Inferno auslösen, das die ganze Erde beträfe und in jeder Hinsicht unvertretbar wäre. Schon jetzt muss darum das „Nein ohne Ja“ auch in dieser Hinsicht ausgesprochen werden: Kein Zweitschlag! Das Übel ist unvorstellbar schrecklicher als ein waffenloser Widerstand.
Noch eins: Der Kampfjet Tornado ist seit 1981 in der deutschen Luftwaffe im Einsatz. Neue Atombomber sollen in kürzerer Zeit angeschafft werden – bis zu 35 „F-35“ amerikanische Flugzeuge. Die Bundeswehr übt dauernd – auch wenn sie nicht Mitglied der Nuklearmächte ist - nicht nur über Rheinland-Pfalz atomare Einsätze. Und sie bestätigt eine bis Februar 2026 dauernde Sanierung der Landebahn in Büchel.
Die alten und die neuen Flugzeuge sind deutsche Trägersysteme für amerikanischen Atomwaffen. Deshalb ist die Entscheidung für ein Tornado-Nachfolgemodell zugleich auch eine Entscheidung über die weitere nukleare Teilhabe Deutschlands. Die neuen Tornados sind unvorstellbar teuer. Geht diese „nukleare Teilhabe“ im Russland-Ukraine-Krieg auch so weit, dass die fliegenden Atomwaffen ihre Möglichkeiten auch ausüben – mit deutscher Hilfe? Von Deutschland aus gestartete Atombomben – auf Moskau?
Deshalb müssten - ich bin mir im Klaren über die Verrücktheit dieser Forderungen - die Tornado-Piloten des Taktischen Luftwaffengeschwaders 33 am Atomwaffenstandort Büchel zur Kriegsdienstverweigerung aufgerufen werden. Sie sollten mit der Beihilfe der Römisch katholischen Kirche und der Evangelischen Kirche erklären, dass sie sich an der Unterstützung der nuklearen Teilhabe Deutschlands aus Gewissensgründen nicht länger beteiligen können.
XI Bischöfliche Sätze? Pragmatischer Pazifismus?
Und was würde wohl geschehen, wenn die Vorsitzende des Rates der EKD, Präses Dr. Annette Kurschus oder der Bischof der EKBO Dr. Christian Stäblein im Blick auf die F-35 und die (vorerst „nur“ ) 100 Milliarden für die Bundeswehr öffentlich und laut den einen wichtigen Satz der Friedenskundgebung der EKD-Synode (Marburg November 2022) sagten:
“Einem drohenden neuen Rüstungswettlauf, der die Fragilität des internationalen Systems weiter erhöhen würde, treten wir entschieden entgegen.“
In der Ukraine und erst recht in Russland gibt es nicht wenige Pazifisten und Kriegsdienstverweigerer. So sie nicht im Gefängnis sind, ist auf ihre Stimme zu hören. [S.: Deutsches Pfarrerinnen- und Pfarrerblatt 1/2023 S. 52] Zusammen mit ihnen wäre im Geist eines pragmatischen Pazifismus zu sagen:
- widerstand ja, aber gewaltbegrenzend
- darum: weniger angriffswaffen
- mehr defensivwaffen
- mehr humanitäre unterstützung der ukraine
- flüchtlinge aufnehmen, mehr geld dafür
- wirtschaftliche sanktionen wie sie geschehen
- intensivste diplomatische bemühungen
- feuerpause
- unbedingt verhandlungen (auch mit putin)
- veränderungen mit gewaltlosen mitteln
- wie bei den friedlichen revolutionen 1989 im ostblock
- kirchliche parteinahme
- verabscheuung des moskauer patriarchen der orthodoxen kirche und kriegspredigers kyrill.
In diesem Sinne und auf dieser Linie haben sich die Friedensbauftragten der EKD Renke Brahms (seit 2008) und Friedrich Kramer (seit 2022) immer wieder geäußert. Immer wieder waren und sind sie zwei Lichtblicke. Sehe ich es aber recht, hat sich in der letzten Dekade nur ein namhafter evangelischer Hochschullehrer - vom Universitätskatheder aus - wieder zur Ethik der nuklearen Waffen geäußert. Er verdient es, im Zusammenhang zitiert zu werden:
XII Jürgen Moltmann - Das nukleare Selbstmordprogramm
Als die Atombomben erfunden und im August 1945 auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurden, endet nicht nur der Zweite Weltkrieg, das ganze Menschengeschlecht trat auch in seine Endzeit ein. Das ist ganz unapokalyptisch gemeint: Endzeit ist das Zeitalter, in dem das Ende des Menschengeschlechts jederzeit möglich ist. Durch die Möglichkeit eines großen Atomkriegs wurde das Menschengeschlecht im Ganzen sterblich
Den nuklearen Winter nach einem großen Atomschlag kann kein Mensch überleben. Zwar ist seit Ende des „Kalten Krieges“ 1989 ein großer Atomkrieg zur Zeit nicht sehr wahrscheinlich, aber immer noch stehen riesige Arsenale mit Atom-und Wasserstoffbomben in den USA, in Russland, China, England, Frankreich, Indien, Pakistan, Israel und Nord-Korea zur Selbstvernichtung der Menschheit bereit.
Das ist die „mutually assured destruction“, die paradoxerweise seit 1945 den Weltfrieden sichert. Das ist ein latentes, aber stets präsentes „Selbstmordprogramm“ der Nationen, wie der russische Atomwissenschaftler Sacharow es treffend nannte, das viele vergessen haben, weil sie aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt wurde. Präsident Obama erinnerte in Prag seinerzeit an das Ideal einer atomwaffenfreien Welt, aber Präsident Putin pries 2018 die neuen Waffen Russlands und Präsident Trump löste den IFN Vertrag über ein Verbot von atomaren Kurzstreckenraketen in Europa auf, das Reagan und Gorbatschow 1987 ausgehandelt hatten. Die neue atomare Aufrüstung hat begonnen.
Neu sind die Trägerraketen, die die Warnzeiten auf ein Minimum reduzieren. Der große Atomkrieg hängt wie ein dunkles Schicksal über der Menschheit, und wir spüren seine Wirkungen auf das öffentliche Bewusstsein in dem, was die amerikanischen Psychologen das »nuclear numbing« nennen, atomare Betäubung und Vergessenheit. Wir verdrängen unsere Angst. Diese Bedrohung zu vergessen, und leben so, als gäbe es diese Gefahr nicht. Und doch nagt sie an unserem Unterbewusstsein und verletzt unsere Liebe zum Leben.
Kommt es zu einer Vereinbarung der Nationen über eine „atomwaffenfreie Welt“ oder bedrohen die Nationen sich gegenseitig weiter mit dem nuklearen Mord der Menschheit?
[Aus seinem jüngsten Buch: Jürgen Moltmann, Politische Theologie der modernen Welt, 1. Aufl. Gütersloh 2021, Kapitel V. Die großen Alternativen: 1. Übersicht: Ein Kultur des Lebens in den tödlichen Gefahren dieser Zeit, 1.1 Terror des Todes – DAS NUKLEARE SELBSTMORDPROGRAMM, S. 164-165]
XIII Auch Papst Franziskus
„Unsere Welt lebt in der abartigen Dichotomie, Stabilität und Frieden auf der Basis einer falschen, von einer Logik des Misstrauens gestützten ‚Sicherheit‘ zu verteidigen und sichern zu wollen. Aus tiefer Überzeugung möchte ich bekräftigen, dass der Einsatz von Atomenergie zu Kriegszwecken heute mehr denn je ein Verbrechen ist, nicht nur gegen den Menschen und seine Würde, sondern auch gegen jede Zukunftsmöglichkeit in unserem gemeinsamen Haus. Der Einsatz von Atomenergie zu Kriegszwecken ist in jeder Hinsicht unmoralisch, wie ebenso der Besitz von Atomwaffen in jeder Hinsicht unmoralisch ist. Wir werden darüber von Gott gerichtet werden.“ (Papst Franziskus am 24. November 2019 am Friedensdenkmal in Hiroshima).
XIV Das Bekenntnis zu Jesus Christus und die Friedensverantwortung der Kirche: Eine Erklärung des mModeramens des Reformierten Bundes (1982)
I
Jesus Christus ist unser Friede. In seinem Tod am Kreuz und in seiner Auferstehung von den Toten hat Gott die ganze gottfeindliche Welt mit sich versöhnt und alle Menschen unter den Zuspruch und Anspruch seines Friedens gestellt. Dem gekreuzigten und auferstandenen Herrn gehört alle Macht im Himmel und auf Erden. Er hat seine Gemeinde in die Welt gesandt, das Wort von der Versöhnung auszurichten, seinen Frieden zu bezeugen und im Gehorsam gegen sein Wort Frieden zu halten mit allen Menschen. Sein Friede, den die Welt nicht geben, nicht sichern oder zerstören kann, befreit und verpflichtet dazu, für den Frieden unter den Menschen zu beten, zu denken und zu arbeiten. Dieses Bekenntnis unseres Glaubens ist unvereinbar mit der Meinung, die Frage des Friedens auf Erden unter den Menschen sei eine politische Ermessensfrage und darum unabhängig von der Friedensbotschaft des Evangeliums zu entscheiden.
Angesichts der Bedrohung des Friedens durch die Massenvernichtungsmittel (A-B-C Waffen und konventionelle Massenvernichtungswaffen) haben wir als Kirche meist geschwiegen oder nicht entschieden genug den Willen des Herrn bezeugt. Jetzt, da stärker als zuvor die Möglichkeit des Atomkriegs zur Wahrscheinlichkeit wird, erkennen wir: Die Friedensfrage ist eine Bekenntnisfrage. Durch sie ist für uns der status confessionis gegeben, weil es in der Stellung zu den Massenvernichtungsmitteln um das Bekennen oder Verleugnen des Evangeliums geht.
II
In Jesus Christus hat Gott allen Menschen Frieden gewährt. In der Versöhnungstat Jesu Christi begründet er die neue Wirklichkeit: Die ganze Welt ist mit Gott versöhnt. In dieser Wirklichkeit leben wir. Ihr sollen wir durch unser ganzes Leben im Glauben und im Gehorsam entsprechen.
Dieses Bekenntnis unseres Glaubens ist unvereinbar mit aller lebensbedrohenden Feindschaft unter den Menschen und allen ideologischen Feindbildern, mit denen eine bislang ungebändigte Aufrüstung begründet wird. Feindschaft, Bereitschaft zur Vernichtung und Vergeltung, Haß und Menschenfurcht leugnen die Wirklichkeit der Versöhnung der Welt mit Gott, deren Wahrheit Gott in der Auferstehung des Gekreuzigten offenbar gemacht hat.
Im Vertrauen auf die auch unseren Feind einschließende Versöhnungstat Jesu Christi wollen wir alle Taten des Unfriedens, allen verzerrten Bildern von Menschen und Völkern und darum auch allen mit solchen Feindbildern gerechtfertigten Massenvernichtungsmitteln den Abschied geben. In Christus sind wir alle mit Gott und darum auch miteinander versöhnte Menschen, die sich nicht wie Unversöhnte meiden, bedrohen, abschrecken oder gar vernichten dürfen.
III
Gott ist der Schöpfer und Erhalter der Welt. Trotz unserer Schuld hält und erneuert er in Treue den Bund mit uns Menschen und gibt nicht preis die Werke seiner Hände. Dieses Bekenntnis unseres Glaubens ist unvereinbar mit der Entwicklung, Bereitstellung und Anwendung von Massenvernichtungsmitteln, die den von Gott geliebten und zum Bundespartner erwählten Menschen ausrotten und die Schöpfung verwüsten können. Im Vertrauen auf den Gott des Bundes und der Treue wollen wir uns nicht länger von solchen "Waffen" umgeben, "schützen" und gefährden lassen.
IV
Gott verbindet in Christus seinen Frieden mit der Verheißung und dem Gebot menschlicher Gerechtigkeit. Dieses Bekenntnis unseres Glaubens ist unvereinbar mit der Bejahung oder auch nur Duldung eines "Sicherheitssystems", das auf Kosten der Hungernden und Elenden der Erde und um den Preis ihres Todes erhalten wird. Im Gehorsam gegen den Gott des Friedens und der Gerechtigkeit wollen wir uns einsetzen für einschneidende Kürzungen der Rüstungshaushalte zugunsten der Armen. Im Vertrauen auf ihn sind wir bereit zu ersten, auch einseitigen Schritten der Abrüstung, deren politische Durchsetzung wir fordern und voranbringen wollen. Solche ersten Schritte sind:
- die grundsätzliche Verpflichtung, Konflikte ohne Anwendung oder Androhung von Gewalt lösen zu wollen,
- der Verzicht auf immer neue Waffen,
- der sofortige Einhalt der Entwicklung und Stationierung neuartiger Massenvernichtungsmittel,
- die Verpflichtung, die vorhandenen Massenvernichtungsmittel in einem Krieg nicht anzuwenden und erst recht nicht als erster einzusetzen,
- die Einrichtung kernwaffenfreier Zonen,
- kalkulierte, einseitige Abrüstungsmaßnahmen,
- das Verbot und die Verhinderung der Rüstungsexporte.
V
Jesus Christus, der Sohn Gottes, ist der eine und einzige Herr, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben. Sein Gebot ist Maßstab und Grenze auch aller innerweltlichen, politischen Verantwortung der Christen. Dieses Bekenntnis unseres Glaubens ist unvereinbar mit der Auffassung, die Lösung des Problems der notwendigen und angemessenen Machtmittel des Staates sei allein dem politischen Ermessen und der "praktischen Vernunft" vorbehalten und es könne für Christen dabei keine eindeutige Entscheidung geben, die sich von ihrem Glauben her hinreichend begründen ließe.
Im Glaubensgehorsam gegen Jesus Christus sagen wir: Auch für staatliche Machtmittel gibt es eine durch das Gebot des Herrn gesetzte Grenze, die nicht überschritten werden darf. Massenvernichtungsmittel sind keine angemessenen und notwendigen Machtmittel, mit denen ein Staat potentielle militärische Gegner abschrecken und im Kriegsfall bekämpfen darf. Es ist zwar Aufgabe des Staates, für Recht und Frieden zu sorgen und das Leben seiner Bürger zu schützen. Aber Massenvernichtungsmittel zerstören, was sie zu verteidigen vorgeben. Ihnen gilt von seiten der Christen ein aus dem Bekenntnis zu Gott dem Schöpfer, Versöhner und Erlöser gesprochenes bedingungsloses "Nein!", ein "Nein ohne jedes Ja".
VI
Jesus Christus, der für uns gekreuzigte und auferstandene Herr, ist gegenwärtig in der Kraft des Heiligen Geistes. Unter seiner Herrschaft, die sich ohne Gewalt durchsetzt, und unter seiner Leitung, die niemanden zwingt, gewinnen wir Hoffnung und Zuversicht. Dieses Bekenntnis unseres Glaubens ist unvereinbar mit aller Hoffnungslosigkeit und Passivität angesichts der ungeheuren Bedrohung und der oft aussichtslos erscheinenden Mühe um die Bewahrung des Friedens.
Im Vertrauen auf die Herrschaft Jesu Christi und in der Kraft des Heiligen Geistes wollen wir uns nicht entmutigen lassen, für den Frieden zu beten, zu denken und zu arbeiten. Da Jesus Christus der Versöhner und Herr der ganzen Welt ist und seine Herrschaft nicht an den Grenzen der christlichen Gemeinde aufhört, arbeiten wir auch mit Menschen zusammen, die keine Christen sind. Der tröstenden Macht seines Geistes befehlen wir uns an, wenn der Weg des Friedens ins Leid und ins Kreuz führt.
VII
Gott wird die in Christus beschlossene Versöhnung mit der Wiederkunft des Herrn vollenden und einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, in denen Gerechtigkeit und Frieden ohne Ende wohnen. Steht diese Vollendung des Heils auch noch aus, so wird sie doch - von Gott in der Auferstehung des Gekreuzigten verbürgt und von ihm bestimmt - kommen und mit der Auferweckung aller Toten und dem letzten Gericht anheben.
Dieses Bekenntnis unseres Glaubens ist unvereinbar mit allem aufgeregten, ziellosen Aktivismus, allem blasphemischen Spekulieren über die "Schrecken der Endzeit", allem Desinteresse an den Fragen der Friedenserhaltung und aller politischen Gleichgültigkeit hinsichtlich der Entwicklung der Welt.
In der Hoffnung auf den wiederkommenden Herrn sind wir frei zu vorläufigen, auch unvollkommenen, aber tapferen und entschiedenen Schritten für den Frieden. Vor ihm als dem letzten Richter über unser Leben werden wir Rechenschaft darüber ablegen müssen, was wir mit den jeweils eigenen Gaben dazu beigetragen haben, Widerstand gegen die Bedrohung zu leisten, die atomare Katastrophe zu verhindern und seinen Frieden in Wort und Tat zu bezeugen.
Karl Rahner: Gebet um Frieden
Heiliger Schöpfer der Welt und der Erde mit ihren Menschen. Du hast gewollt, dass die Menschheit sich bin zu einem Punkt entwickle, an dem sie nicht nur dieses, jenes und vieles Böses in ihrer Geschichte begehen kann und immer wieder schrecklich begeht, sondern an dem sie sich in einem globalen Suizid selbst zu vernichten vermag. Hättest du nicht diese Möglichkeit der Evolution verhindern können, wenn doch die Geschichte der Menschheit (wie wir hoffen, hoffen müssen) in deinem Licht und deinem Frieden enden soll, der mehr ist als alle Etappen einer weiter gehenden Entwicklung? Oder bekennt gerade diese letzte Möglichkeit allein eindeutig, wer du bist und wer wir sind, weil die höchste Höhe der Kreatur unerbittlich zum höchsten Absprung in das restlose und sogar vorhersehbare Verderben wird?
Vielleicht schaudert dir vor diesem globalen Selbstmord gar nicht, weil du ja (hoffentlich milden Ge-richts) den Taten Kains am Anfang und jedem Suizid zu allen Zeiten zusiehst. Aber wir, deine Kreaturen, haben nicht das Recht, diesen universalen Brudermord, unseren globalen Selbstmord zu wollen oder durch unsere Indolenz zuzulassen. Es gibt Möglichkeiten, nicht nur Wirklichkeiten, die so entsetzlich sind, dass auch nur ein lässiges Hinnehmen, ein Damitrechnen die Hölle verdient. Du hast die Menschheit in ihrer ganzen Geschichte in Massenwahn und auf Irrwege rennen lassen, bei denen uns nichts übrig bleibt, als weinend niederzufallen vor unserem Gott, der uns gemacht hat. Und niemand weiß genau, ob gerade im menschlich Schrecklichsten oder im bloß scheinbar Harmlosen das Schrecklichste sich ereignet, das dein verzehrendes Gericht trifft.
Dazu hast du verkündet (so, dass es uns interessieren muss), dass ein Ende der Menschheitsgeschichte auf jeden Fall von dir gewollt und herbeigeführt werden wird. Aber, o Gott allen Erbarmens, muss ich wirklich damit rechnen, dass die Menschheit ihr Ende durch Selbstmord herbei führt? Selbst wenn wir eine solche Irrtat noch einmal deinem Gericht überlassen müssten, so wäre dieser globale Selbstmord - verursacht durch wenige, die für alle verantwortlich sind – doch objektiv die äußerste Sünde, der globale Widerspruch zu deinem Schöpferwillen, der will, dass wir seien und unsere uns auferlegte Existenz als Gabe einer unermesslichen Liebe entgegennehmen.
O Gott, dieser Suizid wäre zwar unsere Tat, die du weit von dir abweisen könntest. Aber unsere Freiheit samt ihrer Kurzsichtigkeit und Verblendung, samt allem Massenwahn, samt aller Hybris, die mit den äußersten Möglichkeiten spielt, liegt doch nochmals in der souveränen Macht deiner eigenen Freiheit, deiner grundlosen Verfügung. Gestatte, du Gott der Erbarmungen, dass diese erbarmungswürdig kleine Kreatur doch an deine eigene Verantwortung appelliert. Es ist nur zu wahr, dass wir selbst alles tun müssen, was möglich ist, um den atomaren Selbstmord der Menschheit als Wirklichkeit und (beinahe noch wichtiger!) schon als Möglichkeit zu verhindern, ohne uns der fatalen Rabulistik des Friedens durch atomares Gleichgewicht des Schreckens zu ergeben, ohne zu meinen, man könnte dem letzten Schrecken entgehen durch bloße rationale Verhandlungen zwischen zwei gleichstarken Egoismen, ohne den Mut zur Torheit der Bergpredigt und der Liebe deines Sohnes am Kreuz.
Aber dennoch, Gott des Erbarmens, rufe ich dich und dein Erbarmen an. Wenn du willst, vernichte uns und ende die schmutzig-mündige Geschichte der Menschheit. Abe hast du diese Geschichte durch Millionen von Jahren nur anlaufen lassen, um sie zwei Jahrtausende nach der Versöhnung der Welt am Kreuz deines Sohnes zu beenden, obwohl wir meinen können, sie fange jetzt erst recht an im Lichte deines Evangeliums? Lass die Menschheit noch leben, sie kann dir noch auf ganz neue Weise danken für deine große Herrlichkeit.
Gib darum allen Menschen überall den Mut und die Tapferkeit, einzutreten für den Frieden und für eine wirkliche Abrüstung. Gib der Kirche den Mut, nicht weise zu lehren, wie man die Egoismen der Menschen untereinander schlau versöhnen könne, sondern wie man für selbstlose Gerechtigkeit und mit der Torheit des Kreuzes für den Frieden eintreten muss und kann. Kehre das Herz der Mächtigen um, damit sie nicht lügnerisch Machtstreben für berechtigte Selbstverteidigung ausgeben, nicht sich und andere täuschen, indem sie sagen, sie dienten dem Frieden durch immer höher vorangetriebene Aufrüstung. Und schließlich: Lehre uns, in unserem eigenen Leben selbstlos den Frieden zu fördern.
(Aus: Karl Rahner, Gebete des Lebens, Herder – Freiburg im Breisgau, 2004, S. 149 - 151)
Rolf Wischnath