Der reformierte Blick auf die Bilder, so hatten wir in der letzten Folge gesehen, bedeutet nicht, dass man Bilder grundsätzlich kritisch betrachtet, ja er kann sogar im positiven Sinn als Ermutigung zum Bilder schaffen begriffen werden. Was bedeutet das für den Umgang mit der zeitgenössischen Kunst? Und was bedeutet es für den Umgang mit zeitgenössischer Kunst im reformierten Versammlungsraum?
Persönlich finde ich weiterhin jene Beschreibung der Kunst am produktivsten, die Karl Barth 1928 in seiner Vorlesung zur Ethik gegeben hat. Sie ist deshalb produktiv, weil sie mit der Entwicklung der Kunst der Moderne übereinstimmt und zugleich die moderne Ausdifferenzierung von Kunst und Glauben ernst nimmt. Barth zählt die Kunst zu den „besonderen Lebensmöglichkeiten“, die uns die „Einsicht in den Spielcharakter des guten, des von uns geforderten Tuns gerade sub specie aeternis“ eröffnen. Kunstwerke schaffen heißt nach Barth, besondere Werke zu schaffen, Werke, die sich durch ihre Differenz zu allen anderen Bereichen menschlichen Lebens auszeichnen. Karl Barth schreibt, das Werk des Künstlers stehe
„neben den lebensnotwendigen Werken der eigentlichen Arbeit, neben der Wissenschaft, neben Kirche und Staat ... Das wagt doch der Mensch in der Kunst: die gegenwärtige Wirklichkeit in ihrem schöpfungsmäßigen Das-Sein, aber auch in ihrem So-Sein als Welt des Sündenfalls und der Versöhnung nicht letztlich ernst zu nehmen, sondern neben sie eine zweite, als Gegenwart nur höchst paradoxer Weise mögliche Wirklichkeit zu schaffen, ohne von jener loszukommen“.
Gegen die auch bei Kirchenvertretern bis heute beliebte Rede von der Gemeinsamkeit von Kunst und Religion beharrt Barth auf ihrer Differenz: das Werk des Künstlers steht eben auch neben der Kirche. Kunst ist insofern ästhetische Kritik der Wirklichkeit, weil sie mit ihr spielt:
„Sie lässt die Wirklichkeit in ihrem Das-Sein und So-sein nicht gelten als letztes Wort. Sie überbietet sie mit ihrem Wort. Sie meint es besser wissen und machen zu können“.
Nach Karl Barth wird in der Kunst
„die Problematik der Gegenwart gerade darum und darin ernstgenommen, dass sie in ihrer Beschränktheit eingesehen, dass sie in der Aisthesis grundsätzlich überboten wird ... Das Wort und Gebot Gottes fordert Kunst“.
Kunst dient trotz ihres spielerischen Charakters nicht dem Genuss (sie ist eben kein „Fakultativum für solche, denen es zufällig Spaß macht“ wie Barth es pointiert sagt), sie ist unentbehrliche Kritik der Gegenwart und daher auch Aufgabe des Christen. Diese Gedanken von Barth bilden einen vernünftigen Rahmen für die Verhältnisbestimmung zur zeitgenössischen Kunst.
Zunächst einmal bedeutet das: der reformierte Blick sucht die zeitgenössische Kunst nicht in Kirchen, sondern in Ausstellungen und Museen, in Galerien und Kunsthallen, auf der documenta, bei der Biennale oder auf der Skulptur-Ausstellung. Dort wo das Betriebssystem Kunst sich artikuliert und den Austausch sucht, dort muss auch die Kunstwahrnehmung der Gläubigen stattfinden. Es gibt hier keine kirchliche Sonderkultur, kann und darf sie nicht geben. 2017 blickt man für die Kunst nicht nach Wittenberg, sondern nach Kassel, Venedig und Münster.
Heißt das aber, es sollte überhaupt keine zeitgenössische Kunst im Versammlungsraum der Gemeinde geben? Grundsätzlich bin ich als Mensch der Moderne bzw. der Post-Moderne vom weißen Raum, von der Offenheit des White Cube fasziniert und möchte diesen auch im Religiösen erhalten wissen. Nichts wäre unangenehmer und peinlicher als die Rückkehr zu den Fleischtöpfen barocker Raumgestaltungen oder auch als kunsthandwerkliche Retro-Inszenierungen im Stil des 19. Jahrhunderts.
Nicht umsonst ist der weiße Raum von nahezu allen modernen ästhetischen Inszenierungsformen (Galerie, Museum, Messe) übernommen worden. Er ist der beste Weg, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Mir scheint aber, dass das Verhältnis zu dieser Raumgestaltung vielleicht zu selbstverständlich geworden ist, ja geradezu geronnen, so dass es ab und an einer temporären Intervention bedarf, um sich den Raum als solchen zu vergegenwärtigen, das heißt ihn bewusst werden zu lassen.
Man könnte deshalb in kühnen Experimenten ab und an die zeitgenössische Kunst als Gast einladen, so wie das der Literaturwissenschaftler George Steiner vor Jahren vorgeschlagen hat. In seinem Essay Von realer Gegenwart hat er eine Theorie der cortesia, der zuvorkommenden Höflichkeit gegenüber der Kunst skizziert. Kunst könnte so temporär Gast im Raum der Gemeinde sein.
„Wo Freiheiten einander begegnen, wo die integrale Freiheit der Schenkung oder Verweigerung des Kunstwerkes auf unsere eigene Freiheit der Rezeption oder der Verweigerung trifft, ist cortesia, ist das, was ich Herzenstakt genannt habe, von Essenz ... Von Angesicht zu Angesicht im Gegenüber zur Gegenwart gebotener Bedeutung, die wir einen Text nennen (oder ein Gemälde oder eine Symphonie), streben wir danach, seine Sprache zu hören. Wie wir auch die des auserwählten Fremden hören wollen, der zu uns kommt“.
Eine so gepflegte Cortesia nimmt den Gast in den Blick, gibt ihm sein Recht gegenüber jeder sekundären (auch religiösen) Funktionalisierung, gegenüber jedem vereinnahmenden Kommentar. Analog dazu, dass ich Gott nicht in ein Haus zerren und meinen Wünschen gefügig machen kann, ohne ihn zum Götzen zu machen, analog dazu, dass ich einen geliebten Menschen nicht überfallen und ihm dann meine Liebe erklären kann, ohne ihm Gewalt anzutun, analog dazu kann ich das Kunstwerk nicht instrumentalisieren, ohne seine Freiheit bereits zerstört zu haben. Wenn man sich in aller Freiheit darauf einließe, gegenüber der zeitgenössischen Kunst eine Ethik der Gastfreundschaft zu entwickeln, um die Stimme der Kunst zu hören bzw. das Bild der Kunst zu sehen, könnten sich interessante Perspektiven entwickeln.
02 – Du sollst Dir kein Kultbild machen
03 – Christus, die Befreiung der Künste zur Profanität
04 – Eine reformierte Kunsttheorie avant la lettre
05 – Bildersturm – Kein dunkles Kapitel
06 – Zwingli und Calvin und die Folgen für die Kunst
07 – Reformierte Ästhetik als neues Kulturparadigma
08 – The White Cube: Glaube gewinnt Raum
09 – Holzwege: die Gefahr der Erstarrung
10 – GeistesGegenwart: Zeitgenössische Kunst
Andreas Mertin, Dr. phil. h.c., geb. 1958 in Hagen/Westfalen, Studium der Theologie, Philosophie und Kunstgeschichte,
freiberuflich tätig als Medienpädagoge und Ausstellungskurator. Mehr Infos: www.amertin.de