Sicherheit und Freiheit - in biblischer Perspektive

Predigt zu Psalm 4, Psalm 31,9


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Du schaffst mir einen sicheren Ort. - Psalm 4

Du stellst meine Füße auf weiten Raum. - Psalm 31,9

Predigt zum Abschluss des Krummhörner Orgelfrühlings 2017

Liebe Gemeinde,

das Thema Sicherheit hat die Landtagswahlen der letzten Wochen stark bestimmt. Das ist durchaus verständlich. Jeder Mensch möchte gern in Ruhe und Frieden leben, und sich ohne Angst frei bewegen können. Aber die Diskussionen der letzten Zeit zeigen, dass Sicherheitsstreben und die Verteidigung der bürgerlichen Freiheit bisweilen in eine gewisse Spannung geraten können.

Ich möchte nun aus biblischer Perspektive einen Blick auf das Verhältnis von Sicherheit und Freiheit werfen und von der Erinnerung an den Auszug aus Ägypten ausgehen, der uns viel Grundlegendes über Gott und die Menschen sagt.

Am Anfang dieser Geschichte steht die verständliche Sehnsucht der hebräischen Sklaven nach einem Leben in Freiheit. Jeden Tag von morgens bis abends schuften müssen, nur damit sich andere noch mehr bereichern können, wehrlos der Willkür gemeiner Aufseher ausgesetzt sein, die einen ständig schikanieren, immer wieder zu spüren bekommen, dass man als Mensch nichts zählt, sondern nur, wie es heute zynisch heißt: als Leistungsträger, aus dem das letzte herausgepresst wird: Das ist doch wirklich kein Leben! Die unglücklichen Arbeitssklaven unserer Zeit, die in vielen Teilen der Welt ähnlichen Bedingungen ausgesetzt sind wie die Hebräer damals, würden diesem Urteil sicher sofort zustimmen. Aber nicht nur sie. Wenn auch natürlich in anderer Form, so gibt es auch bei uns viele, die beruflich völlig aufgerieben werden, ihrer Firma ständig verfügbar sein müssen und kaum noch Zeit, geschweige denn Muße, finden für sich selbst und ihr persönliches Leben. Auch sie kennen die brennende Sehnsucht, dass diese Plackerei endlich aufhört, dass sich ihr Leben grundlegend verändert, es sei denn die Gewohnheit hat diese Sehnsucht längst erstickt.

Unser Gott ist – Gott sei Dank! - einer, der jede Verzweiflung sieht, der auch stumme Schreie hört, und der weiß, was uns empört und bedrückt, auch wenn wir dafür keine rechten Worte finden. Und die Bibel vergewissert uns bis heute mit ihren Geschichten, dass Gott nicht nur ein ferner Betrachter bleibt, sondern reagiert und rettend eingreift mit Worten und Taten.

Den hebräischen Sklaven verspricht er, sie in ein Land zu führen, in dem Milch und Honig fließt, wo für jeden genug da ist zum Leben, wo also der brutale Verteilungskampf endlich aufhören kann und jeder Genüge finden kann, auf Hebräisch: Schalom.

Ich denke, Sie wissen, wie die Geschichte weitergegangen ist. Tatsächlich können die Sklaven aus Ägypten aufbrechen und sich auf den Weg in die Freiheit machen. Aber dieser Weg muss gegangen sein. Gott zaubert sie nicht einfach in die versprochene Zukunft. Zwischen der Sklaverei und dem Gelobten Land liegt nicht nur ein Meer, sondern auch eine riesige Wüste mit Hindernissen, die trotz Gottes wunderbarer Hilfe jedes Mal wieder unüberwindlich scheinen. Und jedes Mal wieder resignieren die befreiten Sklaven und beklagen sich bei Mose und indirekt auch bei Gott: Wären wir doch bloß in Ägypten geblieben!

Wie kommt das, dass die Sehnsucht nach Sicherheit so leicht größer wird als die nach Freiheit? Dazu einige Beobachtungen:

Zum einen: Es ist so: So sehr man sich nach Freiheit sehnt, so kann sie doch auch zutiefst verunsichern: Das bestätigen viele Untersuchungen der Gegenwart. Noch nie waren Menschen in unseren westlichen Gesellschaften in ihrer Lebensgestaltung so frei wie heute. Die traditionellen Normen von Kultur und Religion haben ihre Allgemeingültigkeit verloren, jeder kann, jeder muss selbst entscheiden, was für ihn oder sie wichtig ist, jeder kann nach eigener Facon selig werden. Diese Freiheit ist eine große Errungenschaft nach Jahrhunderten von Zwängen, die das Leben jedes einzelnen strikt reguliert haben. Aber diese Freiheit kann einen auch überfordern, einem das Gefühl von Haltlosigkeit, von Verlorenheit in einem unübersehbaren Wust von Möglichkeiten vermitteln.

Manche suchen dann ihre Sicherheit in dem Altgewohnten, auch wenn es sie einengt und sie daran leiden. Psychologen und auch Seelsorger erleben, wie groß bei vielen die Angst ist, etwas an ihrem Leben zu verändern. Lieber bleiben sie in den gewohnten Bahnen ihrer unglücklichen Ehe, ihrer Erziehungsprobleme oder ihres beruflichen Leidens als dass sie etwas Neues im Umgang mit anderen wagen oder sich aus irreparablen Beziehungen lösen. Bei dem, was man hat, weiß man wenigstens, was einen erwartet, da ist man vor Überraschungen sicher. Lieber keine Experimente! Lieber auf Nummer Sicherheit bleiben.

Ich kann mir vorstellen, dass es diese Angst vor dem Losgehen in eine neue Zukunft auch bei den hebräischen Sklaven gegeben hat. Sie tritt jedenfalls später immer wieder zutage. Bei jedem Hindernis auf ihrem Weg verlässt sie der Mut. Als sie vor dem Roten Meer stehen und die Armee des Pharao hinter sich angestürmt kommt, da bereuen sie gleich, aufgebrochen zu sein. Wären wir doch in Ägypten geblieben!

Gott überlässt sie in seiner großen Güte nicht ihrer Verzagtheit. Der Wolken Luft und Winden gibt Wege Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann! Das haben auch Sie sicher schon erlebt! Aber erinnern Sie sich, wie Gott den Weg durch das Meer gebahnt hat? Er hat Mose befohlen, seinen Stab über das Wasser zu halten. Dann würden sich die Wellen teilen und den Weg für das Volk freimachen. In der jüdischen Tradition wird dazu bemerkt: Die Fluten gingen aber nicht schon beim Hochheben des Stabes auf, sondern erst, als die ersten wagten, loszugehen. Mit den Worten Dietrich Bonhoeffers: Gott gibt uns in jeder Notlage die Kraft, die wir brauchen. Aber er gibt sie uns nicht im Voraus.

In der Enge verharren, an unhaltbaren Zuständen immer weiter festhalten, das entspricht nicht der Sicherheit, die Gott meint. Eine Sicherheit ohne Offenheit, ohne Freiheit, führt zum Ersticken. Gott schafft einen sicheren Ort für die, die auf sein Wort hin heilsame Veränderungen in Angriff nehmen, die Neues wagen im Vertrauen auf seinen Beistand. In Gottes treuer Begleitung finden sie Geborgenheit auch in der bedrohlichen Weite, und aus der festen Verbindung mit Gott können sie Kraft zum Weitergehen schöpfen. (Nur in Klammern:  Ich glaube, das haben auch die Krummhörner Auswanderer erlebt, von denen ich in dem Heft zum Orgelfrühling gelesen habe, als sie aus der Ausweglosigkeit ihrer Heimat den gefährlichen Weg über das Meer ins unbekannte Amerika gewagt haben.)

Eine weitere Beobachtung: Wären wir doch in Ägypten geblieben! Die Unsicherheit, die mit der Freiheit verbunden ist, hat die ehemaligen Sklaven dazu verführt, in Krisen immer sofort nach Schuldigen zu suchen: Immer wieder kriegt Mose zu hören: Warum hast Du uns hierhergeführt um zu sterben? Du bist schuld, dass wir ständig neuen Gefahren ausgesetzt sind. Wir sind die Opfer!

Dieser Mechanismus funktioniert auch heute angesichts der wachsenden Verunsicherung vieler Menschen. Denken Sie an die verbreitete Politikerschelte! Damit meine ich nicht kritische Kommentare zu politischen Entscheidungen und einzelnen Persönlichkeiten. Aber es gibt eine Pauschalverurteilung der „Politikerkaste“ und wie man heute gerne sagt der „Eliten“, die die eigene Verantwortung völlig ausblendet. „Die da oben“ sind schuld an allem! Und für manche ist auch „der da oben“, ist Gott an allem schuld. Wie kann er zulassen, dass unsere Welt so heillos zerrissen ist, wie sie ist und dass so viele Unschuldige leiden! Das kann die echte Frage eines angefochtenen Glaubens sein, es kann aber auch ein Mittel sein, sich billig aus der eigenen Verpflichtung herauszustehlen, etwas an den beklagten Missständen zu ändern.

In der Exodusgeschichte hören wir, dass Mose schließlich alles zu viel wird. Das ständige Nörgeln und Anklagen hält er nicht mehr aus. „Ich vermag dieses Volk nicht mehr zu tragen. Es ist mir zu schwer,“ klagt er Gott. Gott stellt Mose daraufhin 70 Älteste zur Seite, die mit ihm die Verantwortung für das Volk teilen sollen. Ein barmherziger Akt der Entlastung, der in die Zukunft weist. Auch bei uns muss niemand Einzelkämpfer für das Reich Gottes sein. Auch bei uns gibt es – Gott sei Dank! – Älteste, die die Gemeindeleitung übernehmen. Und vom Apostel Paulus haben wir gelernt, dass wir alle zusammen der Leib Christi sind. Keiner kann zu einem anderen sagen: dich brauchen wir nicht. Du bist überflüssig. Jeder ist mit seinen Gaben wichtig für das Ganze. Ich glaube, so funktioniert auch die Organisation dieses wunderbaren Orgelfrühlings und ich hoffe, Sie erleben solche Wertschätzung auch in Ihren Gemeinden. Auch an einer lebendigen Demokratie hat jeder Anteil. Jeder trägt Verantwortung für die Zukunft. Nicht nur „die da oben.“

Gott schafft uns einen sicheren Ort, nicht nur als Einzelnen, sondern in der Gemeinschaft mit anderen. In der Gemeinde hören wir seinen Zuspruch, dort schenkt er uns Trost, dort sollen wir uns aber auch gegenseitig ermutigen für unsere Aufgaben als Christinnen und Christen und als Glieder unserer Gesellschaft.

Eine letzte Beobachtung: Wären wir doch in Ägypten geblieben: Im Rückblick nimmt die Vergangenheit für die ehemaligen Sklaven immer fantastischere Züge an: Wir denken an die Fische, die wir in Ägypten umsonst aßen, und an die Kürbisse, die Melonen, den Lauch, die Zwiebeln und den Knoblauch!! Heißt es im 4.Mose 11. Sie sehen: Der ganze Gemüsemarkt Ägyptens gehört zu dem eingebildeten Wohlleben damals. Ja, früher war doch alles besser!

Als junge Pfarrerin war ich erschrocken, wenn ältere Gemeindeglieder behauptet haben, bei Hitler hätte es noch Sicherheit gegeben, da hätte man ohne Angst auf die Straße gehen können, ganz anders als heute! Vergessen war da die tägliche Lebensgefahr für die, die nicht oder nicht mehr dazugehören durften, vergessen das Klima der Einschüchterung und Denunziation, vergessen die Unfreiheit der Diktatur.

Die verklärte Betrachtung der menschenverachtenden Vergangenheit, die mich damals bei Einzelnen erschreckt hat, erschreckt mich heute bei den populistischen Bewegungen, die es leider auf der ganzen Welt gibt. Da möchte man das Rad der Geschichte zurückdrehen, sehnt sich ungeniert wieder nach einem starken Mann, in Frankreich nach einer starken Frau, die mit harter Hand durchgreift, um die Sicherheit des eigenen Volkes und dessen Wohlstand gegen alle Fremden zu verteidigen, die nach Schutz und einem besseren Leben suchen. Sicherheit durch Ausgrenzung. Sicherheit durch Mauern und Stacheldraht. Eine Sicherheit, die mit ihrer Menschenverachtung auch Gott ausgrenzt.

Denn die Sicherheit, die Gott schafft, ist an Gerechtigkeit und Barmherzigkeit gebunden. Sie wächst aus einer Ordnung, die nicht immer weiter Gewinner und Verlierer produziert, sondern jedem Menschen Recht verschafft. Deshalb hat Gott den ehemaligen Sklaven und mit ihnen auch uns seine Gebote gegeben. Sie sind Ausdruck seiner Menschenfreundlichkeit und eine Einweisung in die Freiheit, die immer auch die Freiheit des anderen respektiert. Ziel ist, dass auch die Schwächsten sicher leben können.

Mit seinem barmherzigen Recht schafft Gott einen sicheren Ort, der allen Menschen offensteht. Unsere ganze Welt soll Heimat für ihre Bewohner werden, frei von den zerstörerischen Kräften, die uns voneinander und von Gott trennen. Friede soll einkehren, der aus Gerechtigkeit wächst, Schalom, in dem jeder Genüge findet und vergnügt leben kann.

Zu diesem Ziel bleiben wir unterwegs.

Amen 


Sylvia Bukowski, Pfarrerin in Wuppertal, Frühjahr 2017