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Schuldenerlass in Zeiten von Corona
Predigt über 5. Mose 5,13-15 von Gudrun Kuhn
GEBET
Ach Gott, wir haben es doch gewusst,
dass wir mitten im Leben vom Tod umfangen sind.
Die Kranken wissen es.
Und alle, die an Gräbern stehen.
Doch die Gesunden und Lebensfrohen
konnten dieses Wissen wegdrängen.
Nun hat uns alle die Angst eingeholt.
Wohl begründete und wenig begründete Angst lähmt uns.
Viele Menschen müssen um die blanke Existenz fürchten.
Ach, und so viele Kontakte zu lieben Menschen fehlen uns.
Ach Gott – auch von dir fühlen wir uns allein gelassen.
Dabei haben wir es doch gewusst,
dass du die Welt in die Evolution entlassen hast.
In eine Welt mit Seuchen und Erdbeben und Tsunamis.
In eine Welt mit unterschiedlichen Menschen:
friedfertigen und gewaltbereiten
solidarischen und egoistischen.
Und wo stehen wir?
Wir fürchten um unsere eigene Gesundheit
Und vergessen,
wie gefährdet Ärztinnen und Pfleger und Rettungskräfte sind.
Wir horten Lebensmittel
Und vergessen,
was die Geflüchteten an unseren Grenzen leiden.
Ja, wir müssen bekennen,
dass wir im Moment
zuerst an uns selber denken.
Ach Gott –
Lass uns aus den Schriften und Liedern unserer Vorfahren lernen,
wie sie in Krisen festhielten an der Hoffnung auf dich
und die Weisungen zur Mitmenschlichkeit nicht vergaßen.
AMEN
LESUNG Lukas 4, 16-19 und 6, 4 und 35-36
Lukas 4
16Jesus kam nach Nazaret, wo er aufgewachsen war, und ging, wie er es gewohnt war, am Sabbat in die Synagoge und stand auf, um vorzulesen. 17 Und man reichte ihm das Buch des Propheten Jesaja. Und als er das Buch auftat, fand er die Stelle, wo geschrieben steht: 18Der Geist des Herrn ruht auf mir, weil er mich gesalbt hat, Armen das Evangelium zu verkündigen. Er hat mich gesandt, Gefangenen Freiheit und Blinden das Augenlicht zu verkündigen, Geknechtete in die Freiheit zu entlassen, 19zu verkünden ein Gnadenjahr des Herrn.
Lukas 6
4Wenn ihr denen leiht, von denen ihr etwas zu erhalten hofft, was für ein Dank steht euch dann zu? Auch Sünder leihen Sündern, um ebenso viel zurückzuerhalten. [...] 35Vielmehr: Liebt eure Feinde und tut Gutes und leiht, wo ihr nichts zurückerhofft. Dann wird euer Lohn groß sein, und ihr werdet Söhne und Töchter des Höchsten sein, denn er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen. 36Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist!
Die Gnade unseres Herr Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns. AMEN
Liebe Gemeinde,
In Krisen wurde das Buch Deuteronomium verfasst, mit dem wir uns in diesen Wochen in aller Ruhe beschäftigen wollten. In der Krise des Exils, in der Krise des wieder neu entstehenden Tempels, in der Krise des Glaubens an den einen Gott. In diesen Krisen wurden die Geschichten von der Befreiung aus Ägypten und von der Gabe der Gebote am Sinai zur Mastererzählung. Sie sollte den Zeitgenossen Hoffnung und Zusammenhalt schenken. Und einen Weg zu einer solidarischen Gesellschaft.
Und jetzt stecken wir selber in der Krise. In einer Krise, die jede und jeder von uns am eigenen Leib erfahren kann. Angst und Betroffenheit sind groß. Und es kann passieren, dass wir darüber all die anderen Krisen vergessen und beiseite schieben, mit denen wir uns irgendwie arrangieren. Fridays for future – ja, aber die Zukunft ist noch nicht gleich. Flüchtlingskatastrophen an unseren Grenzen – ja, aber Griechenland ist weit weg. Vermüllung der Meere – ja, aber bei uns merkt man nichts davon.
Und jetzt fragen Sie vielleicht, was uns diese schwierige uralte Schrift nützen kann. Ob sie Antworten enthält. Auf die hautnahe Krise, der wir uns stellen müssen. Und auf die fernen Krisen, an die uns unser Gewissen erinnert.
Eine berechtigte Frage. Sie macht auch mich ratlos. Eine ansteckungsgefährdete Großmutter, die ihren Enkel meiden muss. Was kann ich Ihnen Zuversichtliches sagen? Ehrlich sagen? Was erwarten Sie von mir?
Ich will versuchen, mich einfach an die Aufgabe zu halten, die mir gestellt ist. Predigen über das 15. Kapitel des Buchs Deuteronomium.
Und der Herr segne Reden und Hören, er segne Zustimmung und Widerspruch, er segne Fragen und Antworten, Verstehen und Weiterdenken. AMEN
Liebe Gemeinde,
Sonntag ist. Auch wenn die Kirchen geschlossen sind. Sonntag ist. Und in den Texten für die Predigt geht es um die Sabbatruhe. Die war den Deuteronomisten sehr wichtig bei ihrer Wiederholung des Dekalogs, der 10 Gebote.
Sabbat. Manche meinen, das sei etwas für orthodoxe Juden. Unsinnige Regeln, dass man den Lichtschalter und die Kochplatte nicht benutzt. Sonntagsheiligung. Das hieß früher einmal, kein Fußball, kein Kino, keine Tanzveranstaltung. Das haben wir jetzt die ganze Woche! Notgedrungen. Dabei war die Feiertagsruhe unserer Gesellschaft bislang ziemlich gleichgültig gewesen. Werktags wie sonntags pulsierte bei uns das Leben. Und alle waren froh, dass die Zeiten sozialer Kontrolle über den Kirchenbesuch vorüber waren.
Niemand – so dachten wir – kann den technischen Fortschritt aufhalten, der in einer globalisierten Wirtschaftswelt auf Effizienz angewiesen ist, alle Tage der Woche. Niemand darf seine religiösen Vorstellungen anderen aufzwingen. Am siebten Tag ruhen, weil der Schöpfer geruht hat? Das soll glauben, wer will ...
Im Buch Deuteronomium (K.5) lesen wir:
13Sechs Tage sollst du arbeiten und all deine Arbeit tun; 14der siebte Tag aber ist ein Sabbat für den HERRN, deinen Gott. Da darfst du keinerlei Arbeit tun, weder du selbst noch dein Sohn oder deine Tochter oder dein Knecht oder deine Magd oder dein Rind oder dein Esel oder all dein Vieh oder der Fremde bei dir in deinen Toren, damit dein Knecht und deine Magd ruhen können wie du. 15Und denke daran, dass du Sklave gewesen bist im Land Ägypten und dass der HERR, dein Gott, dich von dort herausgeführt hat mit starker Hand und ausgestrecktem Arm. Darum hat dir der HERR, dein Gott, geboten, den Sabbattag zu halten.
(Deuteronomium 5)
Liebe Gemeinde,
alles, was mit noch vor einer Woche dazu eingefallen ist, ist inzwischen hinfällig. Die Vorwürfe, dass wir heute am Sonntag vor allem an Frei-Haben und Freizeit denken. Und dass wir unsere Knechte und Mägde gerade am Sonntag nicht befreien. Die, die unsere Teller im Gasthaus spülen, die die Kinosäle reinigen, die die Clos putzen und die die Fitness-Übungen erklären. Die, die dies vielleicht alles sonntags tun müssen, weil der Werktagsjob zum Überleben nicht ausreicht.
Derzeit von Freizeit zu reden, ist allerdings unsinnig. Und die meisten, die im Freizeitbereich arbeiten, stehen jetzt erstmal vor dem Nichts, weil ihre Jobs gestrichen werden. Oft sehr unsichere Jobs ohne Lohnfortzahlung. Viele sind in Quarantäne zur Untätigkeit verbannt oder werden nur noch in Kurzarbeit beschäftigt. Werktags wie sonntags. Und viele müssen bis zur Erschöpfung durcharbeiten als Ärztinnen und Pfleger und Polizistinnen und Rettungssanitäter. Werktags wie sonntags.
Nun gab es Ausnahmen vom Sabbatgebot freilich schon immer: Kühe melken, Gebärenden helfen, Menschen und Tiere aus Gefahren retten. Der Sabbat ist um des Menschen willen geschaffen, nicht der Mensch um des Sabbats willen. (Mk 2,27) Sie kennen diesen Satz Jesu. Er hat zahlreiche Parallelen im jüdischen Schrifttum. Aber was, wenn die Ausnahmesituation zum Alltag wird, wie jetzt?
Unsere Situation verlangt von uns – so meine ich – dass wir das Gebot neu und anders lesen. Nicht der siebte Tag ist im Moment wichtig. Nicht das generelle Ruhegebot. Gültig bleibt vielmehr die Begründung. In der Version der Deuteronomisten ist nicht die Ruhe des Schöpfers Begründung für den Sabbat, sondern das Befreiungshandeln Gottes. Befreit und befreiend sollen wir leben, weil Gott sich als Befreier offenbart hat. Als der, der sein Volk aus der Knechtschaft geführt hat und immer wieder führt. Darum bekommt das Gebot eine soziale Ausrichtung. Und die bleibt gültig, auch dann, wenn uns in der Krise der Rhythmus von Werktag und Sonntag verloren geht. Der Sonntagsgottesdienst unter dem Wort Gottes kann uns, die wir heute nicht arbeiten müssen, helfen, unsere sozialen Pflichten nicht zu vergessen. Im Gebet. Und in der Ermutigung zum Handeln. Aber wie sollen wir handeln? Wie können wir befreiend handeln? Für die anderen, die nur noch frei haben. Und für die, die gar nicht mehr frei kriegen.
Ich versuche eine Antwort in K.15 des Deuteronomiums (gekürzt) zu finden:
1Alle sieben Jahre sollst du einen Schuldenerlass gewähren. 2Und so soll man es mit dem Schuldenerlass halten: Jeder Gläubiger soll das Darlehen erlassen, das er seinem Nächsten gegeben hat. [...] 9Achte darauf, dass in deinem Herzen nicht der nichtswürdige Gedanke aufsteigt: Das siebte Jahr, das Erlassjahr, ist nahe!, und du deinen armen Bruder unfreundlich ansiehst und ihm nichts gibst und er dann gegen dich den HERRN anruft und dich so Strafe trifft. [...] 12Wenn dein Bruder, ein Hebräer oder eine Hebräerin, sich dir verkauft, so soll er dir sechs Jahre dienen, im siebten Jahr aber sollst du ihn freilassen. 13Und wenn du ihn freilässt, sollst du ihn nicht mit leeren Händen ziehen lassen. 14Von deinen Schafen, von deiner Tenne und von deiner Kelter sollst du ihm etwas mitgeben. Von dem, womit der HERR, dein Gott, dich gesegnet hat, davon sollst du ihm etwas geben, 15und du sollst daran denken, dass du Sklave warst im Land Ägypten und dass der HERR, dein Gott, dich befreit hat. Darum gebe ich dir heute dieses Gebot.
Das Sabbatjahr – das Erlassjahr. Ist das vorstellbar? Im ersten Moment meint man: Noch weniger als die Einhaltung des wöchentlichen Feiertags! Doch die Deuteronomisten waren da unerbittlich. Sabbatruhe. Am siebten Tag, im siebten Jahr und – im sieben mal siebten Jahr gilt die Weisung.
Da müssen wir auch noch das Buch Leviticus zur Kenntnis nehmen (Kapitel 25, gekürzt)
3Sechs Jahre sollst du dein Feld besäen und sechs Jahre deinen Weinberg beschneiden und ihren Ertrag einsammeln. 4Im siebten Jahr aber soll das Land einen Sabbat, ein Ruhejahr, haben, einen Sabbat für den HERRN. Da darfst du dein Feld nicht besäen und deinen Weinberg nicht beschneiden. [...] 10Und ihr sollt das fünfzigste Jahr für heilig erklären und eine Freilassung ausrufen im Land für all seine Bewohner. 17Und niemand soll seinen Nächsten übervorteilen, sondern du sollst dich fürchten vor deinem Gott. Denn ich bin der HERR, euer Gott [...] 35Und wenn dein Bruder verarmt und sich nicht mehr halten kann neben dir, sollst du ihn unterstützen [...] 36Du sollst von ihm weder Zins noch Zuschlag nehmen, sondern dich vor deinem Gott fürchten, so dass dein Bruder neben dir leben kann. [...] 38Ich bin der HERR, euer Gott, der euch herausgeführt hat aus dem Land Ägypten, um euch das Land Kanaan zu geben und euer Gott zu sein. 39Und wenn dein Bruder neben dir verarmt und sich dir verkaufen muss, sollst du ihn nicht als Sklaven arbeiten lassen. [...] 42Denn meine Sklaven sind sie, die ich herausgeführt habe aus dem Land Ägypten. Sie sollen nicht verkauft werden, wie man einen Sklaven verkauft. 43Du sollst nicht mit Gewalt über ihn herrschen, sondern sollst dich fürchten vor deinem Gott.
Man kann das alles natürlich sehr schnell wegwischen. Die Weisungen seien allenfalls für eine antike Agrarggesellschaft vorstellbar. Es sei eine reine Wunschvorstellung der Rückkehrer aus dem Exil. Es sei eine Weissagung für die Endzeit.
Aber die Vorschriften sind im Einzelnen sehr konkret, sehr juristisch ausgeklügelt. Sie haben Parallelen in der altorientalischen Rechtsprechung. Und sie wurden nachweislich im ersten nachchristlichen Jahrhundert noch praktiziert. Das hatte konkrete politische Gründe. Der soziale Friede sollte gesichert werden. Entsprechend gehörten Entschuldungsprogramme auch zur Entstehung der Demokratie in Griechenland.
Warum also sollten wir die alten Weisungen nicht ernst nehmen. Gerade als Christinnen und Christen müssen wir das sogar. Die Tora und die Weisungen Jesu. Beides gehört zusammen. In der Version der Bergpredigt bei Lukas nimmt Jesus unmittelbar auf das Deuteronomium Bezug: 34Und wenn ihr denen leiht, von denen ihr etwas zu erhalten hofft, was für ein Dank steht euch dann zu? Auch Sünder leihen Sündern, um ebenso viel zurückzuerhalten. Auch das Wort des Propheten Jesaja, mit dem Jesus seine Mission bei Lukas beginnt, ist gezielt ausgewählt: gesandt, Gefangenen Freiheit und Blinden das Augenlicht zu verkündigen, Geknechtete in die Freiheit zu entlassen,19zu verkünden ein Gnadenjahr des Herrn. Ein Gnadenjahr, ein Erlassjahr, ein Sabbatjahr.
Mich beeindruckt, wie der Evangelist Lukas hier in seinem Erinnerungstext feine Fäden spinnt zur biblischen Überlieferung. Jesus ist eins mit seinem Vater, der aus der Sklaverei befreit hat und befreit. So ist auch sein Handeln Befreiung. Darum ist er auch gesalbt, den Armen das Evangelium zu verkünden. Und entsprechend nimmt Lukas die deuteronomistische Forderung nach Schuldenerlass in den jesuanischen Ethikkatalog auf: Leihen ohne Aussicht auf Rückzahlung. Wie in den Weisungen des Sabbatjahres ist die Erfüllung von Geboten ausgerichtet am Wohl der Mitmenschen, wird die Herrschaft über Menschen durchkreuzt und die Ausbeutung der Abhängigen unter göttliche Strafe gestellt. Dass Lukas die Jesusbewegung auch oder vor allem in diesem Sinn verstanden hat, beweist zudem seine Darstellung der Jerusalemer Urgemeinde als Gütergemeinschaft, in der es keinen Privatbesitz gab. Das Land gehört Gott, es ist von ihm den Menschen nur als Lehen gegeben. Das Land gehört Gott. Und die Menschen gehören Gott. Niemals dürfen sie zu Schuldsklaven gemacht werden.
Ich finde, dass all diese uralten Texte durchaus in unsere Gegenwart hinein sprechen. Auch heute müssen die reichen Länder immer wieder erwägen, wie sie Entwicklungsländern einen Schuldenerlass gewähren können. Die Schuldenkrise im Libanon ist uns derzeit ein aktuelles Beispiel. Auch die Corona-Krise wird unsere Banken dazu zwingen, über weitere Schuldenerlasse nachzudenken. Und wir können die Griechen nicht alleine lassen. Sie sind überfordert mit der Aufnahme von Flüchtlingen, die die EU ihnen nicht abnimmt. Und was wird sein, wenn in Italien und anderen Ländern die Gesundheitssysteme vielleicht zusammenbrechen? Ständig bekomme ich in den Nachrichten die Börsenberichte präsentiert. Vielleicht sollten wir – wenigstens in Gedanken – mal die Forderungen des Erlassjahrs dazwischenblenden.
Und jetzt entgegnen Sie vielleicht, dass Sie ja ohnehin keine Spekulantin sind. Und niemanden ums Ersparte bringen werden. Nein, das sind wir vielleicht alle nicht. Aber wir stehen in Gefahr, in dieser Krise andere Menschen zu „Schuldsklaven“ zu machen. Mein Frisör und meine Podologin und mein Physiotherapeut – sie können mir keine Rechnungen mehr stellen. Ich soll alle Kontakte meiden. Noch erklärt unsere Regierung stolz, man werde beim finanziellen Ausgleich nicht kleckern, sondern klotzen. Aber es ist doch blauäugig, zu glauben, dass alle die Krise ohne erhebliche Verluste überstehen werden. Die vielen kleinen Unternehmerinnen und Freiberufler ... Die werden schon pleite sein, bevor ihr Antrag auf Hilfe bearbeitet ist.
Da wär doch mal eine Gelegenheit, direkt und ohne Umschweife aus der Bibel zu lernen: Leihen, ohne auf Rückzahung zu hoffen. Wer immer dazu finanziell in der Lage ist, der sollte das tun. Entschuldigen Sie, wenn ich da ausnahmsweise so direkt an Sie appelliere. „Leihen“ hieße da: eine Dienstleistung bezahlen, die man umständehalber nicht in Anspruch nehmen kann. Dem Frisör und der Podologin und dem Physiotherapeuten. Und der Putzhilfe, die nicht offiziell angemeldet werden wollte und auf die paar Kröten angewiesen ist, die sie bei uns verdienen würde. Wie die Sünder denken wir derzeit bei Stornierungen von Konzerten und Urlauben gierig daran, unser Geld zurückzuerhalten. Aber wir wären bereit gewesen, dies und noch mehr in unser Vergnügen zu intensivieren. Was, wenn wir es einsetzen, um damit die zu unterstützen, die mehr als wir unter den finanziellen Einbußen der Corona-Krise leiden! Das lese ich heute aus den Texten zur Sabbatruhe und zum Erlassjahr.
Ohnehin wäre es gut gewesen, wir hätten schon viel früher darauf gehört. Es muss nicht alle sieben und alle 49 Jahre sein. Auf die magische Sieben können wir verzichten. Aber den Rat, regelmäßig und ohne Ausflüchte über Kapitalanhäufung und Verschuldung, über Grundbesitz und Wohnungsnot, über Ausbeutung nachzudenken und das ‚Weiter So‘ zu unterbrechen, den haben wir versäumt.
Doch da ist noch etwas ganz anderes, was in mir anklingt, wenn ich von Schuldenerlass lese. Das Vaterunser! Seit unseren Kindertagen beten wir: Und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern. Eigentlich ist der Doppelsatz etwas schief. Schuldiger sind Leute, die Schulden haben. Denen muss man nicht vergeben. Die muss man pfänden oder ihnen die Rückzahlung erlassen. Schuld dagegen – das ist eine moralische Verfehlung. Die kann nicht erlassen, sondern nur vergeben werden. Und was könnte Jesus wirklich gemeint haben? Matthäus überliefert Seine Worte so: Und erlass uns unsere Schulden, wie auch wir sie unseren Schuldnern erlassen haben. (Matthäus 6,12) Und Lukas: Und erlass uns unsere Sünden, denn auch wir selbst überlassen jedem, was er uns schuldig ist. (Lukas 11,4)
Ganz offensichtlich steht das Gebet Jesu in der Tradition des Schuldenerlasses aus dem Deuteronomium. Wir sind Schuldner und Schuldnerinnen Gottes. Wir haben alles von ihm geliehen: unser Leben, unsere Bleibe, unser Auskommen. Wir stehen in seiner Schuld. Wir bleiben ihm alles schuldig. Und wir sind Schuldner und Schuldnerinnen unserer Mitmenschen. Schulden über Schulden häufen wir an. Unterlassene Mitmenschlichkeit.
Gottesbeziehung und Mitmenschlichkeit sind unauflöslich miteinander verbunden. Das lehren uns die Texte aus dem Deuteronomium und dem Neuen Testament. Es gibt keine Frömmigkeit ohne Nächstenliebe. Ihr sollt an eurem Nächsten befreiend handeln wie Gott an euch. Ihr sollt eurem Nächsten Schulden erlassen wie Gott euch.
Erlass uns unsere Schulden, erlass uns unsere Sünden. Was wir schuldig bleiben, ist nach dem Urteil Gottes Sünde. Was wir ihm schuldig bleiben und was wir unseren Mitmenschen schuldig bleiben. Wie trostlos, wenn wir all das niemals loswerden könnten! Die alten Versäumnisse und Verletzungen, die Angst, dass nichts wieder gut werden kann. Die viel zu späte Einsicht! Dass wir schon längst die Lage der Geflüchteten hätten verbessern müssen. Dass wir schon längst alle im Gesundheitswesen Beschäftigten hätten mehr würdigen und besser entlohnen müssen. Dass wir seit Jahren Müll und Abfall hätten vermindern müssen. Sind uns unsere Schulden überhaupt noch zu erlassen? Und belasten wir nicht unsere Mitmenschen mit Schuldzuweisungen und Vorwürfen? Suchen nach Schuldigen für den ‚ausländischen Virus‘, wie Trump sagt. Im Internet fragt man nach dem, der als Erstinfizierter in der Nachbarschaft entlarvt werden kann. Gnadenlos ...
Erlass uns unsere Schulden. Erlass uns unsere Sünden. Vergib uns unsere Schuld.
Alle drei Aspekte gehören in die Vaterunserbitte hinein. Ein Schuldenerlass ermöglicht es, ganz von vorne anzufangen. Ein Sündenerlass befreit uns von den Schatten der Vergangenheit. Wenn Jesus Menschen Vergebung zusprach, nahm er die schwere Gewissenslast von ihnen. Befreit konnten sie sich ganz neu aufmachen. ER traute ihnen zu, sich zu ändern. ER sandte sie auf den Weg, die mühsamen kleinen und großen Schritte zu wagen hin in SEIN Reich, in der alle befreit und befreiend handeln würden.
Wir brauchen solche Vergebung alle Tage. Aber jetzt besonders. Vergebung für alles, was wir uns selbst und anderen vorwerfen. Und die Zuversicht, dass Gott mit uns geht, wie es die Deuteronomisten unaufhörlich versichern: Gott ist mit euch in der Wüste, im Exil, in den Wirren der Geschichte, in jeder Krise, auch heute.
AMEN
GEBET
Ewiger Gott –
Wie konnten wir vergessen, was uns unsere Vorfahren gelehrt haben:
Denn alles Fleisch, es ist wie Gras.
Wir haben ihnen nicht geglaubt, sondern an uns,
an die Macher und Performerinnen, an die Fachleute und Forscherinnen.
Wie konnten wir vergessen, was uns die Physiker längst erklärt haben:
der homo sapiens, unser Planet, unser Universum –
eine Nanokügelchen in den Welten der Welten.
Nun sind wir aufs Existenzielle zurückgeworfen.
Werden unsere Kliniken vielleicht entscheiden müssen,
wen sie überleben lassen und wen nicht?
Wird sich an den Börsen entscheiden,
wer in Zukunft noch seinen Lebensunterhalt hat und wer nicht?
Ewiger Gott –
Manchmal wollen wir dir Vorwürfe machen,
dass du deine Menschen nicht moralisch besser ausgestattet hast.
Aber da gab es doch so viele Vorbilder,
so viele gute Weisungen.
Ewiger Gott –
Schenk uns die Gewissheit, dass uns vergeben ist,
damit wir uns selbst und anderen vergeben.
Schenk uns die Bereitschaft zu handeln,
befreiend und entlastend für alle, die uns etwas schuldig bleiben.
Schenk uns die Kraft, mit unseren Ängsten fertig zu werden
und danach zu fragen, wer uns nötig braucht.
So viele Menschen sind noch viel mehr als wir an Leib und Leben bedroht,
in den Flüchtlingslagern und den Kriegsgebieten
und vielleicht im Nachbarhaus.
Lass uns die nicht vergessen.
Bleibe bei uns
In Gesundheit und Krankheit
In Glück und Unglück
Im Leben und im Sterben. AMEN
Gudrun Kuhn, Nürnberg (leider nicht gehalten im Rahmen einer Predigtreihe zum Deuteronomium)