Predigttext: Matthäus 21, 14-17
Predigtlied: Du meine Seele singe... EG 302
Schriftlesung: Matthäus 11, 25-30
Wochenspruch: Psalm 98,1
Wochenpsalm: Psalm 98
Wochenlied: EG 243
Heidelberger Katechismus: Frage 53
Und es gingen zu ihm Blinde und Lahme und er heilte sie. 15. Als aber die Hohepriester und Schriftgelehrten die Wunder sahen, die er tat, und die Kinder, die im Tempel schrien: Hosianna, dem Sohn Davids! entrüsteten sie sich16. und sprachen zu ihm: Hörst du auch, was diese sagen? Jesus antwortete ihnen: Ja, habt ihr nie gelesen (Psalm 8,3) Aus dem Munde der Unmündigen und Säuglinge hast du dir ein Lob bereitet? 17. Und er ließ sie stehen und ging zur Stadt hinaus nach Bethanien und blieb dort über Nacht.
Mt. 21,14-17
Liebe Gemeinde,
Jesus hat Erfolg bei den Menschen – aber nicht bei allen. Und er hat keinen Erfolg bei denen, auf die es ankommt, die das Sagen haben. Diejenigen, die ihn nötig haben, die laufen ihm zu: Blinde, Lahme, Taube, allerlei Kranke: Menschen, die es schwer haben im Leben und deren Geschichten die Angehörigen längst nicht mehr hören können. Nichts ist anstrengender für einen Menschen, der gesund ist, dauernd die Krankengeschichten anderer hören zu müssen. Wartezimmergespräche beim Arzt sind mühsam! Jesu Umgebung mutet hier an wie ein großes Wartezimmer. Und ich frage mich, wie viele auch damals schon dabei waren, deren größer Schmerz und deren größte Sorge es war, dass sie mit ihrem Leiden und mit ihrer Einsamkeit keinerlei Beachtung fanden, dass keiner ihnen mehr zuhören wollte oder zuhören konnte..
In einer Kantate Johann Sebastian Bachs heißt es ganz ernst gemeint und doch auch ironisch.
„Die ganze Welt ist nur ein Hospital,
Wo Menschen von unzählbar großer Zahl
Und auch die Kinder in der Wiegen
An Krankheit hart darniederliegen.
Den einen quälet in der Brust
Ein hitzges Fieber böser Lust;
Der andre lieget krank
An eigner Ehre hässlichem Gestank;
Den dritten zehrt die Geldsucht ab
Und stürzt ihn vor der Zeit ins Grab.
Der erste Fall hat jedermann beflecket
Und mit dem Sündenaussatz angestecket.
Ach! dieses Gift durchwühlt auch meine Glieder.
Wo find ich Armer Arzenei?
Wer stehet mir in meinem Elend bei?
Wer ist mein Arzt, wer hilft mir wieder?“
(BWV 25 „Es ist nichts Gesundes an meinem Leibe“ Rezitativ Tenor – 29. August 1723, 14. Sonntag nach Trinitatis)
Wer von uns würde sich in diesem Hospital nicht auch wiederfinden? Denn der eigentliche Witz dieses Kantatentextes besteht ja darin, dass er vordergründig Krankheiten aufzählt – die bei genauerem Hinsehen aber gar keine eigentlichen Krankheiten sind, sondern Sünden und Sündenfolgen. Die Krankheiten der Blinden, Tauben und Lahmen treten völlig in den Hintergrund. Der Textdichter scheint ausschließlich an den Verfehlungen der Menschen interessiert.
Es ist also nicht erst in der Moderne so, dass wie Schwierigkeiten haben mit den Heilungen, die sich nicht der ärztlichen Kunst zuschreiben lassen, die schlicht aus dem Rahmen fallen und sich der Deutung entziehen. Kein zeitgenössischer Theologe Bachs hätte jemals zugegeben, dass er mit den Wundern Jesu Schwierigkeiten hätte. Aber wenn er die nicht hat, warum dann diese Umdeutungen? Warum die Stärkung der Sünde gegenüber der wirklichen körperlichen Krankheit? Die Sünde spielt in den Krankenheilungen Jesu zwar eine Rolle, aber nicht die beherrschende. Bei Jesus geht es darum, dass Menschen mit ihrer Vergangenheit vor Gott ins Reine kommen, und es geht darum, dass sie auch körperlich gesund werden. Leib und Seele gehören für Jesus zusammen.
Ja, es geht um Heilungen. In der Nähe Jesu sind Menschen gesund geworden. Und im Glauben an Jesus Christus werden heute Menschen gesund. Solche Wunder geschehen täglich, auch wenn sie gerade nicht an die große Glocke gehängt werden. „In wie viel Not, hat nicht der gnädige Gott, über dir Flügel gebreitet!“ – eine Liedzeile, die wohl jeder auf seine Weise mitsingen kann.
So ist die Spannung, die dort im Tempel von Jerusalem nahezu mit Händen zu greifen ist, ist bei näherem Hinsehen durchaus verständlich:
Die Theologen des Tempels reden und singen viel von dem Gott, der vom Verderben erlöst, von dem, der aus den Stricken des Todes befreit. Vermutlich können sie all die Psalmen auswendig, in denen es um die Zuwendung Gottes zu den bedrückten und leidenden Menschen geht. Und wahrscheinlich sind es auch und gerade diese Texte, die sie den Menschen weitersagen, die von ihnen Trost und seelsorglichen Rat erhoffen und erwarten. Und wahrscheinlich geht es diesen Theologen so, wie es den meisten Seelsorgerinnen und Seelsorgern geht. Oft steht das, was man den Menschen zusagen möchte und das, was sie dann wirklich erfahren in deutlichem Gegensatz zueinander. Das Gebet garantiert nicht die Heilung. Glaubenserfahrungen sind nicht so einfach herzustellen, wie man sie beschreiben oder gar beschwören kann. Manche Menschen sind trotz Gebet und Vertrauen in Gott nicht gesund geworden. Manche Menschen – wahrscheinlich die Mehrzahl all derer, die Jesus begegnet sind, hat er nicht geheilt. Aber diese Menschen auf dem Tempelplatz werden gesund.
Die Menschen, die zu Jesus kommen, machen Heilungserfahrungen, und Heilungserfahrungen sind Glaubenserfahrungen. Sie erzählen davon, dass sie gesund geworden sind – nicht nur innerlich gesund. Die Menschen erzählen, wie ihnen in der Nähe Jesu im buchstäblichen Sinne Augen und Ohren aufgegangen sind. Sie bringen die Nähe Jesu mit der Nähe Gottes zusammen. Bei Jesus stimmen Wort und Tat überein. Er redet nicht nur, er handelt auch. Und beides: das Reden und das Handeln ist gut für die Menschen, es ist heilvoll. Und die Kinder sprechen und singen aus, was viele denken, aber sich nicht zu sagen trauen: „Hosianna dem Sohne Davids!“ – wie wir es in unserem Adventsmusiken vor dem ersten Advent im Dom singen: „O Herr, hilf doch: Jesus ist Davids Sohn. – Hosianna!“ Keine mehrstimmige Motette. Ein Kindersingsang. Kein Geistliches Konzert mir Chor, Solisten und Orgel. Sie singen – ein wenig monoton und gedehnt, wie Kinder eben so singen, wenn sie sich unbeobachtet fühlen. Kein Mensch weiß, wo die Kinder das herhaben. Aber sie lassen sich nicht beirren. „Kinder und Betrunkene sagen die Wahrheit“ – sagt man. Und warum? Weil sie keine Hemmungen haben, die ihnen das Singen verbieten würden, weil sie keine Rücksichten auf das nehmen, was andere vielleicht sagen oder denken könnten. Ein Loblied aus dem Mund der Unmündigen. Ein klares und verständliches Zeugnis aus dem Mund der Kinder, denen die Erwachsenen oft genug den Mund verbieten, damit sie nicht die Wahrheit sagen, damit sie nicht ausplaudern, was die Eltern am Tisch beim Abendbrot über die Nachbaren gesagt haben.
Jesus verbietet ihnen nicht den Mund, auch nicht auf die Vorhaltung der Tempelbeamten hin. „Hörst du nicht, was die Kinder singen?“ fragen sie, und es scheint so zu sein, als erwarteten sie, dass Jesu über das Kinderlied zutiefst erschrickt. Denn das geht doch wohl zu weit, dass man sich selber derart in die Nähe Gottes rücken lässt, oder noch schlimmer, dass man sich von Kindern zum Messias krönen lässt. Für solche theologisch und politisch schwerwiegende Urteile sind nicht Kinder zuständig, sondern Erwachsene. Zuerst muss man eine Kommission von lauter Experten berufen, die die Heilungen auf ihren Wahrheitsgehalt prüfen, dann muss man nachschauen, ob eine solche Messias-Proklamation nach den alten Schriften überhaupt statthaft ist, und dann gilt es außerdem noch abzuwägen, ob eine solche öffentliche Darstellung des Messias überhaupt in die politische Landschaft passt. In allen drei Bereichen stehen die Chancen schlecht, dass man Jesus am Ende der Woche noch als Messias bezeichnen wird. Der einzige, der das dann noch tut ist der römische Gouverneur Pontius Pilatus, der diesen Titel des Messias zum Ärger aller jüdischen Autoritäten in Jerusalem ans Kreuz Jesu heften lässt, um den Grund für eine Hinrichtung anzuzeigen: „Jesus von Nazareth, König der Juden“ – und das bedeutet für den zeitgenössischen jüdischen Menschen: Hier am Kreuz hängt der Messias Israels!
So ganz weit entfernt ist diese Kindergeschichte vom Tempel von Jerusalem nicht von unserer Situation in mehrheitlich atheistischem Umfeld. Viele erzählen, wie die Kinder, die in einen christlichen Kindergarten gehen, ihren Eltern wieder die Jesus-Geschichten erzählen, die sie im Kindergarten gehört haben und die die Eltern längst vergessen oder nie gekannt haben. Und wahrscheinlich werden die Kinder ihren Eltern auch die Lieder vorsingen, die sie dort gelernt haben. Kinder als die Botschafter für ihre Eltern?
Davon ist auf dem Tempelplatz in Jerusalem nicht die Rede. Erwachsene haben darüber zu urteilen, was Jesus für das jüdische Volk oder auch für die Welt der anderen Völker bedeutet – nicht Kinder.
Kinder haben nichts zu sagen. Sie haben keinen eigenen Mund zu haben. Darum gelten sie als unmündig. Kinderrechte, wie sie in der Moderne die Vereinten Nationen festgeschrieben haben, waren damals in der Antiken Welt Israels und seiner Umwelt unbekannt. Es gab viele Kinder: viele wurden geboren, viele starben auch. Dem römischen Hausvater wurde sein neugeborenes Kind auf die Türschwelle gelegt. Er konnte entscheiden, ob er es aufnahm, oder ob man es verhungern ließe. So sind die jüdischen Eltern mit ihren Kindern wohl nicht umgegangen. Mit 13 Jahren, wenn der jüdische Junge seine erste öffentliche Schriftlesung feierte: seine Bar Mizwa, dann galt er als Mann. Dann war mit ihm zu reden und zu rechnen. Vorher aber nicht. Und die Rechte der Frauen und Mädchen blieben dabei weitgehend unberücksichtigt.
Bei Jesus haben die Kinder zu sagen und zu singen. Hier haben sie einen Mund und eine Stimme. Es wäre schön, wenn die Erwachsenen sich ab und an mitreißen ließen, mit einstimmen in den Singsang der Kinder – für den Anfang – und dann auch die eigene Melodie des Lobes Gottes finden, einstimmen in den Gesang, den die Menschen vor uns gesungen haben. Die Psalmen haben sie begleitet in guten und schlechten Zeiten, die Lieder des Glaubens, die sich tief eingeprägt haben „Befiehl du deine Wege“ oder „Bis hier her hat mich Gott gebracht“ – Lieder die zu Herzen gehen und Lieder die dann auch wieder von Herzen kommen. Für manche sind das tiefe Erinnerungen an kindliche Geborgenheit, an den kindlichen Glauben, der wirklich noch Berge versetzen konnte. Mit dem Erwachsenwerden ändern sich die Lieder – leider oft nicht immer zum Guten oder gar zum Besseren. Das erwachsene Leben durchziehen andere Töne, und es ist schwer, den Klängen des Glaubens dann noch den Raum zu geben, in dem sie sich echt und unverfälscht aussprechen können. Ob das mit der neuen religiösen Popmusik, den frommen Schlagern gelingt? Ob es gelingt, das Lob Gottes auf Dauer mit Texten zu singen, die eigentliche keinen nennenswerten Inhalt mehr haben? Die aus dem Gefühl kommen und ins Gefühl führen, die aber keine Botschaft mehr weitersingen. Die Reformatoren haben dafür gestritten, dass die Musik der Kirche aus der Gemeinde selber kommt, dass die Gemeinde mit ihrem Gesang die wesentliche Gestalterin des Gottesdienstes ist. Sie haben biblische Texte singbar gemacht, vor allen anderen die Psalmen. Das hat im 16. Jahrhundert der Musik einen völlig neuen Impuls gegeben. Was würden Luther und Calvin und gar Zwingli zu einem Text sagen: „Der Himmel geht über alle auf, auf alle über, über alle auf. Der Himmel geht über alle auf, auf alle über, über alle auf?“ (EG 611) – wörtlich genommen ist das entweder banal oder es ist Unsinn.
Geistliche Musik hat Sinn, weil sie den einen lobt, der in Wirklichkeit lobenswert ist, weil sie mit den Stimmen der Unmündigen und Säuglinge, aber auch mit Psalter und Harfe, mit Orgel und Posaunen, vor allem aber mit den Stimmen der Gemeinde Musik macht zur Ehre dessen, den alle Himmel nicht fassen können. Geistliche Musik hat Sinn, und sie muss ihn auch haben und behalten. Singet dem Herrn ein Neues Lied, heißt es im Wochenpsalm. Aber das neue Lied ist nicht schon deshalb gut, weil es neu ist, genau so wie die alten Gesangbücher schon deshalb gut sind, weil sie eine Zeit in Erinnerung rufen, in der es noch keine musikalischen Experimente in der Kirche gab.
Das neue Lied ist darin neu, dass es Gott lobt, dass sich in all den Widrigkeiten des Lebens immer der einen Wirklichkeit stellt, die höher ist als unsere Vernunft. Die Gott singt, weil er uns gut ist, und weil aus der Musik, die ihm erklingt, auch andere Menschen von der Güte Gottes hören können, aber das bedeutet auch, dass die Musik mit bestimmten Worten verbunden ist, mit Bibelworten und Worten guter geistlicher Dichtung. Viele Texte heutiger guter geistlicher Dichtung haben leider noch keinen musikalischen Ausdruck gefunden, der ihnen und der Gemeinde entsprechen würde. Was nützen die schönsten neuen Gemeindelieder, wenn die Gemeine sie nicht singen kann? Weil Melodie und Rhythmus einfach nicht zum Gemeindegesang passen wollen.
Bei den Kindern fängt das Lob Gottes an, so, dass es die Erwachsenen oft ärgert. Aber wenn die Erwachsenen ein offenes Ohr haben, wenn schon nicht für Gott, dann doch für ihre Kinder, und sie werden sich von ihnen vorsingen und erzählen lassen, was es mit dem Jesus von Nazareth auf sich hat, wie dort die Nähe Gottes gut und heilsam erfahren wird und dass es lohnt, sich mit Jesus auf den Weg zu machen.
Amen
Gottesdienst am Sonntag, dem 22. Mai 2011 um 10.00 Uhr im Ev.-ref. Dom zu Halle (Saale) – Sonntag Kantate