Was bedeutet nun die ''Rechtfertigung allein durch Glauben''?

Predigt zu Römer 3, 21-28 am Refomationstag 2010

Evangelischen Hauptkirche Mönchengladbach-Rheydt © Arcturus/Wikipedia

Von Vizepräses Petra Bosse-Huber

Liebe Gemeinde,

ich bringe Ihnen Grüße der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche im Rheinland. Der Reformationstag ist ein wichtiger Tag für evangelische Christen und Gemeinden. An diesem Tag singen wir alte und neue Glaubenslieder und hören auf Bibeltexte, die uns an das Fundament unseres christlichen, aber besonders unseres protestantischen Glaubens führen.

Zu diesem Fundament gehören die Aussagen über Sünde, Rechtfertigung und Heiligung - gewichtige dogmatische Begriffe. Die Herausforderung ist, diese Begriffe lebendig zu machen, so dass sie für uns und unseren Glauben heute wichtig sein können. Lassen Sie uns dazu auf den Predigtext für den Reformationstag hören. Er steht im Brief des Apostel Paulus an die Christinnen und Christen in Rom. Ich lese aus dem 3. Kapitel die Verse 21-28.

21 Nun aber ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, offenbart, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten. 22 Ich rede aber von der Gerechtigkeit vor Gott, die da kommt durch den Glauben an Jesus Christus zu allen, die glauben. Denn es ist hier kein Unterschied: 23 sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten, 24 und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist.
25 Den hat Gott für den Glauben hingestellt als Sühne in seinem Blut zum Erweis seiner Gerechtigkeit, indem er die Sünden vergibt, die früher 26 begangen wurden in der Zeit seiner Geduld, um nun in dieser Zeit seine Gerechtigkeit zu erweisen, dass er selbst gerecht ist und gerecht macht den, der da ist aus dem Glauben an Jesus.
27 Wo bleibt nun das Rühmen? Es ist ausgeschlossen. Durch welches Gesetz? Durch das Gesetz der Werke? Nein, sondern durch das Gesetz des Glaubens.
28 So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.

Was bedeutet nun die „Rechtfertigung allein durch Glauben“? Wie geschieht sie?

In der Vorbereitung auf die Predigt hat mich ein Bild begleitet, das ich mit Ihnen teilen möchte. Wahrscheinlich haben die meisten von Ihnen vor zweieinhalb Wochen das „Wunder von San Jose“ mitverfolgt - das Wunder, dass das Grubenunglück in Chile nach mehr als zwei Monaten glücklich zu Ende ging. Alle Männer konnten gerettet werden und kamen heil wieder über Tage an.

Millionen Menschen in aller Welt haben mit den Kumpeln und ihren Angehörigen mitgebangt. Zum einen war es schwer vorstellbar, wie es sein muss, über Tage und Wochen mit über 30 Menschen in einer engen Höhle fast 700 Meter unter Tage eingeschlossen zu sein. Zum anderen haben viele innerlich mitgelitten, als klar wurde, wie eng der Schacht und die Rettungskapsel sein würden.

Dieses Grubenunglück kann vielleicht ein Bild sein für Gottes Rettungshandeln an uns: Es gibt Situationen, in denen wir Menschen gefangen sind in einer tiefen dunklen Höhle, die uns trennt vom Tageslicht, von der Schönheit der Welt und von den Menschen, die wir lieben. Überleben ist dann zwar immer noch möglich, aber es ist kein Leben in Fülle, sondern eine sehr eingeschränkte Existenz, seelisch und körperlich zermürbend. Diese Form menschlichen Dahinvegetierens wird in der Bibel beschrieben als das Leben in der Sünde. Gott aber verspricht Rettung aus dieser lebensfeindlichen Situation.

Im Protestantismus ist uns die Formulierung „gerecht gemacht aus Glauben“ besonders wichtig, die in den Briefen des Paulus mehrfach auftaucht. „Allein aus Glauben“ steht hier im Gegensatz zu der Vorstellung, wir könnten und müssten selbst aktiv dafür sorgen, dass wir uns aus den Verstrickungen der Sünde befreien.

Für Martin Luther wurde diese Erkenntnis ebenfalls zum Eckpfeiler seines neuen Glaubens. Eines Glaubens, der ihn reich und lebendig machte: Es ist allein Gottes Gnade und Geschenk, dass Gott uns nicht von sich stößt und für immer verwirft, sondern uns auch als Sünderinnen und Sünder immer wieder annimmt und uns erneut in seine Gemeinschaft einlädt.

Die Rechtfertigung können wir uns ein wenig so vorstellen wie die Rettungsaktion in Chile: Die Gefangenen leiden an ihrer Situation, sie wollen ans Tageslicht, in die Freiheit und in die Gemeinschaft. Sie können nichts dafür tun, als sich innerlich vorzubereiten. Den Rettungsschacht können sie nicht selber graben. Sie müssen auf die Hilfe von außen warten und vertrauen. Die Rettung selbst ist dann kein Spaziergang - auch die spirituelle Rettung nicht, wie viele von uns wissen. Die Rettungskapsel ist unglaublich unbequem, der Schacht eng, heiß und dunkel, die Rettungsaktion nicht ohne Risiken. Aber eine Alternative gibt es nicht, denn sonst müssten sie unten bleiben.

Die Gefangenschaft in der Sünde ist eine Vorstellung, die vielen Menschen heute fremd ist und aus verschiedenen Gründen Ablehnung hervorruft. Ich verstehe das sehr gut, wenn diese Abwehr aus der Erfahrung kommt, dass jedes Verhalten, das von einer rigiden Norm abweicht, als Sünde und als bestrafenswert bewertet wird. Viele Menschen haben in den Kirchen oder in christlich geprägten Familien mehr über ihre Sündhaftigkeit und die drohenden zeitlichen und ewigen Strafen gehört als über ihre Gottebenbildlichkeit und darüber, dass sie Gottes geliebte Kinder sind.

Interessanterweise wirkt sich dieser jahrhundertelange Missbrauch der christlichen Botschaft in weiten Teilen der Bevölkerung aus, auch dort, wo Menschen dies selbst nicht erfahren haben. Und obwohl solche Vorstellungen zumindest in den meisten europäischen Kirchen deutlich der Vergangenheit angehören. Dieses Zerrbild des christlichen Glaubens hat sich dennoch tief in das Bewusstsein vieler Menschen eingegraben.

Der Begriff der Sünde ist dennoch nicht von gestern, sondern wichtig und aktuell. Vieles von dem, was um mich herum geschieht und was Menschen anderen Menschen an Gewalt und Leid antun, kann ich nicht anders bezeichnen denn als Sünde. Verstrickt oder gefangen in der Sünde sind wir dort, wo wir gegen Gottes Gebot und damit gegen ein gelingendes menschliches Leben handeln, sei es im Umgang mit Familienmitgliedern, mit Kollegen oder Freundinnen oder mit Menschen in unserer Kirchengemeinde. Im Großen ist diese Verstrickung zu sehen in Kriegen, Umweltzerstörung und Ausbeutung.

Die Gefangenschaft in der Sünde kann auch da erfahren werden, wo wir selbst gar nicht aktiv gegen Gott oder andere Menschen handeln. Ich kenne Menschen, die tief im Glauben verwurzelt sind, die die Erfahrungen von destruktiven Strukturen in ihren Familien als Erfahrungen der Sünde definieren. Sie waren als Kinder und Jugendliche gefangen in einem lebensfeindlichen System von Gewalt, Missbrauch und Sucht, aus dem ihre Eltern sich nicht befreien konnten und vor dem sie ihre Kinder nicht beschützen konnten. Gerade weil diese Menschen als Kinder nicht selbst schuld waren an ihrer Situation, bezeichnen sie ihre Erlebnisse heute als eine Verstrickung in die Sünde - und die Erfahrung, das überlebt zu haben als Befreiung und Erlösung durch Gott.

Wie geschieht die Rettung? Was ist die Rettungskapsel? Im Bild gesprochen: Jesus Christus ist die Kapsel und der Schacht. Paulus schreibt: „Denn es ist hier kein Unterschied: sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollen, und werden ohne Verdienst gerecht gemacht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist.“ Den Christinnen und Christen in Rom schreibt Paulus ins Stammbuch: Egal ob Judenchristen oder Heidenchristen, egal ob Griechen oder „Barbaren“, ob römische Bürger oder Sklaven, ALLE sind Sünder, getrennt von Gott und Gottes Gebot.

Niemand kann darauf vertrauen, selbst auf der richtigen und sicheren Seite zu sein und mit dem Finger auf die anderen zeigen, die weniger fromm zu sein scheinen oder offensichtlichere moralische Mängel aufweisen. Niemand kann sich seiner besonderen Beziehung zu Gott rühmen. Alle sind angewiesen auf Gottes versöhnendes und Recht schaffendes Handeln in Jesus Christus.

Die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist, ist wie in einem Brennglas sichtbar in Jesu Sterben am Kreuz und in seiner Auferstehung. Nicht, weil ein zorniger und blutrünstiger Gott ein Menschenopfer brauchte, um beschwichtigt zu werden, ist Jesus gestorben. Sondern weil Gott als Zeichen seiner Liebe all das auf sich genommen hat, was die in der Sünde verstrickten und verformten Menschen von ihm trennt. Darin besteht die Erlösung: die Taten der Sünde werden nicht mehr ihrer Schwere entsprechend an- und aufgerechnet. Bildhaft gesprochen hat Jesus die Last der Sünde auf sich genommen, das Kreuz getragen und damit die Last von unserer Schulter genommen. Erst dadurch können wir uns wieder aufrichten, den Blick zum Himmel richten oder unsere Mitmenschen ansehen und neu beginnen.

Paulus schreibt: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“ Bei der Betonung „ohne des Gesetzes Werke“ spielen die Konflikte zwischen judenchristlichen und heidenchristlichen Mitgliedern in den jungen christlichen Gemeinden nicht nur in Rom, sondern auch in Griechenland und Kleinasien eine Rolle. Es ging darin oft um die Befolgung der jüdischen Gesetzesvorschriften, vor allem in der Frage der Beschneidung. Hauptsächlich jedoch will Paulus dem Eindruck wehren, dass die Erlösung durch irgendetwas befördert werden könnte, was Menschen tun. Auch der Glaube darf nicht zu einem „Werk“, einer selbstverantworteten Aktivität werden. Der Glaube ist ebenso ein Gnadengeschenk Gottes wie die Erlösung in der Rechtfertigung.

Zur Theologie der Rechtfertigung tritt im Brief des Paulus an die Gläubigen in Rom die Frage danach, wie Christinnen und Christen ihr Leben nach der Rechtfertigung, nach der Rettung durch Gott leben können und sollen. Diese Frage ist auch für uns zentral. Für das Leben nach oder besser mit der Erfahrung der Rechtfertigung gibt es den biblischen Begriff der Heiligung. Was meint nun dieser etwas fremd anmutende Begriff der Heiligung? Heiligung ist das, was geschieht, wenn die Bergleute die Rettungskapsel verlassen - es ist das, was ihnen aufgegeben ist an jedem Tag ihres neu geschenkten zweiten Lebens.

Was passiert jetzt mit den Männern und ihren Familien? Welches Glück, aber auch welches Leid und welche Konflikte gab es vor der Verschüttung in den Ehen und Familien? Was haben die Männer und ihre Angehörigen sich für die Zeit nach der Rettung vorgenommen; was wollen sie anders machen als bisher, wo wollen sie um Entschuldigung bitten oder einen Streit beenden, wem ihre Liebe erklären und einen Neuanfang probieren?

Der Theologe Hans Urs von Balthasar hat die Bewegung der Heiligung einmal so beschrieben, „dass das Reifen der Beziehung zwischen dem einzelnen Gläubigen und Gott nicht einfach eine Privatangelegenheit ist, sondern dass sich dies vielmehr immer im gemeinschaftlichen Kontext vollzieht, so dass es Folgen für die gesamte Gemeinschaft hat.“

Die Heiligung ist die Folge der Rechtfertigung, das neue Leben. In diesem neuen Leben sind Christinnen und Christen jeden Tag dazu aufgerufen, ihr Leben auf Gott und die Mitmenschen, auf ein gelingendes Leben für die gesamte Gemeinschaft auszurichten. In der biblischen Tradition gibt es dafür den Begriff „schalom“. Schalom ist ein umfassender Zustand, in dem Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung gelten. Für diesen Schalom-Zustand können und müssen wir einiges tun, denn die Mächte der Sünde sind in unserer Welt an jedem Tag spürbar und sichtbar.

Der individuelle, private Bereich in Beziehungen und Beruf gehört dazu, ebenso wie der politische Bereich der globalen und strukturellen Sünde, in der meist nicht fairen Weltwirtschaft, in der Ausbeutung natürlicher Ressourcen und in militärischen Konflikten um Güter, die wir für den Erhalt unseres technischen Standards und unseren Luxus brauchen.

Ein Beispiel: Wir alle wissen es mittlerweile aus Berichten im Fernsehen oder in der Zeitung: Nicht nur die großen Firmen übervorteilen die Produzenten in Afrika, Asien, Osteuropa und Südamerika und nutzen sie aus - sondern auch wir tun das ganz konkret, fast jeden Tag. Wir fordern billige Nahrungsmittel und billige Kleidung, auch wenn wir wissen, dass wir beides nur auf Kosten der anderen bekommen können. Die Kosten heißen fehlende Arbeitssicherheit, Kinderarbeit, Preisverfall und Umweltzerstörung.

Das Anstrengende am heutigen Leben ist, dass jeder und jede von uns jeden Tag ethische Entscheidungen fällen muss, die sehr komplex sind - Entscheidungen darüber, was wir essen und was wir dafür zu bezahlen bereit sind, ob wir Auto fahren, woher wir unseren Strom beziehen und vieles mehr. Es ist unerlässlich, diese Entscheidungen auch angesichts unserer eigenen Begrenztheit und Überforderung zu wagen. Denn die Alternative wäre, in der strukturellen Sünde zu verharren und die Heiligung aufzuschieben, weil uns alles zu kompliziert erscheint ist und einem ja leider keiner sagt, wie es richtig geht...

Für die Bergleute und ihre Familien gibt es einen eindeutigen Rettungstag, aber bewähren müssen sich alle im neuen, im „zweiten Leben“ jeden Tag neu. Diese Bewährung wird nicht immer einfach und nicht immer „perfekt“ sein, gerade wenn das Trauma der Gefangenschaft sich irgendwann körperlich und seelisch meldet - wie wir es in den Zeitungsberichten jetzt schon lesen können - und wenn die Männer und ihre Frauen und Kinder ab und zu doch wieder in die alten Muster fallen.

So ist es auch mit uns! Die Reformatoren, Luther, Calvin oder Zwingli haben es so beschrieben: Zum einen sind wir einmal und ganz gerettet, zum anderen bleiben wir aber zugleich sündig - simul iustus et peccator hieß die lateinische Formel dafür in der Reformation. Von Gott aus betrachtet, ist die Rettung ein für alle Mal geschehen. Punkt. Sie gilt für uns, im Leben und im Sterben.

Von uns aus betrachtet, müssen wir uns aber daran erinnern, dass wir die Rechtfertigung jeden Tag aufs Neue uns zusprechen lassen und jeden Tag aufs Neue unser Leben in der Heiligung gestalten. Auch wenn es manchmal nur bruchstückhaft gelingt und Rückschläge und Fehler passieren: Die Heiligung, von der Paulus spricht, bedeutet, dass wir als Gerettete, Gerechtfertigte, Geliebte Gottes die Chance bekommen, noch einmal ganz neu zu beginnen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn.

Amen.

Gehalten im Gottesdienst am Sonntag, 31. Oktober 2010, 10:30 Uhr,
in der Evangelischen Hauptkirche Mönchengladbach-Rheydt


Vizepräses Petra Bosse-Huber, Evangelische Kirche im Rheinland (EKiR)