'Jene 14 Tage kann man nicht vergessen'

Wie ungarische Pfarrer DDR-Flüchtlinge betreuten


Pionierlager Csillebérc © Lajos Békefy

1989 bröckelte die Mauer nach Ungarn. Beim „paneuropäischen Picknick“ flohen über 600 DDR-Bürger. Lajos Békefy erinnert sich an die Tage als Pfarrer im Flüchtlingslager.

Die geschichtlichen Hintergründe:

Im Sommer 1989 öffnete sich für Bürgerinnen und Bürger der DDR über die ungarisch-österreichische Grenze ein Weg in den Westen. Am 2. Mai hatte die ungarische Regierung, beschlossen, die Befestigung der Grenzanlagen abzubauen. Am 27. Juni durchschnitten die Außenminister Gyula Horn und Alois Mock mit großen Zangen den Stacheldrahtzaun bei Sopron. Beim „paneuropäischen Picknick“ am 19. August, das Otto von Habsburg und Staatsminister Imre Pozsgay veranstalteten, flohen über 600 DDR-Bürger in den Westen. Am 11. September wurde die Grenze zwischen Ungarn und Österreich für DDR-Flüchtlinge endgültig geöffnet.

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Beim ''Paneuropäischen Picknick'' am 19. August 1989 in Sopron flohen über 600 Bürgerinnen und Bürger der DDR über die ungarische Grenze in den Westen. In den folgenden Tagen reisten aus der DDR Tausende als Touristen nach Ungarn in der Hoffnung ebenfalls ausreisen zu können. In drei Zeltlagern bei Zugliget, Csillebérc und Zánka betreuten die katholische und die evangelischen Kirchen Ungarns deutsche Flüchtlinge. Der reformierte Pfarrer Lajos Békefy erzählt von seinen Erfahrungen im Flüchtlingslager Csillebérc bei Budapest.

Kurz vor Weihnachten 1989 habe ich aus Stuttgart eine Postkarte erhalten. Der damals 19-Jährige Thorsten schrieb sie. Er war eine Zeit lang – zusammen mit fünf Jugendlichen  - ein Mitglied meiner kirchlichen Dienstmannschaft im Lager 2, das wir für DDR-Flüchtlinge in Csillebérc bei Budapest eröffnet hatten. Auf seiner Gitarre begleitete Thorsten die kirchliche Lieder, las Gebete bei Andachten und Gottesdiensten. Thorsten schrieb:

„Lieber Herr Pfarrer! Wir sind angekommen, ich habe Arbeit!… Durchgehends hatte ich das Gefühl, dass der liebe Herr mich begleitete, schon im Lager und auf dem Weg hierher. Jene 14 Tage kann man nicht vergessen. Als ob wir auch ein Stück Geschichte mitgeschrieben hätten“. 

Ja, obwohl sich dies vor 20 Jahren ereignete, habe ich das Gefühl, als ob es alles erst gestern geschah. Es ereignete sich damals ein bis dahin noch nicht gesehener Exodus, ein Auszug in Mittel-Ost-Europa. Und jede Minute der so entstandene Lagergeschichte brannte sich tief ein in Herzen und Erinnerungen. Während ich diese Erinnerung schreibe, spüre ich in meinen Nervenspitzen noch immer die Aufregung und Hochspannung, die die sich zu Minuten verdichteten Ereignisse auslösten.

Ähnliches erlebten Tausende, die nach einer wagen Entscheidung im Sommer und zu Beginn des Herbstes 1989 mit der Honecker-DDR Schluss machten. Infolgedessen standen sie bei uns in Ungarn im Lager 2 und ebenso im Lager 1 und Lager 3 und waren total unsicher darüber, ob sie ihre neue Heimat erreichen könnten oder nicht. Sie hatten ihre DDR-Heimat verlassen, weil sie zu Hause die Wahrheit des Max Frisch-Satzes nicht spürten: Heimat ist da, wo wir verstanden werden und wo wir auch andere verstehen. Aber die Flüchtenden gaben die Hoffnung nicht auf, eines Tages die Realität dieses Satzes zu erleben.

Was ist 1989 eigentlich geschehen?

Ganz kurz und einfach formuliert: ein beispielloser Exodus, in dem Tausende DDR-Staatsbürger als Touristen nach Ungarn kamen, so mit ihren Füssen gegen den DDR-Sozialismus „Nein“ sagten und eine richtige politische und existentielle Änderung erhofften. Sie wussten bereits, dass während des Paneuropäischen Picknicks am 19. August mehr als 600 DDR-Bürger über Ungarn Richtung Österreich das sozialistische Lager verlassen hatten. Sie wussten dies, weil die BRD-Medien die Menschen in Ost-Berlin, Dresden, Leipzig und überall in der DDR darüber informierten, dass dieser erste Exodus „wunderbar“ gelungen war.

Und dies weckte enorme Hoffnungen in Tausenden. Der Mauer hatte einen Riss bekommen! Immer mehr Menschen jeden Alters kamen nach Ungarn. Auffallend war die Mehrheit der Jugendlichen. Aber bis zur zweiten und für sie endgültigen Eröffnung der Grenzen am 10./11. September mussten sie eine Zwangpause aushalten und bewältigen. Mitarbeiter des Deutschen und Ungarischen Roten Kreuzes, der Maltenser Hilfe, später auch die Mitarbeiter der Johanniter und der Deutschen Botschaft in Budapest, aber auch die Pfarrer der verschiedenen Kirchen unterstützten sie dabei.

Das Diakonische Werk Deutschlands beteiligte sich sehr aktiv im Flüchtlingsdienst. Während sich die Verhandlungen zwischen Vertretern der Großmächte und der Ungarischen Regierung anbahnten, wuchsen die Zeltlager sehr schnell: im Garten der römisch-katholischen Pfarrgemeinde Zugliget, wo Pater Imre Kozma die Flüchtlingsseelsorge anfing und koordinierte. Dies war das Lager 1. Dazu kam das Pionierlager Csillebérc, Lager 2 genannt. Ein drittes Lager wurde in Zánka beim Plattenseee eröffnet.

Immer neue Menschengruppen kamen aus der DDR. In dieser unerwarteten Notlage begannen und organisierten auch die protestantischen Kirchen in Ungarn ihren Dienst. Der evangelisch-lutherische Pfarrer László Lehel, Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen in Ungarn, rief eine Stabssitzung zusammen. Der Staatliche Nachrichtendienst Ungarns (MTI) wurde mit folgender Meldung informiert:

„Der Ökumenische Rat der Kirchen in Ungarn unter der Leitung des Generalsekretärs Pfr. László Lehel startete den Seelsorgedienst unter DDR-Flüchtlingen … Bis Ende August 1989 haben die Lager 2000 Flüchtlinge aufgenommen und beherberget. Weil die Zahl der Angekommenen ständig wuchs, versahen vier kirchliche Personen die Pfarrdienste im Lager 2: der methodistische Superintendent Frigyes Hecker, der reformierte Pfarrer Lajos Békefy, der evangelisch-lutherische Pfarrer Dr. Árpád Zsigmondy und die freikirchliche Mitarbeiterin Ágnes Cséry. Sie sind als Seelsorger tätig, halten Gottesdienste und Andachten, richten Taufe aus. Das Diakonische Werk Deutschlands stellte eine mobile elektronische Orgel, weiterhin Bibeln und Gesangbücher zur Verfügung“.

Das Lagerpfarramt in Csillebérc wurde in einem Zimmer des Bungalows vom Roten Kreuz eingerichtet. Hier trafen sich die kirchlichen Mitarbeiter zur gelegentlichen Arbeitssitzung. Der Bungalow lag in der Nähe der Hangar-Kirche. In dieser provisorischen Kirche befanden sich ein paar Reihen Sportbänke, an die Hauptwand hängten wir das Ökumene-Symbol. Darunter stand der Abendmahlstisch / Altar, daruf lag eine große Bibel. Weil die Mehrheit der Flüchtlinge evangelisch-lutherisch war, stellten wir zwei große Kerzen auf den Auf die Ankündigungstafeln im Lager klebten wir Zettel:

„Gottesdienst um der Hangar-Kirche, auch Morgen-, und Abendandachten und seelsorgerliche Gespräche“. An der „Lager-Liturgie“ beteilten sich gerne Jugendliche, die dann auch andere Jugendliche in die Kirche riefen. Sie verbreiteten unter den Lagerbewohnern Dutzende von kleinen Heftchen mit Vater Unser, Apostolischem Glaubensbekenntnis, Liebeshymne und Bergpredigt.

Beim ersten Gottesdienst in der Hangar-Kirche waren hunderte von Flüchtlinge anwesend, sie füllten den Raum, standen aber auch draußen um die Kirche herum. Liturgie und Predigt hielten Superintendent Hecker und Pfarrer Békefy. Es war herzergreifend zu sehen, wie Menschen, die ihre Gesichter in den Händen begruben, ihre Blicke in die Ferne warfen und ihre Stirnen mit Not-, und Hoffnungsschatten bedeckten. Irgendwie spürten alle eine sehr tiefe, fast tonnenschwere Stille. Im Lager stellten dieselben Menschen immer wieder Fragen wie:

„Werden wir ausgewiesen oder in die DDR zurückgeschickt? Können wir weitergehen oder was wird mit uns passieren? Was ist zu Hause mit Eltern, Verwandten? Wie lange kann man mit Babys und Kleinkindern hier in Zelten die Herbstnächte aushalten, die immer kühler werden?“

Was hatten wir ihnen zu sagen, wenn sie sich auf dem Niemandsland so unsicher fühlten und eine Spannung zwischen „Nimmer mehr“ und „Noch nicht“ Tag und Nacht erlebten? Gottes Geist schickte ihnen und uns Worte aus dem Alten und Neuen Testament, die über das Fremdlings- und Pilgerschicksal sprechen:

„Die Fremdlinge sollt ihr nicht unterdrücken; denn ihr wisset um der Fremdlinge Herz, weil ihr auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen seid.“ (2. Mose 23,9)
„Liebe Brüder, ich ermahne euch als Fremdlinge und Pilger: enthaltet euch von fleischlichen Begierden, die gegen die Seele streiten“ (1. Petrus 2,11).

„Wir haben hier keine bleibende Stadt …“

Besonders scharf beleuchteten den Sinn dieser Übergangstage Verse aus den Kapiteln 11-13 im Hebräerbrief. Wir meditierten die Verse nacheinander durch. Die Bibelverse verstanden wir existenziell, so z. B. die Verse über den Glaubensweg im Alten Bund, über Helden, die auch in Zelten wohnten und doch auf die Stadt warteten, mit einem festen Grund. Sie hatten auch eine feste Zuversicht auf das, was man hoffen konnte. Die ehemaligen und die Pilger von 1989 blieben Gäste und Fremdlinge auf Erden.

Die Bibelverse lösten bei unseren DDR-Schwestern und Brüder Gedanken und Überlegungen aus, die ihnen früher unbekannt waren. Dies war eine situationsgemäße und existentielle Befreiungsinterpretation. Besonders tief waren sie vom Wort in Hebräer 13,14 berührt: „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir“. Dieses Bibelwort wurde wie eine Lagerlosung, gültig für viele, aufgenommen und oft, sehr oft wiederholt.

Uns aber, die im täglichen Dienst standen, hat ein anderes Bibelwort ergriffen, das in Hebräer 13,2 steht: „Gastfrei zu sein, vergesst nicht. Denn dadurch haben einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt“. Und wir versuchten gastfrei zu sein, auch als wir Frauen und Kinder in das naheliegende Hospital Johannes begleiteten oder Telefonate in die DDR im Auftrag einiger Flüchtlingen erledigten - obwohl ich dabei befürchtete, dass die Verwandten durch Abhören der Gespräche Schwierigkeiten bekommen könnten, aber die Auftraggeber kalkulierten dies ganz bewusst ein; viele unter ihnen waren im Laufe der Zeit sehr entschlossen und riskierten alles.

Ihre Briefe brachte ich oft zur Post und gab ihnen Meldungen weiter darüber, was zu erwarten oder zu hoffen war. Sie erzählten, dass im Lager auch Menschen waren, die angstauslösende Fehlinformationen verbreiteten. Man flüsterte sehr leise über Stasi-Beauftragte. Viele unter den Flüchtlingen – deshalb oder von Natur aus – blieben schweigsam und fremd. Sie bewegten sich im Lager wie der Berliner Mauer.

Sie konnten sich nur in Andachten oder Gottesdiensten ein bisschen öffnen – aber dann nur aufwärts! Ich sah oft das „Kyrie, kyrie eleison“ oder das „Dona nobis pacem“ tief betroffen mitsingen. Und jedes Mal sangen sie mit Herz und Mund unsere Lager-Hymne, in die ich auch mit Dankbarkeit und Mitgefühl einstimmte: „Von guten Mächten wunderbar geborgen,/ erwarten wir getrost, was kommen mag./ Gott ist mit uns am Abend und am Morgen/ und ganz gewiss an jedem neuen Tag“.

Ich denke, in diesen spätsommerlichen Tagen Ungarn hat Gott angefangen mit und durch diese Flüchtlinge in der Geschichte ein neues Kapitel zu schreiben gegen kommunistische Diktaturen, falsche Ideologien, Lügen-Sozialismus, aber auch gegen Scheinhumanismus und auch gegen einseitige Geld- und Machtvorstellungen, Scheindemokratien.

Warum flohen Zehntausende aus dem „Modellstaat” des Sozialismus?

Während der Wochen im Flüchtlingslager 2 stellte ich mir oft die Frage: Warum flüchteten eigentlich Zehntausende von Menschen aus dem „Modellstaat” des Sozialismus, der DDR, wo man alle Pläne 150 % übererfüllte, besser gesagt überbot? Warum wurden in diesem Staat – nach zuverlässigen Daten – in der Periode 1949-1980 mehr als drei Millionen Menschen landesflüchtig? Wie hätte ihrem Wesen entsprechend die ostdeutsche Macht darauf anders antworten können als wie folgt: „Was wollen diese noch, sie haben alles bekommen: Diplom, Wohnung, gute Arbeitsplätze, viele herausragende Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung?!”. Die Frivolität des DDR-Staates und seiner Machthabern zeigte sich pregnant darin, wie man in jenen Tagen 1989 durch die Staatspresse auf die Ereignisse reagierte: „Ungarn, unter Einfluss der BRD treibt Menschenhandel”.

Die Realität in den Lagern1-2-3 sah demgegenüber ganz anders aus. Dort legten die Menschen ihre persönlichen Geständnisse ab, z.B. ein Mediziner aus Berlin: „Ich will nicht lebenslang ein diesem Staat mit Wohnung und Position verpflichteter Diener bleiben”. Ein Ingenieur aus Dresden: „Mir ist es genug, dass der Staat, bzw. seine Vertreter mich immer als Kleinkind anschauen und mir sagen wollen, was ich darf oder nicht, was ich denken soll oder was nicht! Davon habe ich genug! Genug mit dieser Bevormundung!”. Eine Frau: „Wir hatten alles im Überfluss zu Hause. Wir haben eigenes Geschäft, wir sind relativ reich. Aber eingesperrt! Als ob wir im Gefängnis lebten. Ich habe genug! Ich konnte einfach nicht mehr richtig atmen, Luft bekommen, deshalb sagte ich: Genug mit diesem Honecker-Regime!”.

Die Hauptfrage lautete dann: Wenn es den Bürgern in diesem System so gut geht, wie das die Staatspropaganda dem Land und der Welt sagt, warum verlassen dann so viele Jungendliche und Erwachsene diesen Musterstaat und stehen hier in Ungarn vor der Lagertür, obwohl auf den Ankündigungstafel das schreckliche Wort zu lesen ist: „Voll”. Trotzdem warten sie unentwegt dort vor der Lagertür. Warum?

Oft sprachlos sprachen sie über das, was der Neutestamentler Ernst Käsemann einmal so treffend formulierte: über den „Ruf der Freiheit”! Ja, eben mit ihrem hartnäckigen Dableiben vor der Lagertür sprachen die Flüchtlinge über den Ruf der Freiheit, den man weder begraben, einmauern, überideologisieren, abkaufen kann, noch mit geheimen Mitteln und Methoden der Staatsmacht erwürgen, einfach weil der so Grund für diesen Ruf so tief und elementar zum Menschsein gehört wie die Luft, das Wasser oder eben das Licht.

Die DDR-Flüchtlinge zeigten mit ihrer Existenz, dass die Freiheit eine Grundbedingung zum Sein ist. Wenn aber diese Freiheit weggenommen wird oder überhaupt nicht erst gegeben ist, oder Menschen „über die Freiheit nur ein bisschen singen” dürfen (so Kálmán Csiha, der zu einer Gefängnisstrafe verurteilte reformierte Bischof in Siebenbürgen), dann werden nach einer Weile ganz sicher die menschliche Seele und der Geist unruhig, bis es zum Durchbruch oder Ausbruchspunkt kommen kann.

Die DDR-Auswanderer haben im Spätsommer 1989 in den Lagern 1-2-3 einen solchen Ausbruchspunkt gefunden. Ja, die Flüchtlingslager in Zugliget, Csillebérc und Zánka waren für viele Menschen Zufluchtsorte der Freiheit, wo sie nicht nur den Ruf der menschlichen, sondern auch der göttlichen Freiheit unerwartet hörten und vernahmen. Sie sprachen bewusst oder eben unbewusst miteinander über diesen elementaren Freiheitsruf, zu dem gehört, dass sie ihre Heimat verließen, um eine neue Heimat und Zukunft zu suchen und zu finden.

So konnten wir aufgrund dieser Erfahrungen gemeinsam singen, gemeinsam beten, und Gottes Wort gemeinsam hören. Das war eine Gemeinsamkeit, eine Gemeinschaft, gebildet unter dem Zeichen der Freiheit. Das „Vielleicht wird es möglich, wird es gelingen-Erlebnis” war unter uns so stark, dass es die DDR-Flüchtlinge und die ungarischen Diensthabenden sehr tief verband. So erlebten wir alle ein gemeinsames Generationserlebnis unter dem Ruf der Freiheit, der nicht viel später im ganzen Osten Europas Millionen geschenkt wurde.

Das Flüchtlingslager als Freiheitslaboratorium

Wir befanden uns damals im Lager 2 in einem „Freiheitslaboratorium”, wo die Experimente endlich gut gelungen waren. Uns verbanden miteinander auch die Lieder des grünen Fontäne-Gesangbuchs, die wir mit Herz, Mund und Verstand sangen, z. B. das, dessen Verse dort alle existenziell wahrgenommen wurden:

„1. Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer,/ wie Wind und Weite und wie ein Zuhaus./ Frei sind wir, da zu wohnen und zu gehen,/Frei sind wir, ja zu sagen oder nein…/ 2. Wir wollen Freiheit, um uns selbst zu finden,/Freiheit, aus der man etwas machen kann,/Freiheit, die auch noch offen ist für Träume,/wo Baum und Blume Wurzeln schlagen kann./ 3. Und dennoch sind da Mauern zwischen Menschen,/und nur durch Gitter sehen wir uns an./Unser versklavtes Ich ist ein Gefängnis/und ist gebaut aus Steinen unsrer Angst./4. Herr, du bist Richter! Du nur kannst befreien,/wenn du uns freisprichst, dann ist/Freiheit da. Freiheit, sie gilt/für Menschen, Völker, Rassen,/so weit wie deine Liebe uns ergreift”.

Dieselbe Botschaft erklang in den Bibelversen, die oft bei Wortlesungen zitiert wurden: „Wenn euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr wirklich frei” (Johannes 8,36). – „Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit” (2. Korinther 3,17). Ja, das Eingesperrtsein im Lager ermöglichte vielen eine wirkliche Richtungsänderung: nicht links oder rechts, nicht vorwärts oder rückwärts zu leben, sondern: Aufwärts! Und dieser Dimensionswechsel war auch eine besondere Gabe, uns eine Aufgabe jener Tage, ein kostbarer Vorgeschmack der späteren Freiheit.

Es näherte sich der schicksalsändernde Tag: der 10. September 1989. Der Tag mit hohen, schon nicht steigerbaren Spannungen. Die politischen Verhandlungen kamen vorwärts: eine Vereinbarung zwischen dem deutschen Kanzler Helmut Kohl und dem sowjetischen Parteichef Michail Gorbatschow stand vor dem Abschluss. Die Menschen im Lager verfolgten die Medien und waren sehr gespannt. Für mich aber war noch Einiges zu erledigen.

An diesem „Befreiungssonntag” um 10 Uhr in der reformierten Kirche Nagyvárad-tér hielten wir einen sog. Flüchtlingssonntag, daran nahmen DDR-Familien aus dem Lager teil. Die Eltern brachten ihre Kinder in diese schöne ungarische Kirche, um sie taufen zu lassen, was ich gerne tat. Sie sagten mir: „Wir wollen nicht wie Heiden in die neue Heimat eintreten. Falls wir aber in die DDR zurückgeschickt werden, werden sie dort auch unter dem Schutz Jesu Christi bleiben. Und das ist die Hauptsache!”’

Im Gottesdienst waren neben den mehr als 300 Gottesdienstbesuchern auch Vertreter der verschiedenen TV-Gesellschaften anwesend, so z.B. aus Kanada, den USA, Deutschland und Österreich. (Das ungarische staatliche Fernsehen war nicht dabei!). Etwas vibrierte schon in der Luft: „Jetzt oder überhaupt nicht!” Zum Schluß sangen wir in der großen Gemeinde das Bonhoefferlied: „Von guten Mächten wunderbar geborgen/erwarten wir getrost, was kommen mag…“. Und an diesem Tag ist wirklich vieles, sehr vieles gekommen. Die pulsierende, aktuelle Geschichte klopfte bei uns an, sie trat spürbar, erfahrbar zu uns.

Am Nachmittag kehrten ich und meine Frau, die reformierte Pfarrerin Klaudia Röhrig-Békefy in das Lager 2 zurück, wo alle auf die befreiende Botschaft warteten. Mich begrüßten diejenige, die sich schon früher entschlossen hatten, die Taufe zu empfangen. Zehn Familien mit Kindern wollten sie annehmen, was auch an diesem Abend- und gleichzeitigem Abschiedsgottesdienst geschah. Zum Gottesdienst war die Hangarkirche überfüllt. Neben den Lager-Bewohnern standen viele Vertreter der verschiedenen TV-Gesellschaften aus vielen Länder, aber auch Mitarbeiter der Hilfsorganisationen, der Botschaft und der Kirchen.

Meine Frau las Verse aus dem Hebräerbrief vor, aus dem 11. Kapitel. Auch der lutherische Pfarrer und ökumenischer Generalsekretär, László Lehel, war anwesend. Nicht weit von uns stand der Pfarrer und Journalist Gottfried Mireau, Korrespondent der deutschen evangelischen Kirchen, wie immer mit einem Notizzettel in der Hand. Der reformierter Pfarrer Zoltán Balog sprach zu den Gottesdienstteilnehmer über die Besonderheit und Einmaligkeit dieser Stunden und Gottes wunderbare Führung. Draußen standen auch noch auf dem Dach und Bäumen Menschen, die alles gut hören und sehen wollten, was noch heute Abend kommt.

Kurz nach dem Abendgottesdienst erreichte die offizielle Nachricht Lager 2: Außenminister Gyula Horn teilte im Ungarischen TV der Öffentlichkeit mit, dass Ungarn am Mitternacht vom 10. auf den 11. September 1989 die Staatsgrenze zu Österreich eröffnen wird, damit die DDR-Flüchtlinge Ungarn verlassen können. Die schon lange erwartete gute Nachricht bestätigte BRD-Botschafter Dr. Alexander Arnot und gab den anwesenden Tausenden einige wichtige und nützliche Informationen.

Was danach geschah, kann man einfach nicht beschreiben, oder richtig wiedergeben. Ich kann mich auch heute noch nur sehr betroffen an diese Minuten, Stunden, diese Nacht erinnern. Eine besondere Festivalstimmung der Freiheit brach aus den Menschen heraus, blitzschnell enstand eine Freudenacht, in der alle Menschen für einander zu Geschwistern geboren wurden. Diese Euphorie dauerte stunden- und tagelang. Viele fragten mich mit ein bisschen Zweifel: „Ist es wahr, Herr Pfarrer? Ist es wirklich wahr? Dürfen wir doch weitergehen? Betrügt man uns nicht?“

Ja, das war ein Sonntag, den man wirklich nie vergessen kann – bis zum Lebensende. Die Mitglieder meiner Gitarre-Manschaft fielen mir um den Hals und sagten: „Herr Pfarrer, Sie kommen wirklich mit uns, gelt? Wir halten doch weiterhin zusammen?“ – „Ja, in unseren Seelen wirklich”, antwortete ich und spürte gleich den Abschiedsschmerz in meinem Herzen aufwachsen. Aber die Dankbarkeit Gott gegenüber erfüllte mich immer mehr.

Ich ging in meinen Gedanken und Gefühlen versunken in die inzwischen ganz leer gewordene Hangarkirche hinein. Ich setzte mich – zum ersten Mal in den letzten Wochen – auf eine Sportbank. In der von Menschenwärme noch „bewohnte“ Kirche füllten sich meine Augen mit Tränen, denn ich spürte die Einmaligkeit dieser Stunde, in der Gott „seine Finger sehen lässt“, wenn Er gerade Seine Befreiungeschichte schreibt. Und das war sehr, sehr berührend. Gott schrieb damals eine Gegengeschichte mit Hilfe dieser befreiten DDR-Flüchtlinge, Er schrieb über „eine Revolution gegen alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen“ (Karl Barth). Dies war mir eine überwältigend-gültige Erfahrung.

Dann habe ich angefangen zu beten, für alles Dank zu sagen, was bis jetzt durch Gottes Gnade geschehen durfte. Ich bat Gott darum, Er möge weiterhin die Befreiten auf ihrem Weg in die neue Heimat schützen und bewahren. Manchmal schaute ich durch die offen gelassene Hangartür hinaus, auf die Eltern der getauften Kinder. Sie machten sich und die Kinder reisebereit, „auf den Weg dieser ganz besonderen deutschen Landnahme“ am Ende des 20sten Jahrhunderts.

Ich bat Gott darum, es diese Freiheitswanderer und ihren Kinder möglich zu machen, endlich eine sichere Wohnung und Heimat finden, in einem europäisierten Europa. Möge Gott ihnen und den Kindeskindern ermöglichen, dass sie aus Not ihre Heimat nimmer mehr verlassen müssen, keine – mit dem Gewehr kontrollierte - Flüsse auf der Freiheitssuche durchschwimmen oder Stacheldrähte durchschneiden zu müssen, um endlich eine neue Heimat zu finden.

Im Spätsommer 1989 wurde ein Stück neues Kapitel in der deutschen Geschichte eben hier in Ungarn geöffnet. Ein haardünner Riss entstand in der „starken“ Mauer. Und dies war der Anfang einer europäischen Freiheitsgeschichte, die nimmer mehr rückgängig gemacht werden kann.


Lajos Békefy