»Wer Partei nimmt, färbt die Vergangenheit mit eigenen Ideen ein, nicht selten bis zur Unkenntlichkeit« (S. 9). Mit diesen Worten und mit diesem Anspruch beginnt Reinhardt sein Buch über Calvins Reformation in Genf. Um es vorwegzunehmen, Reinhardts erstmalige Beschäftigung mit dem Genfer Reformator scheitert zum großen Teil an genau diesem Anspruch. Es bleibt zwar das Verdienst des Freiburger Historikers, die diplomatischen Verwicklungen Genfs mit den Nachbarstädten in Erinnerung gerufen zu haben. Und auch die Darstellung der innergenfer Konflikte, vor allem Calvins Kampf mit den Genfer Patrizierfamilien, sind interessant zu lesen. Aber die unsäglichen Wertungen (1) und die nachlässige Recherche machen das Buch insgesamt zu einer ambivalenten Lektüre.
Quellen werden nur ungenau angegeben
Reinhardt zeichnet Calvin als einen skrupellosen Taktiker der Macht, der den wehrlosen Genfern sein unliebsames Regime aufgezwungen habe: »Bespitzelung, Denunziation, Sittengericht, Angst« (S. 229). Calvin habe sich über die weltlichen Behörden gesetzt und alle seine persönlichen Feinde als Gotteslästerer verfolgt (S. 15). Das Einzige, was Reinhardt an Calvin fasziniert, ist Calvins angeblicher rücksichtsloser Wille zum Machterhalt im Sinne Machiavellis. Dementsprechend wird bei ihm das gerichtliche Vorgehen gegen den Aufstand der ›Perrinisten‹ von 1555 zur »Inszenierung eines ›Staatsstreiches‹« umgedeutet (S. 263 vgl. 179-186). Reinhardt beruft sich dabei auf »unverdächtige Quellen« (S. 181), die er aber nicht nennt. Auch sonst sind die Quellen, die Reinhardt nennt, recht dürr. Er verweist lediglich auf die Institutio, auf Calvins Briefe und einige seiner Predigten. Allerdings dürfte Reinhardt die Institutio Calvins kaum gelesen haben. Denn er behauptet, die Institutio von 1536 habe sich in den späteren Ausgaben nur unwesentlich verändert (S. 62). Und über das Hauptwerk Calvins fällt er das groteske Urteil: »die Institutio [stellt sich] wie ein Stück Gesetzgebung aus der Feder eines Juristen dar, der im Namen göttlicher Allmacht unumstößliche Gesetze dekretiert« (S. 69f). Eine weitere Quelle, die Reinhardt nennt, ist Calvins Schrift »Von den Ärgernissen« (1550). Reinhardt übersetzt sie ungenau mit »Von den Skandalen« und ordnet sie fälschlicherweise der Auseinandersetzung um die Prädestinationslehre zu (S. 62).
Neuer Vorwurf gegen Calvin
Besonders schwer aber wiegt eine falsche Darstellung, die hier beispielhaft herausgegriffen werden soll: Reinhardt unterstellt, dass 1554 vier Männer in Genf aufgrund eines Gutachtens von Calvin wegen homosexueller Praktiken hingerichtet worden seien (S. 175). Zudem habe Calvin bei fünf schulpflichtigen Jungen, die bei sexuellen Spielen erwischt wurden, »den Tod durch Ertränken für angemessen gehalten« (S. 176).
Diese Darstellung ist nicht zutreffend. Reinhardt ist in seiner negativen Sicht Calvins derart befangen, dass es ihm nicht nötig erscheint, seine Quellen präzise anzugeben und sie sorgfältig auszuwerten. Denn Reinhardt behauptet, dass 1554 vier ›Sodomiten‹ verbrannt worden seien. Tatsächlich aber ist nur eine Person hingerichtet worden: ein gewisser Lambert le Blanc. Die drei weiteren Personen, von denen Reinhardt keine Namen nennen kann, existieren nicht. Sie gehen vielmehr darauf zurück, dass Reinhardt ein Gutachten zu einem späteren Fall fälschlicherweise dem Fall von Lambert le Blanc zuschreibt. (1) Da in diesem Gutachten aber zwei jüngere und drei ältere Knaben erwähnt werden, hat Reinhardt die drei älteren kurzerhand der Hinrichtung von Le Blanc zugeschlagen, sodass er auf vier Hinrichtungen kommt. Die drei Jungen wurden aber gar nicht hingerichtet. Und im Fall Le Blanc war Calvin gar nicht involviert.
Gutachten falsch zugeordnet
Und dies führt nun zu dem Gutachten, das Reinhardt falsch zuordnet: Zum einen dient es Reinhardt als Beleg, dass Calvin mit diesem Gutachten die Hinrichtung von Le Blanc (und drei weiteren ›Sodomiten‹) zu verantworten habe. Tatsächlich aber hat das Gutachten mit diesem Fall vom März 1554 nichts zu tun. Zum anderen kommt das erwähnte Gutachten gerade n i c h t zu dem Schluss, dass eine Todesstrafe gefordert wurde, wie Reinhardt suggeriert. Das Gutachten (das übrigens keineswegs von vier Genfer Pfarrern verfasst wurde, wie Reinhardt behauptet, sondern von zwei Juristen und zwei Pfarrern) stammt vom Dezember 1554 und kommt zu dem Schluss, dass die jüngeren Knaben eine leichte Prügelstrafe erhalten und die drei älteren öffentlich ausgepeitscht werden sollen. Um die älteren Knaben vor dem »Abscheu des Volkes« zu schützen, sollten sie anschließend noch einige Zeit in der Haft verbleiben. Auch wenn dieses Gutachten nicht modernen Erwartungen entspricht, so sollte es doch präzise wiedergegeben werden. Und Calvins Anteil daran müsste genauer untersucht werden. Schließlich handelt es sich um eine Kommissionsarbeit, in der Calvin nur einer von vier Gutachtern war. Welche Argumente von Calvin stammen, kann nur gemutmaßt werden. Hierzu bräuchte es die Heranziehung weiterer Aussagen Calvins zum Thema; doch diese Mühe macht sich Reinhardt nicht, da sein Urteil ohnehin schon feststeht.
Unterscheidung von Konsistorium und Stadtrat wird vermischt
Besonders ärgerlich ist in diesem Zusammenhang, dass Reinhardt regelmäßige die Unterscheidung von Konsistorium und Stadtrat verwischt. Calvin war aber nur Mitglied im Konsistorium, der kirchlichen Behörde. Er hatte dort nie den Vorsitz; und als höchste Sanktion konnte das Konsistorium lediglich den Ausschluss vom Abendmahl verhängen; und selbst dies war bis 1555 umstritten. Dieser Umstand wird von Reinhardt weitgehend ausgeblendet. Er erwähnt zwar, dass Calvin in Genf lange Zeit kein Bürgerrecht hatte und nie Mitglied des Stadtrates war. Aber selbst das hindert ihn nicht daran, zu behaupten, Calvin habe den Stadtrat dominiert. Reinhardt versteigt sich sogar zu der Annahme, die Anwesenheit Calvins bei den Ratsitzungen habe einen »psychologischen und politischen Effekt« auf die Entscheidungen des Rates gehabt (S. 206). Reinhardt erwähnt zwar, dass die Pastoren erst ab 1560 bei den Ratssitzungen zugelassen wurden (S. 205f). Aber ihm entgeht, dass es sich hierbei um die letzten dreieinhalb Lebensjahre Calvins handelte, in denen Calvin schon aus gesundheitlichen Gründen nur noch selten als Gast an den Sitzungen des Stadtrates teilnehmen konnte. Trotzdem hält Reinhardt an seiner These fest, dass Calvin den Stadtrat über Jahrzehnte dominiert habe. Auf diese Weise kann er schwierige Entscheidungen des Stadtrates auf Calvins Verfehlungskonto verbuchen, ohne differenzieren zu müssen. Für ihn ist Calvin die treibende Feder der angeblichen ›Tyrannei in Genf‹.
Flüchtlingsrealität außer Acht gelassen
Erst gegen Ende seines Buches registriert Reinhardt eine zentrale Realität im Genf Calvins: der Anstieg der Bevölkerung von 10.000 in den 30er Jahren auf 25.000 Einwohner im Jahr 1560. Reinhardt deutet zwar an, welche Konflikte und Herausforderungen dieser Zustrom an Flüchtlingen für das Genfer Gemeinwesen bedeutete (S. 222ff), aber er reflektiert nicht, dass es hier einen Zusammenhang geben könnte mit den besonderen Maßnahmen, die Konsistorium und Stadtrat je für sich durchsetzten (z. B. gegen häusliche Gewalt, sexuelle Übergriffe, Streitereien, ausländerfeindliche Attacken, Spielsucht, Alkoholismus, Bettelei). Stattdessen konstatiert Reinhardt eine »überproportionale« Zunahme der Verfahren vor dem Konsistorium um 182% und wertet dies als Beleg für die Zunahme »sozialer Kontrolle« und der »Praxis der Denunziation« (S. 147). Auffällig ist in Genf allenfalls die hohe Zunahme der Verfahren wegen sexueller Vergehen und ausländerfeindlicher Attacken. Doch in einer von ausländischen Flüchtlingen überfüllten Stadt mit »permanentem Männerüberschuss« (S. 218) sind diese Zahlen nicht weiter verwunderlich. Und zudem muss die Zunahme aller Verfahren mit der Zunahme der Bevölkerungszahl (bis zu 250%) abgeglichen werden. Anstelle einer »überproportionalen« Zunahme wäre dann ein leichter Rückgang der Verfahren pro Einwohner festzuhalten, was eher für die Akzeptanz und den Erfolg der Maßnahmen sprechen würde. Doch Reinhardt ist nicht in der Lage, diesen Erfolg der Stadträte und Pfarrer zu würdigen, nämlich angesichts der inneren und äußeren Bedrohung in Genf ein funktionierendes Gemeinwesen geschaffen zu haben. Selbst die unumstrittenen Leistungen der Genfer Diakonie und Armenpflege kann Reinhardt nur abschätzig als eine von Kontrolle und Hintergedanken beherrschte Ordnung abtun. (S. 228).
Der reißerische Titel »Die Tyrannei der Tugend« mag den Verlagsinteressen geschuldet sein, aber ein wenig mehr Tugend in der wissenschaftlichen Genauigkeit hätte dem Buch gewiss gutgetan.
Zitierempfehlung
Achim Detmers, Rezension zu Volker Reinhardt »Tyrannei der Tugend. Calvin und die Reformation in Genf« (2009), URL: http://reformiert-info.de/4172-0-105-16.html (Abrufdatum)
(1) Z. B. »Welt- und Sittenverbesserer mit der Zuchtrute« (S. 14), »der von Gott gesandte Wiederhersteller der Wahrheit« (S. 16), »Rigorismus und Moralkontrolle« (S. 17), »regelrechte Glaubensverhöre« (S. 45), »dünkelhafte Heerscharen der Hölle« (S. 47), »Heilszentrum der Reformierten mit lakonischem Erwählungsbewusstsein« (S. 60), »selbsternannte Moralapostel« (S. 80), »Operation Machtsicherung« (S. 180), »religiös-politische Staatspropaganda« (S. 194), »Gottes Dolmetscher und Orakel« (S. 230), »Systematische Säuberung« (S. 262) usw.
(2) Vgl. William Naphy, Sodomy in early modern Geneva: various definitions, diverse verdicts, in: Sodomy in Early Modern Europe, hg. v. Thomas Betteridge, Studies in Early Modern European History, New York 2002, S. 94ff (hier: S. 98).