„Halleluja! Ich danke dem Herrn von ganzem Herzen im Rate der Frommen und in der Gemeinde.“ (Losungstext vom 10. September 2024)
Liebe Gemeinde,
als ich den Losungstext für heute zum ersten Mal las, musste ich unwillkürlich an meine ersten Hausbesuche als junger Vikar denken. Immer wieder bekam ich dort etwas zu hören, was mir übel aufstieß und worüber ich mich regelmäßig geradezu geärgert habe, nämlich Aussagen wie Folgende: „Herr Vikar, das Problem des Menschen heute ist, dass er undankbar geworden ist, undankbar für das, was er hat. Der Vergleich mit den vielen, denen es schlechter geht, zeigt aber, dass man zufrieden sein sollte. Sagen Sie das den Menschen, Herr Vikar.“1
Ich denke bis heute über diese und ähnliche Aussagen nach und das, was mir daran damals schon nicht recht passen wollte und bis heute nicht „schmecken“ will. Aber was sollte dagegensprechen? Fordert nicht der „Heidelberger Katechismus“ ausdrücklich dazu auf, dass „wir uns mit unserem ganzen Leben Gott für seine Wohltaten dankbar erweisen und er durch uns gepriesen wird“ (Frage 86)? Dass wir alle viel Grund dafür haben, Gott zu danken, das ist und bleibt doch wahr und richtig. Und es ist gewiss auch etwas dran an dem geflügelten Wort: „Je mehr er hat, je mehr er will; nie schweigen seine Klagen still.“ Wer wollte verneinen, dass Besitz Appetit weckt, dass aus dem Haben der Wunsch nach mehr, ja, bisweilen die Gier nach mehr und immer mehr erwächst?
Aber muss man deshalb als Christ wirklich dankbar für das sein, was man hat? Ich glaube, dass man dies nicht muss, ja strenggenommen nicht einmal darf. Denn nicht alles, was man hat, ist von Gott gegeben. Zu behaupten, dass alles, was ist, auch von Gott gegeben ist, dies wäre eine ungeheuerliche Aussage. Denn das würde dann auch für den Hunger auf der Welt, für Mord und Todschlag, Krieg und jede Form von Ungerechtigkeit gelten. Nicht alles, was ist, ist auch gut und ein Grund zum Danken. Es gibt auch manches, ja vieles, was Gott regelrecht zuwider ist. Ein großer theologischer Fehler bestand in der Geschichte unserer Kirche darin, dass bisweilen das Sein mit dem Guten, das sog. esse mit dem bonum gleichgesetzt wurde, wie dies leider etwa beim Kirchenvater Augustin geschah. Augustin verstand das Böse infolge dessen nur als ein Mangel an Gutem (privatio boni), ein Mangel an Sein.2 Das Widergöttliche, das Gottwidrige des Bösen aber konnte so nicht recht zur Sprache gebracht werden. Es wurde verharmlost.3
Warum ist die Forderung nach Dankbarkeit nun so problematisch?4 Weil sie sich, um es auf den Punkt zu bringen, als hochgradig anfällig erweist.5 Um ein Beispiel zu geben: Wenn ich etwa einem Menschen, der offenkundig zu kurz kommt und der ausgebeutet wird, auffordere: „Sei dankbar für das, was du hast“, dann wirke auch ich an seiner Unterdrückung mit und mache mich des Unrechts zumindest mitschuldig, das ihm geschieht. Und wenn ich ihn obendrein noch ermahne: „Vergleiche dich mit denen, denen es noch schlechter geht, die noch mehr ausgebeutet werden, so wirst du dankbar und zufrieden sein“, fordere ich ihn dann nicht dazu auf, ein dankbarer Egoist zu sein, der sich der von ihm gesehenen Not des Anderen, dem es noch schlechter geht, verschließt? Anstatt ihm zu helfen, beschwichtige ich ihn hinsichtlich seiner Not und der Not des Anderen durch den Vergleich.
Wir sehen: Die Forderung nach Dankbarkeit kann ein höchst gefährlicher Knebel aus feinster Frömmigkeitsseide sein, ein Knebel, der uns das Unrecht herunterschlucken lässt und uns gegenüber der Not des Nächsten verhärtet. Ich glaube, dass mich damals als junger Vikar genau die Witterung dieser Gefahr instinktiv so aufgebracht hat. Die Religionskritik zeigte ihre Wirkung: Wer einmal durch einen „Feuerbach“ der Kritik gegangen ist und Karl Marx mit seiner Rede von der Religion als „Opium des Volkes“6 noch im Ohr hat, der erkennt auch in der Dankbarkeitsforderung das Betäubungsmittel wieder.
Halten wir fest: Ich muss nicht für alles dankbar sein, was „es“ gibt. Ich werde das, was „es“ gibt, unter Umständen ablehnen, ihm widerstehen, mich dagegen auflehnen, gegen es protestieren. Es gibt so etwas wie eine heilige Unzufriedenheit mit dem Vorfindlichen, dem Ist-Zustand. Die Aussicht auf Gottes kommendes Reich setzt sie frei. Mit anderen Worten: Christenmenschen werden nie einfach grundsätzlich konservativ in dem Sinne sein, dass sie Ja sagen zu allem, was es gibt; ebenso wenig wie sie einfach grundsätzlich revolutionär sein können und Nein sagen müssen zu allem, was „es“ gibt. Täten sie dies, so würden sie das Vorletzte mit dem Letzten vertauschen.7
Nein, es gilt zu unterscheiden: Zunächst und grundlegend zwischen dem, was Gott gibt, und dem, was ist. Das, was ist, ist dabei weder hundertprozentig deckungsgleich mit dem Gotteswerk noch dem Menschenwerk. Wie wir Menschen, so findet auch Gott nach dem Bericht der Bibel Dinge vor, die er nicht gemacht hat – so bereits zu Beginn der Schöpfung das „Tohuwabohu“ (Gen 1,2). Das Unterscheiden zwischen dem, was Gott gibt, und dem, was ist, dürfte also gar nicht so einfach sein, wie es zunächst vielleicht scheinen mag. Deshalb ist es im Übrigen auch viel schwerer, ein Dankgebet zu formulieren als ein Bittgebet. Denn ich kann ja Gott um alles Mögliche bitten, aber wenn ich ihm im Gebet konkret danke, dann identifiziere, dann benenne ich dieses und jenes als das von ihm gegebene Gute. Dieses Benennen ist ein theologisch durchaus riskanter Akt.8 Wie kommt man hier weiter? Gibt es einen Maßstab für ein gelingendes Benennen, Zuordnen und Unterscheiden?
Ich glaube, dass hier nur der Blick auf Gottes Güte weiterhilft; das Gute ist diejenige Güte, die Gott in Jesus Christus gezeigt hat. Auf sie bezieht sich die rechte Dankbarkeit: Ich bin als Christenmensch also nicht einfach dankbar für alles, was „es“ gibt, sondern für das, was Gott in seiner Güte gibt, seiner Güte, wie er sie in Jesus Christus gezeigt hat. Anders gesagt: Wenn ich wissen will, wie Gottes Güte aussieht, dann muss ich auf Christus schauen. An dieser Maßstab gebenden Güte Gottes in Jesus Christus ist das zu prüfen, was es gibt und was man hat. Ein dem entsprechendes Messen, Prüfen, Unterscheiden ist – wie gesagt – keineswegs immer einfach und klar. Aber unser Losungstext gibt uns zu diesem bisweilen schweren Unterfangen einen wichtigen Hinweis: „Ich danke dem Herrn von ganzem Herzen – im Rate der Frommen und in der Gemeinde.“
„Im Rate der Frommen und in der Gemeinde“ – das „Ich“, das hier dankt, ist nicht allein. „Wenn ihr zusammenkommt, hat jeder einen Psalm“ (1Kor 14,26) – so Paulus. Der Ort des Dankes ist der Rat der Frommen, ist die Gemeinde. Hier wird gedankt und hier wird geurteilt,9 also unterschieden zwischen dem, was Gott Gutes tut, und dem, was „es“ gibt.10 Hier werden die nötigen Zuordnungen getroffen und hier, in der Gemeinschaft der Geschwister, wird auch die kritische Frage gestellt, ob ich vielleicht gar nicht zu danken habe, weil ich damit etwas hinnehmen und unterstützen würde, was Gottes Güte widerspricht.11 Hier ist das „Ich“ übrigens auch ganz bei der Sache – „mit ganzem Herzen“, „fully committed“12. Zur recht verstandenen christlichen Dankbarkeit gehört also der Dank für die Geschwister, die uns keine Einzelgängerinnen und Einzelgänger im Abenteuerland des Glaubens und der Nachfolge sein lassen, sondern uns stützen und unterstürzen und, wenn nötig, auch korrigieren.
Mir wurde einmal davon erzählt, wie ein Christ Gott öffentlich dafür dankte, dass ihm seine Frau jeden Morgen die Schuhe putzt.13 Die Geschwister wiesen ihn darauf hin, dass er Gott doch auch dafür danken könne, dass er ihm nicht nur seine Frau, sondern auch zwei gesunde Hände geschenkt habe, um selber seine Schuhe zu putzen. Welch berechtigter Hinweis! Hier wird man mit unserem Losungstext ein „Halleluja“ anstimmen dürfen.
Doch hätte unser Christ auch ohne die Geschwister darauf kommen können, dass dieses Dankgebet problematisch ist? Ich frage deshalb nach, weil bekanntermaßen auch Mehrheiten irren können und auch die Gemeinden keineswegs untadelig in ihrem Urteilsvollzug sind, wie nicht zuletzt die paulinischen Briefe in ihren Ermahnungen zeigen. Auch kirchliche „Schwarmintelligenz“ funktioniert nicht immer! Es braucht Maßstäbe und Kriterien für das Urteilen, das auch nicht einfach „da“ und „vorgegeben“ ist, sondern erprobt werden will.14
Gewiss hätte unser Christ auch ohne die Geschwister darauf kommen können, dass sein Dankgebet problematisch ist! Ich denke etwa an ein Jesuswort wie das aus Mt 28,20: „Der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene“. Wenn Jesus, wie es Joh 13,15 heißt, uns ein Beispiel gegeben hat, dann wird man sein Beispiel auch auf das Sich-Dienen-Lassen unseres Christen beziehen dürfen. Jesus dient – unser Christ lässt sich hingegen dienen! Sein Sich-die-Schuhe-von-seiner-Frau-Putzen-Lassen aus Faulheit oder Bequemlichkeit entspricht nicht dem Dienen Jesu. Das Schuhe-Putzen seiner Frau aber wohl auch nicht. Es unterstützt vielmehr die problematische Haltung ihres Manns.15 Und damit ist letztlich niemandem „gedient“: Weder Jesus, noch ihr selbst, noch ihrem Mann.
Gewiss hätte also unser Christ als Bibelleser auch allein auf die Problematik seines Dankgebets kommen können. Doch von der Linsentrübung, ja der bisweilen manifesten Blindheit im Erkennen sind auch wir Christenmenschen keineswegs ausgenommen! Das sprichwörtliche „Brett“ vor dem Kopf macht auch vor frommen Charakteren nicht halt. Da ist es gut, wenn die Geschwister uns durch ihre Hinweise Anlässe für das (Wieder-)Erkennen biblischer Muster von bleibender Bedeutung liefern.16 Das besagte Jesuswort vom Dienen hält etwa solch ein Muster bereit.
Wichtig sind grundsätzlich die Anlässe zum (Wieder-)Erkennen. Das Gemeindeleben dürfte oder sollte zumindest mit seinen vielfältigen Praktiken (wie etwa der Praxis des gemeinsamen Gebets, den Sakramenten, der Liturgie, den Gemeindeleitungsvollzügen etc.) voll von solchen „Anlässen“ sein. Es winken – zumindest idealiter – zahlreiche Möglichkeiten. Wir sollten diesen Chancenreichtum nicht willfährig verringern und den reich gedeckten Tisch nicht schnöde missachten. Das Beispiel unseres Christen zeigt jedenfalls, wie das gemeinsame Gebet zum Anlass eines Überprüfens des eigenen Dankgebets werden konnte. Wie gut also, dass es im Glauben und in der Nachfolge Geschwister gibt, die uns auf die Sprünge helfen können, wenn es bei uns klemmt. Wie gut, dass wir Christenmenschen in unserem Urteilen nicht auf uns alleine gestellt sind: „Halleluja! Ich danke dem Herrn von ganzem Herzen im Rate der Frommen und in der Gemeinde.“
Amen
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1 Vgl. zu dieser Aussage: Eberhard Busch, Laß meinen Gang gewiß sein. Antworten auf Glaubensfragen, Neukirchen-Vluyn 21989, 47–49. Buschs Überlegungen verdanke ich entscheidende Anstöße zu dieser Andacht.
2 Vgl. Augustin, Confessiones, Liber septimus XII,18.
3 Zur Kritik an Augustin vgl. Hans Joachim Iwand, Über das Wesen und die Wurzel des Bösen, in: Woord en Wereld. Opgedragn aan Prof. Dr. K.H. Miskotte naar aanleiding van zijn aftreden als kerkelijk hoogleraar te Leiden op 14 december 1959, Amsterdam 1961, 200–211.
4 Zu den Schwierigkeiten mit der Dankbarkeit vgl. Thomas Naumann, „Darum will ich dir danken ...“ (Ps 18,50). Dankbarkeit als soziale und religiöse Praxis im Alten Testament. Gemeindevortrag am 25.11.2009 im Gemeindehaus der Martini-Gemeinde in Siegen, unter: https://www.uni-siegen.de/phil/evantheo/mitarbeiter/naumann/glueck/2010-12-03_naumann_dankbarkeit.pdf (Zugriff: 20.8.2024).
5 Jan M. Lochman (Wegweisung der Freiheit. Die Zehn Gebote, Stuttgart 1995, 28) bezeichnet „Dankbarkeit“ als „eine missverständliche, umstrittene und heute auch recht unpopuläre“ Haltung: „Tatsächlich kann man nicht bestreiten: es gibt ein versklavendes und entmündigendes ‚Sich-Verdanken‘. Vor allem eine forcierte, von außen erwartete und sanktioniere Dankbarkeit ist höchst bedenklich, als Motivation zum ethischen Handeln geradezu kontraproduktiv.“ Ebd.
6 Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke Bd. 1 (MEW 1), Berlin/Ost 1976, (378–391) 379.
7 Vgl. Dietrich Bonhoeffer, Ethik, DBW 6, hg. von Ilse Tödt u.a., München 1992, 137–162.
8 So auch Michael Beintker, Das Handeln Gottes in der Erfahrung des Glaubens, in: Michael Beintker / Albrecht Philipps (Hg.), Das Handeln Gottes in der Erfahrung des Glaubens. Ein Votum des Theologischen Ausschusses der Union Evangelischer Kirchen in der EKD (UEK) und Vorträge aus dem Theologischen Ausschuss zur Frage nach dem Handeln Gottes, Evangelische Impulse 9, Göttingen 2021, (11–16) 14: „Im Dankgebet kommen die unterschiedlichsten Erfahrungen in den Blick, die als Spuren des Handelns Gottes gedeutet und benannt werden. Das ist durchaus ein Wagnis. Aber mit diesem Wagnis wird die Vorstellung vom Handeln Gottes aus ihrer dogmatischen Verschalung herausgelöst und an unser alltägliches Leben zurückgebunden.“
9 Vgl. dazu Klaus Wengst, Das Zusammenkommen der Gemeinde und ihr „Gottesdienst“ nach Paulus, in: EvTh 33 (1973), 547–559.
10 Vgl. John Howard Yoder, The Hermeneutics of Peoplehood: A Protestant Perspective, in: Ders., The Priestly Kingdom: Social Ethics as Gospel, Notre Dame 1984, 15–45. Fernerhin: Michael G. Cartwright, Practices, Politics, and Performance: Toward a Communal Hermeneutic for Christian Ethics, PTMS 57, Eugene 2006.
11 Zur Gemeinde als Ort der Urteilsbildung vgl. Marco Hofheinz, Wahrnehmen – Urteilen – Prüfen. Explorative Annäherung an eine „selbstdarstellende“ theologische Identitäts- und Gemeindeethik, in: Michael Roth / Marcus Held (Hg.), Was ist Theologische Ethik? Grundbestimmungen und Grundvorstellungen, Berlin / New York 2018, 63–80.
12 Walter Brueggemann, Theology of the Old Testament: Testimony, Dispute, Advocacy, Minneapolis 1997, 128. Brueggemann unterstreicht, dass die Doxologie der Psalmen idolatrie- und ideologiekritisch ausfällt. So ders., Israel’s Praise: Doxology against Idolatry and Ideology, Philadelphia 1988; ders., Praise and the Psalms: A Politics of Glad Abandonment, in: Patrick D. Miller (Hg.), The Psalms and the Life of Faith, Minneapolis 1995, 112–132.
13 Vgl. Busch, Gang, 49.
14 Vgl. Hans G. Ulrich, Explorative Ethik, in: Ingrid Schoberth (Hg.), Urteilen lernen – Grundlegung und Kontext ethischer Urteilsbildung, Göttingen 2012, 41–59.
15 In diesem Zusammenhang ist Vorsicht gegenüber vorbildchristologischen Legitimationsstrategien geboten Vgl. dazu Magdalene L. Frettlöh, Der auferweckte Gekreuzigte und die Überlebenden sexueller Gewalt. Kreuzestheologie genderspezifisch wahr genommen, in: Rudolf Weth (Hg.), Das Kreuz Jesu: Gewalt, Opfer, Sühne, Neukirchen-Vluyn 2001, (77–104) 99.
16 Zur Logik des Wiedererkennens vgl. Dietrich Ritschl, Zur Logik der Theologie. Kurze Darstellung der Zusammenhänge theologischer Grundgedanken, München 21988, 106ff.; 294ff.